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Das 20. Jahrhundert war für Russland und die anderen Teilrepubliken der untergegangenen Sowjetunion gekennzeichnet von einer noch nie da gewesenen Häufung von Tod und Vernichtung. Zwei Weltkriege, die Oktoberrevolution mit den anschließenden Säuberungen und Hungersnöte, teils naturbedingt, teils vom Staat zu verantworten, bescherten dem Riesenreich im Osten Europas den traurigen Rekord, das Land mit den meisten gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen zu sein. Die russische Erde ist voll von Toten Soldaten und Partisanen, Gefangene und Verfolgte, vermeintliche wie echte Staatsfeinde, Opfer der…mehr

Produktbeschreibung
Das 20. Jahrhundert war für Russland und die anderen Teilrepubliken der untergegangenen Sowjetunion gekennzeichnet von einer noch nie da gewesenen Häufung von Tod und Vernichtung. Zwei Weltkriege, die Oktoberrevolution mit den anschließenden Säuberungen und Hungersnöte, teils naturbedingt, teils vom Staat zu verantworten, bescherten dem Riesenreich im Osten Europas den traurigen Rekord, das Land mit den meisten gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen zu sein. Die russische Erde ist voll von Toten Soldaten und Partisanen, Gefangene und Verfolgte, vermeintliche wie echte Staatsfeinde, Opfer der großen Säuberungen unter Stalin. Und die meisten wurden am Ort ihres Sterbens verscharrt oder in Massengräbern beigesetzt. Selten war der Tod so anonym wie in diesen Jahrzehnten. Jahrhundertelang lebten die Russen ohne rechtlichen Schutz, waren der Willkür der zaristischen Obrigkeit ausgeliefert und fügten sich in die Unvermeidlichkeit von Leiden und Sterben. Und sie entwickelten eine fatalistische Beziehung zum Tod. Sie wuchsen auf im Bewusstsein, ein wertloses Leben zu führen, sodass sie den Tod, auch einen frühen und gewaltsamen, als unausweichlich akzeptierten. Sie waren gewohnt, ihr Leben für den Zaren hinzugeben, und als die Herrscher wechselten, konnten auch diese mit einem ans Dulden und Erdulden gewohnten Volk rechnen. Es blieb selbstverständlich, für die neuen Herren und die neue politische Idee zu sterben, und die Hinterbliebenen schienen dies zu akzeptieren. Getrauert wurde nur im familiären Kreis, das Trauern in der Öffentlichkeit war verboten. Die einzelnen Akte dieses Dramas der Vernichtung im modernen Russland hat Catherine Merridale in Steinerne Nächte einer kritischen Bestandsaufnahme unterworfen. Neben der akkuraten Auflistung der Gräuel beleuchtet sie immer wieder die Fragen: Wie konnten die Russen diese gigantischen Verluste bewältigen? Wie konnte eine ganze Nation trauern, ohne dieser Trauer Ausdruck verleihen zu können? Sind Todesbereitschaft und Todessehnsucht wirklich lebensbestimmend? Die Autorin verweist auf die prächtigen orthodoxen Gottesdienste, die der Bevölkerung vertraut waren, in denen sie sich geborgen fühlte, und beschreibt die Versuche der Bolschewisten, für die Trauerarbeit wie für alle anderen privaten Rituale eine atheistische, staatsgelenkte Alternative zu schaffen. Das aber wurde von der Bevölkerung nie angenommen. Erst in den letzten Jahren, seit der Begriff Glasnos mit Leben erfüllt wird, hat sich der Umgang mit der schmerzlichen Vergangenheit geändert. Nun können Familien nach ihren toten Angehörigen, den Opfern stalinistischen Terrors, fahnden, können die Gräber oder die Gebeine ihrer ermordeten Anverwandten ausfindig machen, um sie würdig zu bestatten.
Autorenporträt
Catherine Merridale arbeitete für ihre Dissertation über "Die Basis der Kommunistischen Partei in Moskau während Stalins Aufstieg in den 20er und 30er Jahren" an der Moskauer Staatsuniversität. Promotion 1987 in Cambridge. Anschließend Dozentin am King s College, Cambridge. Seit 1993 Professorin für Geschichte an der Universität von Bristol. Zahlreiche Beiträge über sowjetische und russische Geschichte und Politik sowie zwei Bücher: Moscow Politics and the Rise of Stalin und Perestroika: The Historical Perspective.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2001

