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Produktdetails
  • Verlag: Ullstein Berlin
  • Seitenzahl: 254
  • Abmessung: 24mm x 127mm x 209mm
  • Gewicht: 381g
  • ISBN-13: 9783898340038
  • ISBN-10: 3898340031
  • Artikelnr.: 08613463
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2000

Hat er gesagt, der Spitzel
Carmen-Francesca Banciu beschreibt Rumäniens Helden

Die Bilder sind um die Welt gegangen und unvergessen: Der Diktator auf dem Balkon des Palastes wird in seiner Rede unterbrochen, ungläubig zaudert er, setzt neu an, gestikuliert beschwörend über die Weite des Platzes und scheint mit einem Mal zu begreifen, daß das Unbegreifliche geschehen ist und er die Macht über die Zuhörer verloren hat. Was ihm bleibt, ist die ungeregelte Flucht im Helikopter, nach ein paar Tagen die Gefangennahme, dann ein überstürzter Prozeß vor laufender Kamera, endend mit der unverzüglich vollzogenen Hinrichtung im Hinterhof. Die letzten Tage des nationalkommunistischen Regimes von Bukarest wurden live im Fernsehen übertragen, und noch beim Ende des Diktators war die Öffentlichkeit fast dabei. Trotzdem gibt es wenige Ereignisse der jüngsten Geschichte, die so unklar geblieben sind und bis heute so kontrovers gedeutet werden.

Was war das eigentlich, was da in Rumänien im Dezember 1989 geschah: ein Volksaufstand oder eine Verschwörung, ein Staatsstreich oder ein Bürgerkrieg, eine Revolution oder ein Putsch? Hatten die aufgebrachten Studenten und Arbeiter eine Revolte gewagt, aus der binnen Tagesfrist eine Revolution wurde? Oder war es einer unzufriedenen Gruppe der Nomenklatura gelungen, im Hintergrund die Fäden zu ziehen und einen überfälligen Systemwechsel so zu arrangieren, daß sie ihn als Elite mitsamt ihren Privilegien unbeschadet überstehen konnte?

Dem Geheimnis jener Dezembertage auf den Grund zu gehen, verspricht ein Roman von Carmen-Francesca Banciu, die 1955 in Lipova geboren wurde, seit 1990 in Berlin lebt und zuletzt den formidablen Prosaband "Vaterflucht" veröffentlichte. Ziemlich am Anfang von "Ein Land voller Helden" heißt es: "Es gab keine Revolution, sagen die einen. Und andere sagen, die Revolution wurde uns gestohlen." Je länger der Roman wird, um so mehr scheint freilich nicht die Klärung dieses Widerspruchs, sondern die literarische Verrätselung des Geschehens das Ziel der Autorin gewesen zu sein. Dabei ist fortwährend von Aufklärung und von Wahrheit die Rede, und der äußere Gang des Romans ist von der großen Recherche vorgegeben, mit der ein zwielichtiger junger Journalist Klarheit über die Ereignisse gewinnen möchte.

Abwechselnd als "Sammler", "Horcher", "Beobachter" bezeichnet er sich, der die Wahrheit nach Art der Securitate herausbekommen möchte, indem er eine Gruppe von Freunden, die damals allesamt irgendwie in das Geschehen verstrickt waren, ausspioniert, belauscht, gegeneinander ausspielt. Leider kommt ihm dabei seine expressive Sprache in die Quere, mit der er die historische Recherche zur pubertären Übung karikiert: "Ich will wissen. Was war. Was nicht war. Wer was war. Wer was ist. Und ob er es noch ist. Ich will die Wahrheit erfahren. Ich will erfahren, ob es Wahrheit gibt. Will erfahren, wie viele Gesichter die Wahrheit hat . . . Pflücken werde ich. Wörter sammeln. Wörter, in die Luft gesagt. Die im Äther aufgegangen sind. Gedanken, die außer Kontrolle geraten sind . . . Ich sammle sie. Horte sie. Lege Akten an . . . Ich bin der Bewahrer."

