Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 9,95 €
  • Broschiertes Buch

Die der Arbeit den Titel gebende Frage "Wer ist hier Muslim?" stellt nicht den Ausgangspunkt sondern das Resultat der Forschung dar. Ergebnis ist daherkeine klärende Beantwortung der Frage, sondern eine empirisch geleitete Hinterfragung der den Diskurs dominierenden Begrifflichkeit. Die Autorin sucht dabei keine eindeutige Definition von Muslimsein, vielmehr führt sie die Diversität von Definitionen und sich wandelnden Selbst- und Fremdbestimmungen vor Augen. Als Beispiele dienen ihr die öffentliche Positionierung von Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Medien als Muslime und das…mehr

Produktbeschreibung
Die der Arbeit den Titel gebende Frage "Wer ist hier Muslim?" stellt nicht den Ausgangspunkt sondern das Resultat der Forschung dar. Ergebnis ist daherkeine klärende Beantwortung der Frage, sondern eine empirisch geleitete Hinterfragung der den Diskurs dominierenden Begrifflichkeit. Die Autorin sucht dabei keine eindeutige Definition von Muslimsein, vielmehr führt sie die Diversität von Definitionen und sich wandelnden Selbst- und Fremdbestimmungen vor Augen. Als Beispiele dienen ihr die öffentliche Positionierung von Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Medien als Muslime und das Gründungsnarrativ einer gemeinsamen Interessenvertretung Hamburger Moscheen.Die aktuellen Debatten um muslimische Migranten lassen Zweifel an der Selbstverständlichkeit aufkommen, mit der die Zugehörigkeit zum Islam als entscheidende Kategorie genutzt wird, gesellschaftliche Realitäten zu beschreiben. Für Forschende, muslimische Einzelpersonen, islamische Verbände und staatliche Verwaltungen stellt sich die Frage, ob die religiöse Terminologie, mit der zurzeit das Themenfeld Migration in Deutschland überwiegend verhandelt wird, sich wirklich eignet, aktuelle Entwicklungen und Probleme zu erfassen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011

Gehen Sie eigentlich öfter in die Moschee?

Was es heißt, dass der Islam zu Deutschland gehört: Riem Spielhaus zeigt, wie das fatale Bedürfnis nach Bestimmungen des Muslimseins Platz greift.

Von Karen Krüger

Eine derartige Entrüstung hatte noch kein Satz eines Bundespräsidenten provoziert. Als Christian Wulff sich im vergangenen Jahr am Tag der Deutschen Einheit ans Rednerpult stellte und sagte, dass der Islam inzwischen zu Deutschland gehöre, da jubelten nur die muslimischen Verbände. Wochenlang wurden Wulffs Worte auseinandergenommen, erklärt, eingeordnet, relativiert. Dabei hatte der Bundespräsident nur das gemacht, was in Deutschland schon lange geschieht: Im Zusammenhang von gesellschaftlichen Konflikten von Religion zu sprechen, obwohl die Ursachen nicht so einfach reduzierbar sind. Auch wenn man sich das manchmal wünschte.

In Deutschland gibt es derzeit so viele praktizierende Muslime wie nie - das jedenfalls ist der Eindruck, den das Tagesgeschehen vermittelt. Egal, ob es um integrationsunwillige Jugendliche, Zwangsheirat oder Bilderbuchkarrieren mit Migrationshintergrund geht: Früher oder später fällt das Wort Muslime. Deutschland ist sich auf einmal eines islamischen Lebens bewusst. Der Interpretationsrahmen jedoch ist einseitig: Eine Biographie ist problematisch, weil jemand muslimisch ist. Und wenn sie nicht problematisch ist, dann ist die Analyseklammer ein mit Ausrufezeichen versehenes obwohl.

Früher war der schon fast sprichwörtlich gewordene türkische Gemüsehändler nur der türkische Gemüsehändler und niemand fragte, wie oft man ihn in der Moschee antrifft - heute kann das durchaus passieren. Noch stärker aber gewandelt hat sich die Brille, durch die muslimische Personen des öffentlichen Lebens wahrgenommen werden: Cem Özdemir zum Beispiel wurde früher vor allem als türkischstämmiger Politiker porträtiert; Hilal Sezgin als angesehene Publizistin, die über alles und jeden schrieb; Navid Kermani als aufstrebender Schriftsteller und Ipek Ipekcioglu als Star der orientalischen Clubszene Berlins. Ihre Berufe haben sie alle immer noch. Doch heute sind sie vor allem eins: Muslime. Özdemir wird regelmäßig zu Fernsehdiskussionen über Moscheenbau eingeladen. Hilal Sezgin hat sich mit Thesen zum liberalen Islam einen Namen gemacht, ganz ähnlich Navid Kermani. Und Ipek Ipekcioglu fällt durch Auftritte auf, die ihre Homosexualität, aber auch ihr Muslimsein betonen. Auf dem T-Shirt, das sie dann gern trägt, steht: "Don't panic, I'm islamic."

