Der Wissenschaft ist es von jeher aufgegeben, nicht nur auf ihren Gegenstand, sondern auch ihr eigenes Tun zu reflektieren, als Selbstreflexion. Damit kommt auch der Mensch selbst als Objekt und Subjekt in den Blick. Genauer gesagt: Das Nachdenken über die in den einzelnen Fächern, aber auch in den von ihnen untersuchten Kulturen und Gesellschaften obwaltenden Vorstellungen von Mensch und condition humaine ist traditionell Gegenstand wissenschaftlicher Tätigkeit. Das ist nun gerade in der heutigen Zeit besonders wichtig geworden. Schon seit Jahren zeichnet sich ab, dass mit rapiden Entwicklungen in Gesellschaft und Wissenschaft - als Stichworte lediglich seien Globalisierung, Informationsgesellschaft und Gentechnologie genannt - eine zunehmende Zersplitterung von Experten- und Spezialistentum sowie Kommunikationsprobleme zwischen den Fächern, aber auch zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit einhergehen. Dies macht solche Selbstreflexion besonders notwendig. Die Gerda Henkel Stiftung ist es gelungen, führende Vertreter von in dieser Thematik relevanten Disziplinen, für eine Vorlesungsreihe zu gewinnen und damit gerade diese Selbstreflexion in die öffentliche Debatte zu tragen.
Der Sammelband "Das Bild des Menschen in den Wissenschaften" enthält alle Vorträge aus dieser Reihe der Gerda Henkel Vorlesungen, die von 1998 bis 2002 in Zusammenarbeit mit der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Düsseldorf veranstaltet wurde.
Die Autoren und ihre Beiträge:
Hubert Markl: Zur fortwirkenden Naturgeschichte des Menschen
Ludwig Siep: Ethik und Menschenbild
Martin Honecker: Religion - Naturanlage oder Illusion?
Stefan Wild: Mensch, Prophet und Gott im Koran - Muslimische Exegeten des 20. Jahrhunderts und das Menschenbild der Moderne
Hans Maier: Alter Adam - neuer Mensch? - Menschenbilder in der Politik des 20. Jahrhunderts
Hans Belting: Menschenbild und Körperbild
Renate Mayntz: Das Menschenbild in der Soziologie
Ernst-Wolfgang Böckenförde: Vom Wandel des Menschenbildes im Recht
Wolfgang Frühwald: "Die Trübsal am Rande der posthumanen Wüsten" - Zum Menschenbild in der modernen Literatur
Otto Gerhard Oexle: Das Menschenbild der Historiker
(Die Beiträge sind auch jeweils als Einzelheft erhältlich)
Besprechungen
Näheres zu den Autoren und ihren Beiträgen:
Hubert Markl
Zur fortwirkenden Naturgeschichte des Menschen
Die biologische Forschung läßt keinen Zweifel daran, daß sich die menschliche Spezies während weniger Millionen Jahre in Afrika aus Tierprimaten, die zur Gruppe der Menschenaffen gehörten, entwickelt hat. Die anatomischen, physiologischen, biochemischen und genetischen Übereinstimmungen zwischen unserer Art und den überlebenden nächstverwandten Primaten sind dementsprechend überwältigend groß. Hingegen erscheint der Abstand hinsichtlich geistiger Leistungen fast unüberbrückbar. Deshalb kommt einem vertieften Verständnis dessen, was im Verhalten des Menschen als Folgen seiner Evolution aus Tierprimaten fortwirken könnte, besindere Bedeutung zu. Sollten diese weiterwirkenden Veranlagungen doch auch Rückschlüsse darauf erlauben, warum sich der so unvergleichlich geistig begabte Homo sapiens ausgerechnet aus Affenvorfahren entwickeln konnte.
