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Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als auf jeder Seite "spannend und staunenerregend" beschreibt Markus Barth seine Begegnung mit diesem Buch, das eine "doppelt fremd gewordene Welt" zum Thema habe: die Welt des Mittelalters und die der totalen Religiosität. Der katholische Kirchenhistoriker habe sein Fach nie als bloße Historiografie der Institution begriffen, sondern als " Geschichte der religiösen Vorstellungen, Ikonografien und Lebenswelten". Als erster seines Fachs habe Angenendt seine Studenten auch mit der Nouvelle Histoire bekannt gemacht, Bezüge zur Sozial- und Alltagsgeschichte und zur bildenden Kunst des Mittelalters hergestellt. Es mache die Faszination dieses Buches aus, "die Mentalität dieser vollkommen religiös bestimmten europäischen Gesellschaft bis in die kleinste Verästelung" kennenlernen zu können. Barth bedauert allerdings, dass dies Buch sich hauptsächlich an Theologen richtet: historische Begriffe seien "lang und breit" erklärt, theologische und liturgische Termini dagegen würden als bekannt vorausgesetzt. Auch sei Angenendts Schreibstil manchmal trockener, als es der Hörer seiner Vorträge vermuten würde. Trotzdem, Barths Begeisterung für dies Buch wird davon nicht wesentlich erschüttert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2000

Zur Abstraktion gehört Glaubensmut
Das Gewissen regt sich: Arnold Angenendts Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter

"Mitten im Leben" - das war die Losung, unter der die christliche Partei Deutschlands die Macht im Staate möglichst rasch wieder zu erobern gedachte, bevor sie der abgründigen Doppelbödigkeit dieser Parole ansichtig wurde. Was die Behauptung des lebensnahen Engagements sein sollte, erwies sich als triste Ortsbeschreibung: Es offenbarte sich, daß die Partei der Christen ganz von dieser Welt ist, auch dort mitten im Leben steht, wo es ganz finster ist. Es ist die Spannung des Christentums, seit es existiert: in dieser Welt zu leben und doch nicht von dieser Welt zu sein; diese Welt entschieden zu gestalten und doch von einer anderen und auf eine andere zuzuleben. Alle bedeutsamen Auseinandersetzungen der Kirchengeschichte, von der Frage: "Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuern zu bezahlen?" bis zum Kampf um die Schwangerschaftskonfliktberatung, sind Variationen dieser Dialektik. Sowenig wie es ein "reines" und also gutes Christentum ohne "Welt" gibt, so wenig kann es nach der christlichen Überzeugung von der Inkarnation des Göttlichen in die Welt eine reine, besser: eine rein böse Welt geben.

Das europäische Mittelalter sieht aus wie eine vollkommene Symbiose aus Kirche und Welt. Nie war weniger unterscheidbar, was (und wer) zu welchem Bereich gehört. Die Kaiser sind gesalbte vicarii Christi und die Bischöfe wiederum Fürsten und Wahlmänner. Das gesamte Leben, vom Ackerbau, der ohne Segnung und Prozession nicht denkbar ist, über die Gerichtsbarkeit bis zu Politik und Kultur, ist religiös motiviert und imprägniert wie zu keiner anderen Zeit. Hier ist die Gestalt einer Religion zu besichtigen, die ganz Welt geworden ist - und die Gestalt einer Welt, die anders als religiös nicht verstanden werden kann.

Da das Christentum im Mittelalter ganz Welt geworden ist, hat es hier nicht nur seine größten Triumphe, sondern auch seine tiefsten Sündenfälle erlebt. So ist das Mittelalter nicht nur die geheime Sehnsuchtsepoche aller Integralisten, es ist auch die sich nie abnutzende Referenzgröße aller Kirchengegner, das immer noch die Munition liefert für Auseinandersetzungen der Gegenwart. "Mittelalterlich" ist in weiten Kreisen keine Epochenbeschreibung, sondern noch immer ein emotionalisierendes Attribut, das alles Finstere, Unaufgeklärte und politisch Inkorrekte umfaßt.