"Sieg der Vertierung und der Primitivität"
Leiden und Sterben in der russisch-sowjetischen Geschichte

Catherine Merridale: Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Rußland. Aus dem Englischen von Enrico Heinemann, Karin Schuler und Karin Miedler. Karl Blessing Verlag, München 2001. 543 Seiten, 48,- Mark.

Petrograd, im Dezember 1917. Seit Februar befindet sich das Land im Aufruhr, seit sechs Wochen sind die Anhänger Lenins an der Macht. Maxim Gorki schreibt für die Tageszeitung "Neues Leben", seit Ausbruch der Revolution habe es schon zehntausend Fälle von Lynchjustiz gegeben: "Soldaten führen einen halbtot geprügelten Dieb ab, um ihn in der Mojka zu ertränken. Er ist blutüberströmt . . . Er wird von einem Haufen Kinder begleitet. Danach kommen einige von der Mojka zurück und schreien fröhlich, auf einem Bein hüpfend: ,Sie haben ihn ersäuft, sie haben ihn ersäuft.'" Weiter ist demselben Artikel zu entnehmen: "Seit vierzehn Tagen schon plündern Scharen von Menschen Nacht für Nacht die Weinkeller, besaufen sich, schlagen sich gegenseitig mit Flaschen die Schädel ein, zerschneiden sich an den Glasscherben die Hände und wälzen sich wie die Schweine in Schmutz und Blut . . . Diebstahl und Plünderungen nehmen zu; schamlose Beamte lassen sich ebenso skrupellos bestechen wie früher die Beamten des zaristischen Regimes. Finstere Typen, die sich um den Smolnyj geschart haben, versuchen die eingeschüchterten Bürger zu erpressen. Die Brutalität der Vertreter der ,Regierung der Volkskommissare' wird allgemein beklagt, und das mit Recht."

Es ist ein Artikel von vielen und eine "andere Revolution", die hier beschrieben wird - eine andere, als wir sie aus Schul- und Geschichtsbüchern kennen. Hier stehen nicht die großen Ideen, die Auseinandersetzung zwischen Autokratie, Demokratie und Bolschewismus im Vordergrund; auch nicht die sozialen Bewegungen der Bauern, Arbeiter und Soldaten, ihre Interessen und Interessengegensätze, der "Eigensinn" ihrer Aktionen und die Rolle des Bürgertums; schon gar nicht die Fragen von Peripherie und Zentrum, Nationen und Religionen im riesigen Vielvölkerreich. Gorkis Ausgangsfrage war: Wo nimmt das Wort vom Proletariat als "Schöpfer einer neuen Kultur", der "Traum vom Triumph der Gerechtigkeit, der Vernunft, der Schönheit", "vom Sieg des Menschen über das wilde Tier und das Vieh" in Rußland wirklich Gestalt an? Und seine Antwort lautet: Was geschehe, sei "ein Sieg unserer Vertierung und vertieft weiter unsere Primitivität, an der wir bei lebendigem Leibe verfaulen". Zwar macht er an anderer Stelle die Vergangenheit, namentlich die Autokratie für die bestehenden Zustände verantwortlich: Diese habe seit einem halben Jahrhundert "die russische Jugend in Gefängnissen, Zuchthäusern und in der Verbannung vernichtet" und "die geistige Kraft vergeudet". Der Krieg habe erneut hunderttausenden junger Menschen das Leben gekostet, und die Revolution setze offenkundig "den Prozeß der Ausrottung der Jugend" fort. Doch für die Zukunft verheiße das nichts Gutes.