Ludwig Siep
Ethik und Menschenbild
Unter ein em "Menschenbild" verstehen wir ein "komprimiertes" Wissen von Eigenschaften des Menschen, das Konsequenzen für richtiges Handeln einschließt. Mit einer solchen Verbindung von Fakten und Werten hat es sowohl die moderne Wissenschaft wie die moderne Ethik schwer: Die Wissenschaft will wertfrei sein und die Ethik "weltanschauungsneutral". Der Beitrag zeichnet zunächst den Prozeß der Trennung von Ethik und Menschenbild in der Neuzeit nach. Als Resultat dieser Trennung beschränkt sich die moderne Ethik auf Minimalregeln der Konfliktvermeidung zwischen gleichberechtigten Partnern. Es fragt sich aber, ob dem Selbstverständnis moderner, wissenschaftsorientierter Gesellschaften und ihrer Ethik nicht doch ein wertendes Menschenbild zugrunde liegt. Zentral für dieses Menschenbild ist die private Glücksversorgung des autonomen Individuums in einem Prozeß der sozialen und technologischen Evolution. Die Steuerbarkeit dieses Prozesses durch gemeinsame Wertentscheidungen und Zielvorgaben erscheint immer zweifelhafter. Der Beitrag diskutiert die innere Stimmigkeit, die "Kosten" und die Alternativen eines solchen Menschenbildes.
Martin Honecker
Religion - Naturanlage oder Illusion?
In der Neuzeit wird strittig, ob "Religion" überhaupt ein menschliches Grundphänomen ist. Das neuzeitliche Denken hat nämlich zugleich erstmals einen Allgemeinbegriff für Religion gebildet und gleichzeitig die aufgeklärte Religionskritik formuliert. Bis dahin waren andere Begriffe wie z.B. Glaube (fides), Frömmigkeit (pietas), Gottesverehrung (cultus dei) bestimmend. Die aufgeklärte Religionstheorie suchte erstmals das Gemeinsame aller Religionen in einer humanen Naturanlage zu erfassen, einem "religiösen Apriori". Menschen sind danach von Natur religiös. Von der Religiosität als anthropologischen Datum sind freilich die konkreten, geschichtlich gewordenen Religionen zu unterscheiden, die es nur als "positive" Religionen im Plural gibt. Die Religionskritik sucht hingegen Religion als "Projektion" menschlicher Sehnsüchte und Wünsche (F. Feuerbach, ihm folgend K. Marx) und als "Illusion" (S. Freud) zu entlarven. Diese Spannung zwischen Religion als fundamentalanthropologischer Gegebenheit und der Bestreitung von Religion seitens der Religionskritik wurde im 20. Jahrhundert exemplarisch in der evangelischen Theologie theologisch reflektiert (K. Barth, D. Bonhoeffer). Der Beitrag erörtert das Spannungsverhältnis zwischen Offenbarung und Religion, Evangelium und Religion, Glaube und Evangelium und fragt nach den anthropologischen Voraussetzungen theologischer und ideologischer Kontroversen um "Religion".
Stefan Wild
Mensch, Prophet und Gott im Koran-
Muslimische Exegeten des 20. Jahrhunderts und das Menschenbild der Moderne
Der Koran ist seit seiner Entstehung im siebten nachchristlichen Jahrundert das Grunddokument der islamischen Religion und bis heute allgegenwärtiger Referenztext der vom Islam geprägten Kulturen. Als durch den Propheten vermitteltes, aber ungeschmälert göttliches Wort ist der Koran im radikalsten Sinn und Wort für Wort göttlich inspiriert. Der späteren islamischen Theologie gilt der Koran als ungeschaffenes Wort Gottes und daher als in jeder Hinsicht unüberbietbarer arabischer text. Der Beitrag stellt die Grundzüge der im Koran dokumentierten Selbstexplikation Gottes gegenüber dem Menschen Mohammed dar und referiert die theologischen und anthropologischen Dimensionen dieses Diskurses für die Moderne. Das Menschenbild moderner muslimischer Denker zeigt sich dabei als in besonderer Weise auf eine moderne Auslegung des koranischen Texts angewiesen. Gleichzeitig steht es häufig in Konkurrenz zu den säkularistischen Menschenbildern einer als westlich dominiert begriffenen Moderne. Hier liegen die Wurzel für die besonderen hermeneutischen Probleme zeitgenössischer islamischer Koranexegese und für bei uns kaum bekannte innermuslimische Auseinandersetzungen.
Hans Maier
Alter Adam - neuer Mensch?-
Menschenbilder in der Politik des 20. Jahrhunderts
Basierten ältere Gesellschaften auf einer spezifischen Adels- und Ritterethik, die in der Neuzeit in die allgemeineren Gestalten des honnête homme und des Gentleman übergeht, so fehlen dem demokratischen Zeitalter vergleichbare Vorbilder. Gerade eine Verfassung der Freiheit aller setzt sich aber ein Mininum an Spielregeln des Freiheitsgebrauchs voraus. Die Frage nach dem Menschenbild des common man und nach einem "demokratischen Fürstenspiegel" begleitet daher die Geschichte der modernen Demokratie seit ihren Anfängen.