So geht das oft seitenlang dahin, und mitunter entfaltet sich dabei sogar ein Sog, denn daß Carmen-Francesca Banciu mittels stilistischer Konsequenz durchaus zu fesseln vermag, hat sie schon wiederholt bewiesen. Nur ist dieses Mal alle Bemühung redlich vergeudet, kann sich die Autorin doch bis zuletzt nicht entscheiden, ob sie nun das intime Protokoll eines durchgedrehten Spitzels, die kollektive Seelengeschichte einer Freundesgruppe oder einen Staatsroman verfassen wollte. Kommt hinzu, daß der Bericht des Sammlers merkwürdig verquält gerät: "Sandra sagte mir: Nur wer nichts tut, macht keine Fehler, habe ihr Maxim gesagt, daß Artur gesagt hätte." Mag sein, daß Banciu schon syntaktisch zeigen wollte, daß ihr Gewährsmann eine bürokratische, gehemmte Figur ist, alle Aussagen zum historischen Fall fragwürdig sind und vom Blickpunkt des jeweiligen Protagonisten abhängen, doch macht das die Lektüre solcher Passagen nicht vergnüglicher.

Ilina, Maria, Sandra, Artur, Maxim, Augustin, Valer, Varvara, sie alle, junge Leute, die miteinander in vielschichtigen Beziehungen stehen, bietet "der Sammler" zum Protokoll: "Wir alle waren da. Im Mittelpunkt der Ereignisse. Mitten auf dem Platz der Universität." Der Sammler, soviel wird klar, recherchiert nicht ohne böse Absicht, sucht vielmehr "nach Beweisen, mit denen das Ereignis herabgewürdigt werden kann". Pseudoreligiös wird da fortwährend von einem "großen Ereignis" gesprochen, ohne daß je Konkretes von ihm zu erfahren wäre, so daß es sich nach und nach, je mehr von ihm die Rede ist, völlig verflüchtigt und endlich statt von einem politischen Umsturz auch von einer religiösen Offenbarung und statt von Ceausescus Abtritt von einem Besuch des Papstes die Rede sein könnte. Gut möglich, daß Carmen-Francesca Banciu zu vieles und zu verschiedenes wollte; am Ende ihres Romans, der historische Untersuchung, empfindsame Chronik, Studie über Wahrheit und Täuschung, Psychogramm eines gedemütigten Spitzels und Gruppenbild mit Damen auf einmal sein will, drängt sich allerdings die Frage auf: War da was in Rumänien, oder wurde nur darüber geredet?

KARL-MARKUS GAUSS

Carmen-Francesca Banciu: "Ein Land voller Helden". Roman. Überarbeitete Fassung auf der Grundlage der Übersetzung aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Ullstein Verlag, Berlin 2000. 257 S., geb., 34,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Hat ein Volksaufstand oder eine interne Verschwörung im Dezember 1989 zum Ende des rumänischen Diktators Ceausescu geführt, fragte sich Karl-Markus Gauss und hoffte zunächst in dem neuen Roman von Carmen-Francesca Banciu Aufschluss über jene Ereignisse zu erhalten. Seine Erwartung wurde enttäuscht. Gauss` Meinung nach verrätselt die Autorin das Geschehen sogar zunehmend, obwohl ein junger, etwas zwielichtiger Journalist im Mittelpunkt der Handlung steht, der sich die Aufklärung der Ereignisse zum Ziel gesetzt hat. Den Rezensenten stört unter anderem die expressive Sprache des Buchs, die das Recherche-Ansinnen des Protagonisten konterkariere; überhaupt seien zu viele Ansprüche und Ebenen eingeführt und nicht durchgehalten: das Buch wolle "intimes Protokoll" und "kollektive Seelengeschichte" auf einmal sein, eine Verbindung, die der Autorin nicht gelungen sei. Schlimmer: die Ereignisse selbst im Dezember 1989 bleiben Gauss` zufolge unbenannt und werden mystifiziert.

© Perlentaucher Medien GmbH