Es sind andere Episoden und Geschichten als bei Gorki, aber es ist das gleiche Bild von der anderen Revolution, der anderen Geschichte Rußlands, das von Catherine Merridale beschworen wird; auch sie lenkt den Blick nicht auf "Erfolge" und "Errungenschaften", sondern auf "Leiden und Sterben" in der russisch-sowjetischen Geschichte. Die Kapitel erzählen vom Tod und seinen Riten im vormodernen, orthodoxen, bäuerlichen Rußland und vom Zerfall dieser Welt im Zuge jener Reformen, die seit den 1860er Jahren auf den Weg gebracht worden waren; von Hungerkatastrophen, Typhus- und Choleraepidemien, die vor dem Ersten Weltkrieg das Land immer wieder heimsuchten, von den Pogromen, Demonstrationen, Streiks und Aufstandsversuchen, mit denen das Land auf die sozialen Mißstände reagierte, und von den Gewaltexzessen, mit denen der Staat zurückschlug; vom Leiden und Sterben in der Revolution, die sich - antiklerikal, atheistisch und wissenschaftsgläubig - neue Zeremonien und Riten, Märtyrer und Mythen schuf; von den vielen Millionen, die in Kämpfen, als Opfer von Terror oder Pogromen, an Hunger, Kälte oder Seuchen im Bürgerkrieg starben.

Die Darstellung setzt ihren Gang durch die sowjetische Geschichte fort mit einem großen Kapitel über jene Verwüstungen, die die Massenkollektivierung seit Ende der zwanziger Jahre, die ihr folgende große Hungersnot 1932/33, die Umsiedelung der "Kulaken" und die Zwangsansiedelung der Nomaden in Mittelasien über die Bevölkerung brachten; noch ihr demographischer Niederschlag in der Statistik schien der Führung so brisant, daß sie die Akten der Volkszählung von 1937 zur Verschlußsache erklärte und ihre Organisatoren erschießen ließ. Nicht minder düster ist das folgende Kapitel über das stalinistische Terrorsystem, über die Keller, Gefängnisse und Lager, in die man tatsächliche oder vermeintliche Gegner steckte, über Foltermethoden und anonyme Massengräber, in denen zehntausende von Repressionsopfern heimlich verscharrt wurden (und es bis zum Ende der Sowjetunion blieben). Davon brachte erst das Kriegserlebnis eine gewisse Entlastung, so schrecklich dieses vierjährige tagtägliche Leiden und Sterben für sich genommen war; der gemeinsam durchlittene Existenzkampf führte Partei und Gesellschaft enger zusammen, als es die Ideologie je vermocht hatte; doch die zweite Hälfte der achtziger Jahre und die neunziger Jahre enthüllten, daß es auch dazu eine andere, bisher verschwiegene Seite gab: Sie zeigten, daß das bisher gezeichnete Bild ein Konstrukt, geschönt und eklektisch, war und zur Wirklichkeit nicht nur Patriotismus und stoischer Heldenmut, sondern auch panische Furcht und Versagen, konkurrierende Identitäten, Mißtrauen der Führung gegenüber der eigenen Bevölkerung, Zynismus und ein menschenverachtender Einsatz von Soldaten gehörte.

Vier Kapitel berichten von der Nachkriegszeit: Sie erzählen, wie zunächst alle optimistischen Erwartungen, mit denen die Soldaten aus dem Krieg zurückgekommen waren, wieder begraben werden mußten, erneut eine Hungersnot weite Teile des Landes heimsuchte, erneut Fälle von Kannibalismus registriert wurden und die Erinnerung an die große Katastrophe von 1932/33 wachhielten, selbst wenn die sowjetischen Medien erneut kein Wort darüber verloren; wie erst der Tod Stalins - vom Land als Schock empfunden - den Weg für Reformen frei machte. Sie sprechen von einer neuen Generation sowjetischer Intellektueller seit Mitte der fünfziger Jahre, von ihrem "doppelten" Denken, Sprechen, Leben, von ihrer Stellung als Kultfiguren und ihrem Begräbnis (von Pasternak, der Achmatowa bis Wyssozki); von der Fortsetzung des Kampfes gegen die Religion; von den Afghanistan-Kämpfern und ihrer Marginalisierung in der sowjetischen Gesellschaft; von Tschernobyl und den Folgen; schließlich von Glasnost, den endachtziger und neunziger Jahren, mit der Wiederkehr der Vergangenheit, den Rehabilitierungen und Exhumierungen, der Gründung der Gesellschaft "Memorial", die sich Aufklärung und Gedenken zur Aufgabe machte, von der Indienstnahme der finsteren Vergangenheit durch die Nationalbewegungen.