Der Beitrag greift aus diesem Problemfeld drei Themen heraus: die erstmals von Rousseau aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang von Anthropologie und Sozialvertrag ("Émile" und "Contrat social", 1762); die Versuche der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, den "neuen Menschen" als Grundlage einer neuen Gesellschaft zu schaffen, und ihr Scheitern; endlich die Frage, welche Folgerungen sich daraus für heutige Demokratien ergeben.
Hans Belting
Menschenbild und Körperbild
Der Körper ist derzeit das Leitthema vieler Debatten, als wollte man sich in der Furcht, seinen Begriff zu verlieren, noch einmal versichern. Gentechnologie und kosmetische Chirugie unterwerfen ihn einer neuen Verfügbarkeit, während Cyberspace und Internet zur Flucht aus dem Körper einladen. Der Beitrag verläßt diese Zeitgenössische Szene, um die nie endende Dynamik der Körperthematik durch die Geschichte zu verfolgen. Der Körper ist nur das stets wechselnde Bild, das man sich von ihm macht oder das man an ihm festmacht. Die Kulturgeschichte des Körpers ist eine Bildgeschichte im wörtlichen und übertragenen Sinne. Da der Körper immer gegeben war, hat man ihn immer anders gesehen. Darin erschließt sich ein Grundgesetz jeder Anthropologie. Der Körper ist dabei nicht bloß selbstbezogen als Natur und Organismus, sondern Träger und Agent des Menschen, der sich im Körper ausdrückt und am Körper definiert wird. In diesem Sinne ist das Körperbild mit dem Menschenbild untrennbar verbunden.
Renate Mayntz
Das Menschenbild in der Soziologie
Die Soziologie, so möchte man meinen, kann weniger als fast alle anderen Wissenschaft ohne ein Bild von der Natur des Menschen auskommen, ist ihr Thema doch das Handeln von Menschen und die von Menschen gebildeten Gruppen, sozialen Strukturen und Systeme. Angesichts dessen ist es interessant, wenn sich bei näherem Zusehen ergibt, dass die Soziologen mit ganz wenigen Ausnahmen einen psychologischen Reduktionismus, d.h. die Erklärung sozialer Tatbestände durch spontane menschliche Verhaltensdispositionen und Eigenschaften, ablehnen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Soziologie ohne ein Bild vom Menschen auskommt. Zwar betrachten keineswegs alle Soziologen reale Menschen als Element der von ihnen analysierten sozielen Systeme. Wo dies jedoch geschieht oder wo zumindest soziales Handeln gewissermaßen als soziologisches Elementarteilchen gilt, kommt die Soziologie nicht ohne eine wie auch immer rudimentäres Bild vom Menschen aus. Allerdings gibt es in der Disziplin keine Einigkeit darüber, welche menschlichen Eigenschaften für die Soziologie von zentraler Bedeutung sind. Hier steht schon seit länger der homo sociologicus, der sein Handeln an sozialen Normen orientiert, dem homo oeconomicus gegenüber, der zwecks Mehrung des eigenen Nutzens rational zwischen verschiedenen Handlungsalternativen auswählt. Mehrheitlich jedoch wird in der Tradition Max Webers der Mensch in seiner Grundorientierung als weniger festgelegt gesehen, und man versucht sein Handeln, und was daraus an sozialen Ereignissen und Prozessen folgt, auf die Wirkung äußerer sozialer Faktoren zurückzuführen. Damit betont die Soziologie am Ende jene Züge, die den Menschen zu einem sozialen, zur Gruppen- und Gesellschaftsbildung fähigen Wesen machen.
Ernst-Wolfgang Böckenförde
Vom Wandel des Menschenbildes im Recht
Im Bereich des Rechts wird das Bild vom Menschen nachhaltig durch das geltende Recht, in dem und mit dem die Menschen leben, geprägt. Dieses Bild gewinnt seinen Ausdruck und seine Gestalt ebenso in den konkreten Regelungen einer Rechtsordnung wie in deren tragenden Prinzipien und den diesen zugrundeliegenden philosophischen Reflexionen. Zugleich ist die Rechtsordnung, die die Menschen umgibt, ein Faktor ihrer Selbsterfahrung, die ihr Selbstverständnis und damit ihr Bild von sich selbst mitbestimmt.
