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Während eines Sommerurlaubs von Thomas Mann 1911 Auf dem Lido in Venedig zog ein elfjähriger polnischer Junge namens Wladyslaw Moes, gerufen Adzio, die Blicke des berühmten Schriftstellers magisch an. Diese obsessiv-platonische Begegnung wurde zum Ausgangspunkt der Novelle "Der Tod in Venedig". Aber: Wer war Adzio?

Produktbeschreibung
Während eines Sommerurlaubs von Thomas Mann 1911 Auf dem Lido in Venedig zog ein elfjähriger polnischer Junge namens Wladyslaw Moes, gerufen Adzio, die Blicke des berühmten Schriftstellers magisch an. Diese obsessiv-platonische Begegnung wurde zum Ausgangspunkt der Novelle "Der Tod in Venedig".
Aber: Wer war Adzio?
Autorenporträt
Gilbert Adair, geboren 1944, Schriftsteller und Kolumnist (The Independent on Sunday), lebt in London.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2002

Ach, Tadzio!
Thomas Manns Venedig: Gilbert Adair sucht schöne Knaben

Jedes fremde Leben ist in seiner Besonderheit ergreifend. Erst recht, wenn es in die Mühlen der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts geraten ist wie das des polnischen Adeligen Wladyslaw Moes (1900 bis 1986), eines verwöhnten Edelknaben vor 1914, dessen Besitz im Ersten Weltkrieg dezimiert wurde, der daraufhin einer Papierfabrik vorstand, dann als polnischer Offizier die Jahre von 1939 bis 1945 in deutscher Gefangenschaft zubrachte, danach in die Heimat zurückkehrte, dort gänzlich enteignet wurde, sich mühsam hochrappelte und doch seine Identität aufrechtzuerhalten wußte: Er blieb "zeit seines Lebens ein Dandy, was im kommunistischen Polen eine beachtliche Leistung war".

Mit Thomas Mann hat das allerdings nur sehr marginal zu tun. Warum es mit ihm zu tun haben sollte? Nun, das Buch heißt "Adzio und Tadzio", der polnische Adelige ist Baron Wladyslaw Moes, genannt Adzio, der als noch nicht ganz Elfjähriger am Lido von Venedig das zufällige Modell abgab für den Knaben Tadzio, dessen Schönheit den Helden der Erzählung "Der Tod in Venedig" in den lustvoll begrüßten Untergang treibt.

Freilich hatte Thomas Mann außer einer Woche Blickkontakt am Lido später nie wieder Kontakt zu Moes, und auch dieser interessierte sich erst im hohen Alter für die literarische Nachwirkung jener frühsommerlichen Tage im Hotel des Bains. Schon deshalb wollen sich beider Kreise nicht recht berühren. Adzio war für Thomas Mann biographisch nicht so wichtig, wie Adair unterstellt. Sein Essay trägt ein Motto (aus Manns Tagebucheintragung vom 11. Juli 1950), dessen Text sich original auf Franz Westermaier bezieht, das Adair aber auf Adzio bezogen sehen will: "Aufgenommen ist er in die Galerie, von der keine ,Literaturgeschichte' melden wird." Die Fortsetzung dieses Satzes im Tagebuch lautet jedoch: "und die über Klaus H. zurückreicht zu denen im Totenreich, Paul, Willri und Armin". Von Adzio ist nicht die Rede. Er gehört eben nicht zur Galerie.

Der Erkenntnisertrag des Buches beschränkt sich auf den Bereich des Anekdotischen. Wenn einmal über Literarisches nachgedacht wird, beispielsweise über die Unterschiede zwischen dem Erlebten und dem Gedichteten, bleibt es bei unstet schweifenden Spekulationen und hilflosen Fragen vom Typus: "Welche Abgründe sich wohl dahinter verbergen mögen?" Gelegentlich versteigt sich Adair bis ins Unsinnige. "Genauso wenig machte er" - die Rede ist von Thomas Mann -, "der sich immer mehr auf den Dichterolymp zurückzog" -. was das genau heißen soll, weiß niemand -, "jemals Anstalten herauszufinden, wer der polnische Knabe am Strand des Lido gewesen ist und was aus ihm geworden war."