Das hat Arnold Angenendt schon immer geärgert. Der katholische Kirchenhistoriker, der als akademischer Lehrer in Bochum und Münster einer der prominentesten Vertreter seines Fachs geworden ist, hat ein Gelehrtenleben lang an dem Werk gearbeitet, das nun in zweiter, überarbeiteter Auflage vorliegt. Fast tausend Seiten erzählen von einer heute doppelt fremd gewordenen Welt - von der Welt des Mittelalters und der der quasi totalen Religiosität. Es ist diese doppelte Fremdheit, die das Buch auf jeder Seite zu einer spannenden, oft staunenerregenden Lektüre macht. So erfahren wir von der Praxis des "Totbetens" von Feinden ("Seine Tage sollen weniger werden"). Wir lesen von den Seelen der Bösen als "schmutzigen Mohren", von Hostien, die als Medizin unter das Viehfutter gemischt werden, wir hören von Teufeln, die durch alle Ritzen des Hauses und durch Speisen in den Körper eindringen, von Nonnen, die sich mit glühendem Holz gegen sinnliche Gelüste zu immunisieren versuchen. Wir erfahren aber auch von den intellektuellen Höchstleistungen der Theologie, von selbstlosen Heiligen, sozialen Organisatoren, unermüdlichen Reformen, ekstatischen Mystikern. Wir werden zu Zeugen der spannenden Geschichte der Veränderung des Gottesbildes, des Taufritus, des Bildungswesens, Zeugen auch der Entdeckung und Entwicklung des Individuums, in der Ehe, in der Beichte, im Gebet.

Angenendt hat sein Fach nie als bloße Historiographie der Institution begriffen, sondern als Geschichte der religiösen Ideen, der Gesten, der Vorstellungen, Ikonographien, Lebenswelten. Als erster seines Fachs hat er seine Studenten mit den Meistern der Nouvelle histoire bekanntgemacht. Keine Vorlesung ohne Bezüge zur Sozial- und Alltagsgeschichte, zur bildenden Kunst. Kirchengeschichte ist für Angenendt mehr als ein Ausschnitt aus der Universalgeschichte - sie ist ein Spiegel für die Verfassung der Menschen in ihrer Zeit insgesamt. Immer hat er auch die longue durée der Prägungen herausgestellt, die bis heute wirksam sind.

Es macht die Faszination von Angenendts Buch aus, die Mentalität dieser vollkommen religiös bestimmten europäischen Gesellschaft bis in kleinste Verästelungen kennenlernen zu können. Es wird im Detail deutlich, wie sehr sich das Bild vom Menschen, wie sehr sich gesellschaftliche Usancen, politische Strategien oder künstlerische Entwürfe von religiösen Vorstellungen herleiten lassen. Wie sich allein in der Entwicklung der Christusplastik am Eingang der Kathedralen, an der Darstellung des Jüngsten Gerichts, an der Größe und Stellung der Seelen-Waage die Veränderung der Vorstellung von individueller Verantwortung und von Gnade und Erbarmen ablesen läßt, wie sich Himmelsfreude und Höllenangst verändern, wie von äußerlichen Taten das Gewicht auf innere Einstellung verlagert wird - all das wird genau und meist einfühlsam beschrieben.

Religiosität erscheint als ungeheuer dynamische Hauptmotivation und Bezugsgröße allen menschlichen Handelns. Wo andere Motive, wo Politik und Ökonomie, Hygiene und Sozialorganisation eine Rolle spielen, sind auch sie im Selbstverständnis der Zeit ohne religiöse Grundimpulse nicht zu verstehen. Um es mit aktuellen Begriffen zu sagen: Das Mittelalter verfolgt ein christliches Projekt, und so ist eine europäische Wertegemeinschaft entstanden, wie es sie später nicht mehr gegeben hat. Denn das geographisch-politisch-kulturelle Synonym für den historischen Begriff Mittelalter heißt Europa. Nach der Lektüre dieses Buches wird man zweifeln, ob es noch einmal ein einiges Europa geben kann, ohne die leitende und einigende Dynamik einer metapolitischen, wenn nicht metaphysischen Idee.

Gerade dieser Aspekt macht das Buch zu einer wichtigen Lektüre für alle "geistig Interessierten", wie man im fernen Echo europäischer Bildungsideale noch vor einiger Zeit gesagt hätte. Deswegen ist die einzige Schwäche dieses großen Buches zu beklagen: Es ist offenbar in der Hauptsache für Theologen geschrieben. Während etwa historische Begriffe wie "Achsenzeit" breit erörtert werden, werden theologische und vor allem liturgische Fachtermini als bekannt vorausgesetzt. Was "Kanonkreuze" sind, weiß vermutlich auch ein Oberministrant nicht. Angenendt schreibt manchmal allzu sehr aus einem katholischen Milieu heraus, von dem er selbst am allerbesten weiß, daß es so nicht mehr existiert. Leider ist Angenendts Schreibstil auch viel trockener, als es die Hörer seiner Vorträge vermuten würden.

Das Buch ist in der Großstruktur systematisch angelegt. Es gibt lediglich eine Übersicht über "Epochen und Bewegungen" von sechzig Seiten. Diese sind allerdings entscheidend. In das dort entworfene historische Muster werden alle späteren Themen eingetragen. Die zentrale These vom "Prozeßcharakter" des Mittelalters und seiner Religiosität, in dem das zwölfte Jahrhundert für Angenendt die entscheidende "Wasserscheide" darstellt, wird später immer wieder im Detail demonstriert. Überraschen könnte der beständige Bezug zur Bibel. Ob Gottesbild oder Gebet, ob Buße oder Liturgie, ob Jenseitsvorstellung oder Caritas: noch jedes Unterkapitel wird mit einer Art exegetischem Befund eingeleitet. So wird zunächst dargestellt, wie stark sich die Religiosität des Mittelalters als eine textbezogene Religiosität beschreiben läßt. Das Buch ist auch eine ökumenische Herausforderung. Im protestantischen Geschichtsbewußtsein fehlt ja häufig genau jene Epoche, von der hier die Rede ist.

Der Bezug auf die Bibel hat für Angenendt aber noch eine andere, nämlich kritische Funktion. Unterscheidet man zwischen "archaischen" beziehungsweise mythisch-magischen Formen von Religion auf der einen und "achsenzeitlichen" Formen von elaborierter beziehungsweise "Hochreligion" auf der anderen Seite, ist das Christentum des Neuen Testamentes eine Hochreligion. Hierzu gehört vor allem die Betonung der Ethik und der Innerlichkeit, des "Herzens". In der dem ganzen Buch zugrundeliegenden Frage, ob die Religiosität des Mittelalters eher einer "magischen" oder einer "elaborierten" Form der Religion entspricht, liefert die Bibel für Angenendt die Kriteriologie, im jeweiligen Einzelfall das Interpretationspendel nach vorn oder nach hinten ausschlagen zu lassen. Seine Hauptthese bleibt: Das Mittelalter war auf dem Rückweg zur innerlichkeitsbestimmten Hochreligion. Die "Prozeßhaftigkeit" der Religiosität im Mittelalter deutet Angenendt - nimmt man alles in allem - als einen Prozeß der Zivilisation, einen Prozeß der Rationalisierung, der Ethisierung, der Verbalisierung, der Individualisierung.

In vielen Einzelpunkten gelingt ihm der Beleg überzeugend und faszinierend, wie beispielsweise bei der Entwicklung des Gottes- und Christusbildes, der Entwicklung des Ehesakramentes, der Gnaden- und Bußauffassung, der Verschiebung von der Tat- zur Intentionshaftung. Dabei werden die gegenläufigen Tendenzen nicht unterschlagen. Besonders stellt Angenendt die zentrale Bedeutung der "archaischen" Reinheitsvorstellung heraus. In allen Bereichen des Lebens, ob beim Sakramentenempfang, bei der Frage des priesterlichen Zölibats, bei den Kranken, ja auch in der Politik (Waffenverbot für Kleriker, Ketzersanktionen nur durch den weltlichen Arm, Investiturstreit), spielen diese urreligiösen Vorstellungen eine Rolle.

Die gesamte Epoche wird von einer panischen Angst vor kultischer Unreinheit jeder Art beherrscht - und diese Unreinheit kam nicht, wie der "hochreligiöse" Jesus des Neuen Testamentes gefordert hatte, allein aus dem "Herzen" des Menschen, sondern von realem Blut und Sperma, von Kadavern und Ausscheidungen, von Speisen und Berührungen. Angenendt bewertet das - beispielhaft für sein interpretatives Vorgehen - als "eindeutig vorethisches Religionsphänomen", um dann zu zeigen, wie aus der intellektuellen oder klösterlichen Welt langsam Spiritualisierungsstrategien entwickelt werden.

Die Kirchengeschichte gehört zum Fächerkanon der Theologie. Theologie aber ist ihrem Wesen nach Apologetik. So ist die Kirchengeschichte als historische auch eine apologetische Wissenschaft. Kaum jemand versteht sich auf diese doppelte Aufgabe besser als Angenendt. Einerseits besteht seine apologetische Kunst darin, auch für die aus heutiger Sicht abstrusesten Vorstellungen und heikelsten Praktiken systemimmanent plausible Begründungen herzuleiten oder zumindest um Verständnis für "das Eigene, ja das Fremde des Mittelalters" zu werben. Andererseits zeigt er, wie sehr sich auch in dieser Epoche, vor allem durch gewissenhaftes Maßnehmen an der Bibel und der "Väterzeit", immer wieder "hochreligiöse Formen" durchzusetzen beginnen. Christentum sei immer schon Aufklärung gewesen: Dieses Theorem, das Kardinal Joseph Ratzinger, derzeitiger Chefapologet seiner Kirche, unlängst aufgestellt hat, ist durch Arnold Angenendt ausgerechnet für das vermeintlich so dunkle Mittelalter mit reichlich empirischem Material gestärkt worden.

MARKUS BARTH

Arnold Angenendt: "Geschichte der Religiosität im Mittelalter". 2., überarbeitete Auflage. Primus Verlag, Darmstadt 2000. 986 S., Abb., geb., 128,- DM.

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