Der Vortrag zeigt auf, in welcher Weise und in welchem Unfang das Menschenbild im Recht, ausgehend vom 17. und 18. Jahrhundert, einem Wandel ausgesetzt gewesen ist, wie sich dieser Wandel insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert vollzogen hat und welches Bild vom Menschen in der heutigen Rechtsordnung zum Ausdruck kommt.
Wolfgang Frühwald
"Die Trübsal am Rande der posthumanen Wüsten" -
Zum Menschenbild in der modernen Literatur
Der deutsche Klassizismus und die ihm darin folgende Romantik hat (seit Herder und Goethe) die beiden phylogenetischen Merkmale des Menschen, die Reflexion des Sterbens und den Sinn für Schönheit, zur Basis jenes Humanitätsdenkens gemacht, von dem die Dichter (vergeblich) hofften, es werde durch die Jahrhunderte hindurch diskursleitend bleiben. Die "schöne Menschengestalt" ist der Inbegriff von Humanität, definiert als das Maß, das den Menschen erst zum Menschen macht. Die Konstruktion und die Destruktion dieses Maßes bestimmt die Literatur bis tief in das 20. Jahrhundert hinein. Höhepunkt der Destruktion ist die Literatur der unmittelbaren Jahre nach 1945. Mit Wolfgang Hildesheimers "Marbot. Eine Biographie" (1981) entschwindet dann die "schöne Menschengestalt" als Zielvorstellung aus der Literatur, um jenem Erschrecken vor den Möglichkeiten und dem Trend der modernen Forschung Platz zu machen, von dem Gottfried Benn, Durs Grünbein, Adolf Muschg und viele andere Autoren der Gegenwart berichten.
Otto Gerhard Oexle
Das Menschenbild der Historiker
"Das" Menschenbild der Historiker gibt es nicht. Denn die Zahl möglicher Bilder vom Menschen, von denen Historiker sprechen können, ist unbegrenzt und unbegrenzbar. Der Vortrag nimmt die Perspektive des Mittelalter-Historikers ein und zeigt die Genese einer Vielheit von Menschen-Bildern im sogenannten "Mittelalter", die individuell, oder auf Gruppen oder auf "Stände" bezogen sind. In diesen Befunden wird sehr viel von der Kulturellen Produktivität Europas sichtbar. Zum anderen erötert der Vortrag die Frage nach dem Bild des Historikers von sich selbst, die mit der Frage nach den "Menschenbildern" in der Geschichte aufs Engste verbunden ist. Diese Frage führt zur Erkenntnis der metatheoretischen Mehrdeutigkeit der Welt, die nicht aufhebbar ist und zu der Einsicht hinleitet, daß die Historizität der Welt eine ihrer wesentlichen Dimensionen darstellt.
Besprechungen:
Neue Zürcher Zeitung - Feuilleton - Samstag, 27.07.2002, Nr.172, 52
Körperbilder
lx. Es sei verräterisch, dass die Klage über den Verlust des Menschen heute simultan mit der Klage über den Verlust des Körpers geäussert werde. Der Kunsthistoriker Hans Belting will es nicht bei diesen mit "seltsamer Einmütigkeit" geäusserten Befindlichkeiten bewenden lassen. In einem ausführlichen Essay untersucht er die Relationen zwischen "Menschenbild und Körperbild". Zunächst: Kann man einen Körper überhaupt auf ein Bild reduzieren? Wir tun dies aber mit Selbstverständlichkeit dort, wo wir zu Bildern greifen, sobald wir vom Körper zu sprechen beginnen. Dabei sei auf ein weiteres Paradox hinzuweisen: Je mehr heute der Körper von Biologie, Genetik und Neurowissenschaften erforscht wird, desto weniger steht er uns in einem einzigen, symbolkräftigen Bild zur Verfügung. Wer heute - angesichts der sogenannt "technischen Möglichkeiten" - davon spreche, einen "neuen Menschen" zu züchten, spreche eigentlich davon, dem (alten) Menschen einen neuen Körper zu geben. Nur eben: Wenig ist darüber nachgedacht worden, dass die bisherige Geschichte der Menschendarstellung eine Geschichte der Körperdarstellung gewesen ist. Daraus lasse sich schliessen, dass der Mensch so ist, wie er im Körper erscheint. Jedenfalls sei das Dreieck Mensch - Körper - Bild nicht auflösbar, wolle man nicht riskieren, alle drei Bezugsgrössen zu verlieren. - Der Essay findet sich in einer von der Gerda Henkel Stiftung herausgegebenen Publikation über das "Bild des Menschen in den Wissenschaften".