Warum sollte er auch? Adzio machte übrigens solche Anstalten gleichfalls nicht. "Jedenfalls gab er sich Thomas Mann nie zu erkennen." Was niemanden ernsthaft wundern kann. Dabei soll ihm, wie er sich angeblich später erinnerte, jeweils "ein besonders glühender Blick" zugeflogen sein, wenn er und sein Bewunderer gleichzeitig in den Hotellift stiegen. Das ist nicht die Sprache eines Elfjährigen.

Es blieb Adair überlassen, nachzuholen, was die beiden versäumten. Dabei kommt eine kuriose Mischung heraus, in der sich das Leben Adzios, soweit es aus Briefen von Freund Jas und Erzählungen von Tochter Maria zusammengeplaudert werden kann, auf absonderliche Weise mit dem Nachleben Tadzios kreuzt. Auch mit dem filmischen, denn auch das Schicksal von Björn Andresen wird uns erzählt, der bei Visconti den Tadzio spielte, und wir erfahren, daß seine Karriere durch seinen Agenten vollkommen verpfuscht wurde. Traurig, denn: "Das Wunder der Visconti-Verfilmung war die Besetzung der Rolle mit Andresen." Aber Wunder lassen sich nicht wiederholen. Der junge Andresen muß ein Schwulenideal gewesen sein, "von solch hinreißender Schönheit", daß er sich, schreibt Adair, "auf immer und ewig als Tadzio in die kollektive Phantasie eingebrannt hat".

Mag auch der gedankliche Ertrag des Werkchens zu wünschen übriglassen - unterhaltsam ist es. Es ist abwechslungsreich, und es ist subjektiv, wie es sich für einen Essay gehört - wenn auch nicht auf die pointierte, sondern auf die verwischte Weise. Das ändert sich erst im letzten Kapitel; erst hier, nach hundert Seiten angeregten Herumschnupperns, kommt Adair zu der Sache, die ihn eigentlich interessiert, und wird plötzlich sehr prägnant und präzis. "Der Tod in Venedig" stehe, konstatiert er apodiktisch, "an der Spitze der Schwulenliteratur". Um die These aufrechtzuerhalten, muß er auf wenigen Seiten Gide ("pädophil") und Proust ("scheinheilig"), Cocteau ("plapperhaft"), Genet ("ein Dieb, ein Schläger"), Forster ("vermag weder als Literatur noch als Wunschdenken zu überzeugen"), Isherwood ("unglücklicherweise war seine einzige wirklich unvergeßliche Schöpfung eine heterosexuelle Frau"), Vidal ("zu rundlich und selbstgefällig") und Mishima ("zu japanisch") abräumen.

Bleibt also Thomas Mann, er war der letzte. Am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts sieht Adair die kultivierte antikisierende Knabenliebe der Italienschwärmer von einst abgeglitten in einen räuberischen und illiteraten Sextourismus. Es hat fast etwas von Trauer, von nostalgischer Klage um verlorene Schönheit, wenn er die Venedigerzählung als "den letzten Atemzug, das letzte legitime Piepsen der neoklassizistischen Mytho-Ikonographie" bezeichnet. Es wurde danach immer schwerer, "sich als zeitgenössischer Zeus in weißem Anzug und Panamahut zu verstehen, der zu den Sterblichen hinuntersteigt, um einen hübschen Ganymed zu entführen".

HERMANN KURZKE

Gilbert Adair: "Adzio und Tadzio". Wladyslaw Moes, Thomas Mann, Luchino Visconti: Der Tod in Venedig. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Schlachter. Edition Epoca, Zürich 2002. 116 S., geb., 17,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

1) Gilbert Adair: Adzio und Tadzio Besonders pikant an diesem insgesamt "lesenswerten" Essay um die Entstehung von Thomas Manns Novelle "Tod in Venedig" und den "wahren Tadzio" findet der mit "kru" zeichnende Rezensent in seiner Kurzkritik die Anekdote, dass Wladyslaw Moes, für Adair der "wahre Tadzio", kurz vor seinem Tod noch einmal nach Venedig zurückkehren wollte, daran aber von einer Cholerawarnung gehindert wurde. Auch sehr "erhellend" erscheint "kru" Adairs Beschäftigung mit Lucchino Viscontis Verfilmung.

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