Wie wurden all diese Personen des öffentlichen Lebens, aber auch andere Migranten und Nachkommen von Migranten plötzlich zu Muslimen, auch wenn Spiritualität keine tragende Rolle für sie spielt? Wie konnte Religion zu einem derart wichtigen Unterscheidungskriterium werden, fragt die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus. Anders als von medialen Schreihälsen mitunter behauptet, sieht sie die Gründe hierfür nicht in dem Aufbrechen einer tiefsitzenden Prägung. Genauso widerlegt ihre Analyse Deutungen, in denen das Motiv der Profilierungssucht mitschwingt. Ihr zufolge sind Muslime nicht einfach Muslime, sondern werden auch zu solchen gemacht. "Es ist das Ringen um die eigene Deutungsmacht darüber, was es heißt, Muslim zu sein. Es ist das Bedürfnis, die Definition dessen weder extremistischen Gewalttätern noch deutschen Medien zu überlassen", schreibt sie in ihrem Buch,

Sie hat die Entstehung islamischer Verbände in Hamburg untersucht und über Jahre hinweg die deutsche Islam-Debatte und deren Protagonisten begleitet, auch durch Interviews. Sorgfältig enthüllt sie den Prozess, der zu der beobachteten Perspektivverschiebung führt. Da soziale Konflikte in Deutschland zunehmend als Glaubenskonflikte wahrgenommen und in religiösen Mustern gedeutet werden, bleibt demnach den Betroffenen nichts anderes übrig, als sich zu positionieren: Sie wollen das Bild von Muslimen korrigieren, den Extremen andere Möglichkeiten zur Seite stellen, muslimisch zu sein. Sie wollen zeigen, "dass nicht nur diejenigen, die sich über den Islam definieren und inszenieren, Muslime sind, sondern dass es auch andere Wege gibt, mit seiner muslimischen Religiosität umzugehen".

Erst der 11. September 2001 rückte den Islam und Muslime auf die internationale politische, intellektuelle und mediale Agenda. Die Terroranschläge hatten ein globales Bedrohungspotential offenbart, ohne das der Islam nicht mehr denkbar schien. Doch auch innerdeutsche Fragestellungen werden seit dem Jahr 2001 unter diesen Vorzeichen diskutiert: Der Islam erscheint dabei als gesellschaftliches Problem. Fragen über Wesen und Inhalt sowie darüber, welche Stellung er in der deutschen Gesellschaft haben sollte, besitzen enormes Erregungspotential.

Vor allem die Ereignisse, die in Deutschland auf den 11. September folgten, bewegten viele Muslime dazu, sich überhaupt erst als Muslime zu positionieren: der deutsche Kopftuchstreit, die Anschläge in Madrid und London, die Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh, die Diskussionen um die Einführung eines Leitfadens für Einbürgerungsgespräche in Baden-Württemberg sowie die Moscheebaukonflikte in deutschen Städten. Von staatlicher Seite stellte sich erstmals die Frage, wer überhaupt für den Islam sprechen kann. Mehrere muslimische Verbände konstituierten sich daraufhin. Und anstatt sich wegzuducken und die eigenen Wurzeln zu ignorieren, ergriffen Menschen wie Cem Özdemir oder Navid Kermani das Wort, nicht ohne dabei ihre Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft zu betonen.

Für und über Muslime öffentlich zu sprechen war eine Entscheidung, die sie gegenüber Spielhaus als selbstgewählt beschreiben - deuten aber auch den gesellschaftlichen Druck an, sich zu positionieren. In dem Maße, wie die Anfeindungen wachsen, wächst auch die Hinwendung zur Auseinandersetzung mit der Religion. "Es ist in der Tat so, dass ich stärker als Teil dieses Kollektivs ,Islam' agiere. Weil ich zum Teil dieses Kollektivs gemacht werde. Und zwar völlig unabhängig von spirituellen Gründen", sagte etwa Navid Kermani in einem Interview mit der Islamwissenschaftlerin.

Sie kann nicht in einem abschließenden Sinn beantworten, wer in Deutschland Muslim ist. Ein Gemeinschaftsbewusstsein, dass diese oder gar alle Menschen aus muslimischen Ländern prägt, sei nicht feststellbar. Was Muslimsein in Deutschland bedeutet, auch das wird deutlich, steht jedoch nicht im Koran und kann genauso wenig von islamischen Gelehrten und Organisationen beantwortet werden. Denn Muslime in Deutschland sind kein homogenes Gebilde, als das sie oft vorgestellt werden. Sie sind vergleichbar mit einem Mosaik, dessen Muster und Farben gerade ausgehandelt werden. Spielhaus sieht darin eine Chance, die es zu nutzen gilt: "Der Paradigmenwechsel stellt vor allem neue Möglichkeiten der gesellschaftlichen Einflussnahme am Diskurs zur Verfügung." Ihr Buch beweist, dass es falsch ist, nur jene Muslime als mutig zu bezeichnen, die sich in die Reihe der Vorurteilsträger einreihen.

Riem Spielhaus: "Wer ist hier Muslim?" Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung.

Ergon Verlag, Würzburg 2011. 225 S., br., 29,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr