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Produktdetails
  • Verlag: Ullstein Berlin
  • Originaltitel: From Bondage
  • Seitenzahl: 519
  • Abmessung: 45mm x 146mm x 220mm
  • Gewicht: 796g
  • ISBN-13: 9783898340137
  • ISBN-10: 3898340139
  • Artikelnr.: 08870918
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2000

Odysseus über Harlem
Henry Roths große und lange Konfession / Von Friedmar Apel

Es ist nicht selten, daß es einem jungen Romancier nach erfolgreichem Debüt die Sprache verschlägt. Das geschah auch dem 1906 in Galizien geborenen Henry Roth, der im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern nach New York mußte, wo er in einem jüdischen Viertel der Lower East Side in schwierigen Verhältnissen aufwuchs. Gleichwohl konnte er ein College besuchen. 1934 erschien sein zunächst einziger Roman "Nenn es Schlaf", der mit heftigem Einsatz des inneren Monologs in der Art von James Joyce und der Thematisierung der Erinnerung in der Nachfolge Marcel Prousts eine Emigrantenkindheit in New York beschrieb. Als kunstvoller und formal und inhaltlich ungezähmter "Einwanderungsroman" erregte das Buch Aufsehen. Unter dem Einfluß sozialistischer Ideen wollte Roth danach einen proletarischen Roman schreiben, jedoch kehrte er seiner literarischen Karriere den Rücken und wurde Farmer und Unternehmer.

Mit dem Autor geriet das Buch in Vergessenheit. 1960 wurde es wieder aufgelegt, und erstaunt erkannte man die Ähnlichkeiten mit der Schreibweise der Schriftsteller-Generation um Jerome D. Salingers "Der Fänger im Roggen" (1951). Henry Roth aber blieb stumm. Erst nach dem Tod seiner langjährigen Ehefrau begann er zu schreiben. 1994 erschien mit  "Die Gnade eines wilden Stroms" der erste Band einer autobiographisch gefärbten Trilogie, der an die Chronologie des jüdischen Schicksals aus "Nenn es Schlaf" anknüpfte, nur daß der Held statt David Shearl nun Ira Stigman hieß. Am Ende des zweiten Bandes "Ein schwimmender Fels am Ufer des Hudson" wird der junge Stigman in seiner Bestimmung zum Schriftsteller gezeigt. Dort setzt der dritte Band, "Die Entfesselung", ein, dessen Publikation der 1995 verstorbene Autor nicht mehr erlebte.

In Deutschland wurde "Nenn es Schlaf" 1998 noch einmal publiziert. Mit der deutschen Rezeption hat es seine Schwierigkeiten, wie die Verteilung der Bücher auf drei Verlage zeigt. Unglücklich ist diese Zerrsplitterung, denn alle Bücher sind nur Bruchstücke einer Konfession. Jedenfalls erscheint der letzte Band jetzt in der sorgfältigen und gut recherchierten Übersetzung von Heide Sommer in einer Edition, die dem Leser mit einem Glossar der jiddischen und hebräischen Ausdrücke und einem Stammbaum der Emigrantenfamilie behilflich ist.

Der Roman gestaltet die in den Reflexionen des alten Erzählers im Dialog mit seinem Computer "Ecclesias" begonnene Auseinandersetzung mit der klassisch gewordenen Moderne, insbesondere mit James Joyce' "Ulysses" und T. S. Eliots "Das wüste Land", auch in der Binnenerzählung. Das Porträt des Schriftstellers als junger Mann fällt dabei weniger schmeichelhaft aus als zuvor die Darstellung des Kindes und des Jugendlichen. Ira, der Opportunist und Lügner aus Schuldbewußtsein und innerer Einsamkeit, der seine unreife Sexualität nur in den verbotenen Kopulationen mit seiner Schwester und seiner Cousine ausleben kann, entwickelt eine so schwärmerische wie verklemmte Liebe zu der älteren Literaturdozentin Edith, die ein Verhältnis mit seinem aus dem liberalen jüdischen Bürgertum stammenden Freund Larry unterhält. Heuchlerisch und eifersüchtig beginnt sein reflektiertes Verhältnis zur Literatur. Über die Lektüre des "Ulysses", die Larry nach Durchblättern des Romans als langweilig und lebensfern verschmäht, will sich Ira bei Edith einschmeicheln.

Zwar findet er den Anfang "wunderbar erzählt, sarkastisch, verschmitzt, präzise fokussiert", dann aber wird ihm die Lektüre zur "Schinderei", der er sich nur "aus Durchtriebenheit" unterzieht, um Edith und der "literarischen Elite" an seinem College zu imponieren. Belohnt wird er mit der Einsicht in eine Verfahrensweise, mit der man "die Schlacken weltlicher Verderbtheit in einen literarischen Schatz" umwandeln kann. Da werden ihm das Ionische Meer, Dublin und Harlem austauschbar. Sein Erzähler aber wird ihn wie Joyce später ob ihrer Auffassung der "Literatur als Wirklichkeitsverleugnung"  tadeln: "Joyce hatte Angst vor dem Risiko." Für den Erzähler ist der emigrierte Ire ein literarischer Feigling und ein Verräter des irischen Volkes. So macht der einsame alte Mann, der seinen Lebensunterhalt mit harter Arbeit verdient hat, vor dem Computer seiner Abneigung gegen die "Literatenstimmung" der Moderne Luft, die nur eine Kreativität aus gespielter Verzweiflung zeitigen kann.

In der Rahmenhandlung distanziert sich der alte Stigman von aller Literatenarroganz und wünscht sich im eine welthaltige Literatur, die auf die Restitution der Einheit von Individuum und Gesellschaft ausgeht, statt auf deren Feindschaft. Im Reflex auf eine frühe, freilich selbst zwiespältige Erfahrung propagiert er sich selbst ein Schreiben, das sich mit dem "jüdischen Volk" identifiziert und aus der "Frische des Erlebens" schöpft. Die erste, von der literarischen Elite verspottete Veröffentlichung des jungen Stigman waren die "Erfahrungen eines Klempners" gewesen. Später wandelt er im Traum mit Mark Twain durch ein Bahndepot und betrachtet das Leben der einfachen Leute, ohne dieses Ideal einer lebenszugewandten Literatur umsetzen zu können.

"A ganzer Jid" konnte und wollte er nicht sein, die gebrochene Figur seines Vaters Chaim alias Herman Stigman, der ihn schlug, konnte kein Vorbild sein. Vielmehr führen ihn die Peinlichkeitsgefühle gegenüber seiner Herkunft an den Rand des Antisemitismus und zum Selbsthaß der Exilanten. Zum "Goj" reicht es nicht, und vor den "Schiksen" schreckt er zurück, als wirke das mosaische Gesetz jenseits des Willens und der Lust. Nur in seinen kulinarischen Vorlieben bleibt er jüdisch. Auch das Geld hat er gern. Literatur dagegen ist wie in aller Moderne seit Baudelaire selbst Metapher des Exils und daher Verheißung einer Welt, die man nicht haben und nicht kaufen kann.

Aus der Erinnerung versäumter Möglichkeiten heraus vergiftet sich der alte Schriftsteller gegen die Moderne, ohne ihr in seiner Erzählung zu entkommen.  Und auch das vermeintliche Gegengift T. S. Eliot produziert nur Moralin.  Alle Frische des Erlebens wird von einer quälenden Erinnerungswut, von Identitätszweifeln und Selbstreflexion und -kritik verhindert, und die Feindseligkeit des Ich der Gesellschaft gegenüber hat sich nur verlagert. Obwohl er angeblich in seiner Ehefrau das Ideal eines unentfremdeten Menschen kennengelernt hat, der "fehlbar, vernünftig und vergnügt" ist, knüpft er nach ihrem Tod in seiner Erzählung an alle Selbstzweifel und Identitätsprobleme wieder an. Warum aber macht er sich so schlecht? Die "Beantwortung dieser Frage würde einen ganzen Band füllen", mit den Verweisen auf den jüdischen Selbsthaß und seine Entstehung aus dem fremdenfeindlichen Gesellschaftlichen will sich Roth nicht begnügen.

Die Uferlosigkeit  des Erzählens treibt den Leser gelegentlich auf die Seite von Larry, der sich angesichts des "Ulysses" wundert, "wie wenig auf diesen endlosen, eng bedruckten Seiten passiert".  Mit seiner Unfähigkeit, die Erinnerung zu begrenzen, quält der Erzähler sich selbst ebenso wie den Leser, der bald den Zeitdispositionen nicht mehr traut. Wenn es heißt: "Die Wochen vergingen und brachten das Herbstsemester seinem Ende näher", so richtet er sich auf weitere hundert Seiten ein. Der Erzähler versteht es, den Leser gegen seine Figur und gegen sich selbst einzunehmen.  In der manischen Selbstkritik stößt die puritanische Heuchelei ab, die die Unmoral verdammt, ihren Hergang aber beschrieben wissen möchte. Das will dem Leser angesichts der jüngsten Exzesse empörter Tugend amerikanisch und langweilig vorkommen, und da hilft es nicht viel, daß  sich der Erzähler in der Tradition des augustinischen Bekenntnisses sieht.