Der Sammelband "Das Bild des Menschen in den Wissenschaften" enthält alle Vorträge aus dieser Reihe der Gerda Henkel Vorlesungen, die von 1998 bis 2002 in Zusammenarbeit mit der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Düsseldorf veranstaltet wurde.
Die Autoren und ihre Beiträge:
Hubert Markl: Zur fortwirkenden Naturgeschichte des Menschen
Ludwig Siep: Ethik und Menschenbild
Martin Honecker: Religion - Naturanlage oder Illusion?
Stefan Wild: Mensch, Prophet und Gott im Koran - Muslimische Exegeten des 20. Jahrhunderts und das Menschenbild der Moderne
Hans Maier: Alter Adam - neuer Mensch? - Menschenbilder in der Politik des 20. Jahrhunderts
Hans Belting: Menschenbild und Körperbild
Renate Mayntz: Das Menschenbild in der Soziologie
Ernst-Wolfgang Böckenförde: Vom Wandel des Menschenbildes im Recht
Wolfgang Frühwald: "Die Trübsal am Rande der posthumanen Wüsten" - Zum Menschenbild in der modernen Literatur
Otto Gerhard Oexle: Das Menschenbild der Historiker
(Die Beiträge sind auch jeweils als Einzelheft erhältlich)
Besprechungen
Näheres zu den Autoren und ihren Beiträgen:
Hubert Markl
Zur fortwirkenden Naturgeschichte des Menschen
Die biologische Forschung läßt keinen Zweifel daran, daß sich die menschliche Spezies während weniger Millionen Jahre in Afrika aus Tierprimaten, die zur Gruppe der Menschenaffen gehörten, entwickelt hat. Die anatomischen, physiologischen, biochemischen und genetischen Übereinstimmungen zwischen unserer Art und den überlebenden nächstverwandten Primaten sind dementsprechend überwältigend groß. Hingegen erscheint der Abstand hinsichtlich geistiger Leistungen fast unüberbrückbar. Deshalb kommt einem vertieften Verständnis dessen, was im Verhalten des Menschen als Folgen seiner Evolution aus Tierprimaten fortwirken könnte, besindere Bedeutung zu. Sollten diese weiterwirkenden Veranlagungen doch auch Rückschlüsse darauf erlauben, warum sich der so unvergleichlich geistig begabte Homo sapiens ausgerechnet aus Affenvorfahren entwickeln konnte.
Ludwig Siep
Ethik und Menschenbild
Unter ein em "Menschenbild" verstehen wir ein "komprimiertes" Wissen von Eigenschaften des Menschen, das Konsequenzen für richtiges Handeln einschließt. Mit einer solchen Verbindung von Fakten und Werten hat es sowohl die moderne Wissenschaft wie die moderne Ethik schwer: Die Wissenschaft will wertfrei sein und die Ethik "weltanschauungsneutral". Der Beitrag zeichnet zunächst den Prozeß der Trennung von Ethik und Menschenbild in der Neuzeit nach. Als Resultat dieser Trennung beschränkt sich die moderne Ethik auf Minimalregeln der Konfliktvermeidung zwischen gleichberechtigten Partnern. Es fragt sich aber, ob dem Selbstverständnis moderner, wissenschaftsorientierter Gesellschaften und ihrer Ethik nicht doch ein wertendes Menschenbild zugrunde liegt. Zentral für dieses Menschenbild ist die private Glücksversorgung des autonomen Individuums in einem Prozeß der sozialen und technologischen Evolution. Die Steuerbarkeit dieses Prozesses durch gemeinsame Wertentscheidungen und Zielvorgaben erscheint immer zweifelhafter. Der Beitrag diskutiert die innere Stimmigkeit, die "Kosten" und die Alternativen eines solchen Menschenbildes.
Martin Honecker
Religion - Naturanlage oder Illusion?
In der Neuzeit wird strittig, ob "Religion" überhaupt ein menschliches Grundphänomen ist. Das neuzeitliche Denken hat nämlich zugleich erstmals einen Allgemeinbegriff für Religion gebildet und gleichzeitig die aufgeklärte Religionskritik formuliert. Bis dahin waren andere Begriffe wie z.B. Glaube (fides), Frömmigkeit (pietas), Gottesverehrung (cultus dei) bestimmend. Die aufgeklärte Religionstheorie suchte erstmals das Gemeinsame aller Religionen in einer humanen Naturanlage zu erfassen, einem "religiösen Apriori". Menschen sind danach von Natur religiös. Von der Religiosität als anthropologischen Datum sind freilich die konkreten, geschichtlich gewordenen Religionen zu unterscheiden, die es nur als "positive" Religionen im Plural gibt. Die Religionskritik sucht hingegen Religion als "Projektion" menschlicher Sehnsüchte und Wünsche (F. Feuerbach, ihm folgend K. Marx) und als "Illusion" (S. Freud) zu entlarven. Diese Spannung zwischen Religion als fundamentalanthropologischer Gegebenheit und der Bestreitung von Religion seitens der Religionskritik wurde im 20. Jahrhundert exemplarisch in der evangelischen Theologie theologisch reflektiert (K. Barth, D. Bonhoeffer). Der Beitrag erörtert das Spannungsverhältnis zwischen Offenbarung und Religion, Evangelium und Religion, Glaube und Evangelium und fragt nach den anthropologischen Voraussetzungen theologischer und ideologischer Kontroversen um "Religion".
Stefan Wild
Mensch, Prophet und Gott im Koran-
Muslimische Exegeten des 20. Jahrhunderts und das Menschenbild der Moderne
Der Koran ist seit seiner Entstehung im siebten nachchristlichen Jahrundert das Grunddokument der islamischen Religion und bis heute allgegenwärtiger Referenztext der vom Islam geprägten Kulturen. Als durch den Propheten vermitteltes, aber ungeschmälert göttliches Wort ist der Koran im radikalsten Sinn und Wort für Wort göttlich inspiriert. Der späteren islamischen Theologie gilt der Koran als ungeschaffenes Wort Gottes und daher als in jeder Hinsicht unüberbietbarer arabischer text. Der Beitrag stellt die Grundzüge der im Koran dokumentierten Selbstexplikation Gottes gegenüber dem Menschen Mohammed dar und referiert die theologischen und anthropologischen Dimensionen dieses Diskurses für die Moderne. Das Menschenbild moderner muslimischer Denker zeigt sich dabei als in besonderer Weise auf eine moderne Auslegung des koranischen Texts angewiesen. Gleichzeitig steht es häufig in Konkurrenz zu den säkularistischen Menschenbildern einer als westlich dominiert begriffenen Moderne. Hier liegen die Wurzel für die besonderen hermeneutischen Probleme zeitgenössischer islamischer Koranexegese und für bei uns kaum bekannte innermuslimische Auseinandersetzungen.
Hans Maier
Alter Adam - neuer Mensch?-
Menschenbilder in der Politik des 20. Jahrhunderts
Basierten ältere Gesellschaften auf einer spezifischen Adels- und Ritterethik, die in der Neuzeit in die allgemeineren Gestalten des honnête homme und des Gentleman übergeht, so fehlen dem demokratischen Zeitalter vergleichbare Vorbilder. Gerade eine Verfassung der Freiheit aller setzt sich aber ein Mininum an Spielregeln des Freiheitsgebrauchs voraus. Die Frage nach dem Menschenbild des common man und nach einem "demokratischen Fürstenspiegel" begleitet daher die Geschichte der modernen Demokratie seit ihren Anfängen.
Der Beitrag greift aus diesem Problemfeld drei Themen heraus: die erstmals von Rousseau aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang von Anthropologie und Sozialvertrag ("Émile" und "Contrat social", 1762); die Versuche der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, den "neuen Menschen" als Grundlage einer neuen Gesellschaft zu schaffen, und ihr Scheitern; endlich die Frage, welche Folgerungen sich daraus für heutige Demokratien ergeben.
Hans Belting
Menschenbild und Körperbild
Der Körper ist derzeit das Leitthema vieler Debatten, als wollte man sich in der Furcht, seinen Begriff zu verlieren, noch einmal versichern. Gentechnologie und kosmetische Chirugie unterwerfen ihn einer neuen Verfügbarkeit, während Cyberspace und Internet zur Flucht aus dem Körper einladen. Der Beitrag verläßt diese Zeitgenössische Szene, um die nie endende Dynamik der Körperthematik durch die Geschichte zu verfolgen. Der Körper ist nur das stets wechselnde Bild, das man sich von ihm macht oder das man an ihm festmacht. Die Kulturgeschichte des Körpers ist eine Bildgeschichte im wörtlichen und übertragenen Sinne. Da der Körper immer gegeben war, hat man ihn immer anders gesehen. Darin erschließt sich ein Grundgesetz jeder Anthropologie. Der Körper ist dabei nicht bloß selbstbezogen als Natur und Organismus, sondern Träger und Agent des Menschen, der sich im Körper ausdrückt und am Körper definiert wird. In diesem Sinne ist das Körperbild mit dem Menschenbild untrennbar verbunden.
Renate Mayntz
Das Menschenbild in der Soziologie
Die Soziologie, so möchte man meinen, kann weniger als fast alle anderen Wissenschaft ohne ein Bild von der Natur des Menschen auskommen, ist ihr Thema doch das Handeln von Menschen und die von Menschen gebildeten Gruppen, sozialen Strukturen und Systeme. Angesichts dessen ist es interessant, wenn sich bei näherem Zusehen ergibt, dass die Soziologen mit ganz wenigen Ausnahmen einen psychologischen Reduktionismus, d.h. die Erklärung sozialer Tatbestände durch spontane menschliche Verhaltensdispositionen und Eigenschaften, ablehnen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Soziologie ohne ein Bild vom Menschen auskommt. Zwar betrachten keineswegs alle Soziologen reale Menschen als Element der von ihnen analysierten sozielen Systeme. Wo dies jedoch geschieht oder wo zumindest soziales Handeln gewissermaßen als soziologisches Elementarteilchen gilt, kommt die Soziologie nicht ohne eine wie auch immer rudimentäres Bild vom Menschen aus. Allerdings gibt es in der Disziplin keine Einigkeit darüber, welche menschlichen Eigenschaften für die Soziologie von zentraler Bedeutung sind. Hier steht schon seit länger der homo sociologicus, der sein Handeln an sozialen Normen orientiert, dem homo oeconomicus gegenüber, der zwecks Mehrung des eigenen Nutzens rational zwischen verschiedenen Handlungsalternativen auswählt. Mehrheitlich jedoch wird in der Tradition Max Webers der Mensch in seiner Grundorientierung als weniger festgelegt gesehen, und man versucht sein Handeln, und was daraus an sozialen Ereignissen und Prozessen folgt, auf die Wirkung äußerer sozialer Faktoren zurückzuführen. Damit betont die Soziologie am Ende jene Züge, die den Menschen zu einem sozialen, zur Gruppen- und Gesellschaftsbildung fähigen Wesen machen.
Ernst-Wolfgang Böckenförde
Vom Wandel des Menschenbildes im Recht
Im Bereich des Rechts wird das Bild vom Menschen nachhaltig durch das geltende Recht, in dem und mit dem die Menschen leben, geprägt. Dieses Bild gewinnt seinen Ausdruck und seine Gestalt ebenso in den konkreten Regelungen einer Rechtsordnung wie in deren tragenden Prinzipien und den diesen zugrundeliegenden philosophischen Reflexionen. Zugleich ist die Rechtsordnung, die die Menschen umgibt, ein Faktor ihrer Selbsterfahrung, die ihr Selbstverständnis und damit ihr Bild von sich selbst mitbestimmt.
Der Vortrag zeigt auf, in welcher Weise und in welchem Unfang das Menschenbild im Recht, ausgehend vom 17. und 18. Jahrhundert, einem Wandel ausgesetzt gewesen ist, wie sich dieser Wandel insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert vollzogen hat und welches Bild vom Menschen in der heutigen Rechtsordnung zum Ausdruck kommt.