Irritierend protestantisch sucht das für immer geschlagene "orem Kind" Ira Stigman die Schuld in sich selbst. Daraus entsteht bei aller Selbstverurteilung etwas wie ein Stolz des beschädigten Subjekts. Der junge Stigman sucht sein Selbst sorgfältig zu verbergen, und das führt ihn zu Grübeleien über die Motive der anderen wie die eigene Verfassung. Er beneidet Edith um ihre Rolle als "Heldin ihres eigenen Dramas", bevor er erkennt, daß sie darin nie autonom war, und auch der bewunderte Larry stellt sich als gewöhnlicher Mensch heraus. Er aber bleibt paradoxerweise um so mehr der tiefsinnige negative Held seiner Tragödie, voller Skepsis gegenüber jeglicher Beziehung zu anderen Menschen und voller Mißtrauen gegenüber jeder Zuwendung. Nur beim Sex mit der Cousine handelt er zielstrebig. Sein Glück aber besteht im Entrinnen ins Unerkannte, darin ist er Odysseus und ein Niemand.

Sein Erzähler aber sucht, nachdem er seine Penelope wieder verloren hat, die Gefahr wie die Rettung in der Enthüllung des Innersten und praktiziert das Erzählen als Irrflug über dem Meer der Erinnerung. Zuviel aber hat sich angesammelt, und der Schreibprozeß bleibt trotz technischer Hilfe an die reduzierte Leiblichkeit des alten kranken Schriftstellers gebunden, der noch  seine Inkontinenz  als Metapher des Schreibens versteht. Sein Stolz ist es, da die Frische der Erfahrung unerreichbar bleibt, das Schreiben als negative Utopie und Unwiederbringlichkeit zu praktizieren, den "Tod der Illusionen" zu beschreiben, einschließlich der des Sozialismus.

Wo in der Binnenerzählung die Kritik dem mangelhaften Subjekt und seinem Torkeln in der Welt gilt, so im Rahmen als Metaphernturbulenz dem Defizit des Schreibens: "Der Prozeß des romanhaften Erzählens - und es war ein Prozeß, nicht nur eine Verfahrensweise - trug nur eine gewisse Zeit. Danach fraß der Prozeß sich fest wie ein überdimensionierter, überlasteter Motor, unabhängig davon, wie hoch die jeweilige Drehzahl war. Der Motor würde abgewürgt, würde absaufen wie ein alter Flugzeugmotor, der beim Fliegen in einen Vogelschwarm geriet, verstopfte und nicht genügend Leistung brachte, die Stare zu verdauen. Das Flugzeug, durch den Umkehrschub langsam und niedrig, würde abstürzen, die Reise bliebe unvollendet."

Das bleibt sie in der Tat. Die Erzählung der Schicksale des jungen Stigman kommt über die College-Zeit nicht hinaus, und angesichts der unerfüllten Wünsche bleibt nur der Trost, daß die anderen nichts wissen. Der einsame alte Schriftsteller aber will die anderen von sich wissen lassen, ohne sich den Erwartungen anzupassen. Das beschädigte Subjekt, das er darstellt, soll nicht das Objekt des ästhetischen Vergnügens und der Sentimentalität des Lesers werden. Der alte Mann weiß, daß er sein Material nicht beherrschen kann, wenn nicht literarische Materialbeherrschung je schon Illusion war. So bleibt dem einsamen Epiker nur, in der Erinnerung von New Mexiko aus noch einmal das Tageslicht hinter dem fernen Hudson verschwinden zu lassen, während "Helios' feurige Rosse auf ihrer abendlichen Bahn an ihm" vorüberziehen und "den Basalthorizont der Wüste" beleuchten.

Henry Roth: "Die Entfesselung". Roman. Ullstein Berlin Verlag, München und Berlin 2000. 519 S., geb., 48,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Heribert Hoven bespricht den dritten Band einer vierbändigen Lebensbeschreibung, die die Studentenjahre des Helden, eines neunzigjährigen jüdischen Schriftstellers, behandeln. Der Autor betone zwar, dass es sich bei diesem Buch keinesfalls um eine Autobiografie handelt, doch erkennt der Rezensent hier ein "Vexierspiel mit der Fiktionalität", gleicht der Held des Romans doch seinem Autor in Geburtsjahr und Ort. Er vergleicht das Werk mit Uwe Johnsons Jahrestagen, weil es ebenfalls ein ganzes Jahrhundert abdeckt und die besondere "Modernität" sieht er in der "Metafiktionalität" mit der Roth operiert, indem er seinen Protagonisten nicht nur erinnern, sondern auch über die Art der Erinnerung reflektieren läßt. Seltsamerweise lässt sich der Rezensent, außer dass er die Leserfreundlichkeit der Typographie lobt, die die Wechsel von Erzählweise und Tempi kenntlich macht, nicht zu einem dezidierten Urteil über das Buch hinreißen, aber er hat auch nichts zu meckern.

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