Wolfgang Frühwald
"Die Trübsal am Rande der posthumanen Wüsten" -
Zum Menschenbild in der modernen Literatur
Der deutsche Klassizismus und die ihm darin folgende Romantik hat (seit Herder und Goethe) die beiden phylogenetischen Merkmale des Menschen, die Reflexion des Sterbens und den Sinn für Schönheit, zur Basis jenes Humanitätsdenkens gemacht, von dem die Dichter (vergeblich) hofften, es werde durch die Jahrhunderte hindurch diskursleitend bleiben. Die "schöne Menschengestalt" ist der Inbegriff von Humanität, definiert als das Maß, das den Menschen erst zum Menschen macht. Die Konstruktion und die Destruktion dieses Maßes bestimmt die Literatur bis tief in das 20. Jahrhundert hinein. Höhepunkt der Destruktion ist die Literatur der unmittelbaren Jahre nach 1945. Mit Wolfgang Hildesheimers "Marbot. Eine Biographie" (1981) entschwindet dann die "schöne Menschengestalt" als Zielvorstellung aus der Literatur, um jenem Erschrecken vor den Möglichkeiten und dem Trend der modernen Forschung Platz zu machen, von dem Gottfried Benn, Durs Grünbein, Adolf Muschg und viele andere Autoren der Gegenwart berichten.
Otto Gerhard Oexle
Das Menschenbild der Historiker
"Das" Menschenbild der Historiker gibt es nicht. Denn die Zahl möglicher Bilder vom Menschen, von denen Historiker sprechen können, ist unbegrenzt und unbegrenzbar. Der Vortrag nimmt die Perspektive des Mittelalter-Historikers ein und zeigt die Genese einer Vielheit von Menschen-Bildern im sogenannten "Mittelalter", die individuell, oder auf Gruppen oder auf "Stände" bezogen sind. In diesen Befunden wird sehr viel von der Kulturellen Produktivität Europas sichtbar. Zum anderen erötert der Vortrag die Frage nach dem Bild des Historikers von sich selbst, die mit der Frage nach den "Menschenbildern" in der Geschichte aufs Engste verbunden ist. Diese Frage führt zur Erkenntnis der metatheoretischen Mehrdeutigkeit der Welt, die nicht aufhebbar ist und zu der Einsicht hinleitet, daß die Historizität der Welt eine ihrer wesentlichen Dimensionen darstellt.
Besprechungen:
Neue Zürcher Zeitung - Feuilleton - Samstag, 27.07.2002, Nr.172, 52
Körperbilder
lx. Es sei verräterisch, dass die Klage über den Verlust des Menschen heute simultan mit der Klage über den Verlust des Körpers geäussert werde. Der Kunsthistoriker Hans Belting will es nicht bei diesen mit "seltsamer Einmütigkeit" geäusserten Befindlichkeiten bewenden lassen. In einem ausführlichen Essay untersucht er die Relationen zwischen "Menschenbild und Körperbild". Zunächst: Kann man einen Körper überhaupt auf ein Bild reduzieren? Wir tun dies aber mit Selbstverständlichkeit dort, wo wir zu Bildern greifen, sobald wir vom Körper zu sprechen beginnen. Dabei sei auf ein weiteres Paradox hinzuweisen: Je mehr heute der Körper von Biologie, Genetik und Neurowissenschaften erforscht wird, desto weniger steht er uns in einem einzigen, symbolkräftigen Bild zur Verfügung. Wer heute - angesichts der sogenannt "technischen Möglichkeiten" - davon spreche, einen "neuen Menschen" zu züchten, spreche eigentlich davon, dem (alten) Menschen einen neuen Körper zu geben. Nur eben: Wenig ist darüber nachgedacht worden, dass die bisherige Geschichte der Menschendarstellung eine Geschichte der Körperdarstellung gewesen ist. Daraus lasse sich schliessen, dass der Mensch so ist, wie er im Körper erscheint. Jedenfalls sei das Dreieck Mensch - Körper - Bild nicht auflösbar, wolle man nicht riskieren, alle drei Bezugsgrössen zu verlieren. - Der Essay findet sich in einer von der Gerda Henkel Stiftung herausgegebenen Publikation über das "Bild des Menschen in den Wissenschaften".