Die Darstellung fügt Beobachtungen, Bilder, Szenen aneinander, lose aufgereiht am Band der Chronologie, zusammengehalten durch das Thema und Leitmotiv "Leiden und Sterben". Die Autorin verbindet dabei Bekanntes mit dem Ergebnis eigener Recherchen in den Archiven, Buchwissen mit den Eindrücken aus Einzel- und Gruppeninterviews. Wie Gorki bewegt sie die Frage, woher alles kam, wie die Vergangenheit die Gegenwart bestimmte und was sie für die Zukunft versprach; was aus den großen Verheißungen wurde, ob sie das Leben leichter, die Leiden erträglicher machten; mit welchen Opfern tatsächliche oder vorgebliche Erfolge erkauft wurden, selbst wenn man diese Opfer leugnete oder hartnäckig verschwieg; und wie eine Ideologie, die ganz auf das Diesseits angelegt war, mit der conditio humana, der Endlichkeit des Lebens, dem Tod, fertig wurde. Sie präsentiert kulturgeschichtliche Skizzen zu einem großen, unerschöpflichen Thema: zu Leiden und Sterben in Rußland - ohne etwas unbedingt "beweisen" zu wollen, ja im Grunde sogar ohne zentrale These. Sie bemüht sich darum, "den Toten eine Bedeutung zu geben". Ihnen, insbesondere den Opfern Stalins, ist dieses Buch auch gewidmet.

HELMUT ALTRICHTER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.08.2001

Nächte aus Stein
Ein Buch vom Leiden und Sterben in Russland
„Genossen”, schrieb das ZK-Mitglied Sergej Olminski 1924, „ich bin ein langer Verfechter der von der Partei vertretenen Bestattungsriten. Ich denke, alle Überbleibsel religiöser Praktiken (Särge, Begräbnisse, das Abschiednehmen vom Toten oder die Einäscherung und alldies) sind Unfug. Mehr gefällt mir der Gedanke an eine sinnvollere Nutzung meines Körpers. Er sollte ohne jeden Ritus zu einer Fabrik transportiert werden, um das Fett für technische Zwecke und den Rest als Düngemittel zu nutzen.”
Zu jener Zeit versuchten die Bolschewisten mit brachialer Macht, allem Totenkult ein Ende zu setzen; Kirchen wurden als Kornspeicher missbraucht, Ikonen als Bauholz benutzt. „Sie verarbeiteten sie zu Futtertrögen”, zitiert Catherine Merridale in ihrer großen Studie „Steinerne Nächte – Leiden und Sterben in Russland” einen alten Bauern. „Man beugte sich über den Trog und schreckte zurück... Christus oder die Heilige Jungfrau starrte einen an, mit strengen Gesichtern und großen Augen, die einen erschaudern ließen.”
Wie immer kommt das Verdrängte jäh zurück: Als Lenin im Jahr von Olminskis flammendem Plädoyer starb, wurde er nicht als Düngemittel weiterverwertet, sondern von der eigens dafür eingesetzten „Unsterblichkeitskommission” einbalsamiert wie ein ägyptischer Pharao. Die Sowjetmacht, die die Macht des Todes verleugnen wollte, hatte kurz darauf das Herz ihrer Hauptstadt, den Paradeplatz, in eine Grabstatt verwandelt. Die, die einst die Gräber von orthodoxen Heiligen aufgebrochen hatten, stellten ihre Leichen jetzt wie einen kostbaren Schatz aus. „Das atheistische Sowjetreich war auf den Gebeinen eines Heiligen errichtet worden, und es hatte das größte Mysterium seiner Ideologie, die Wissenschaft, eingesetzt, um seinem Leichnam die Unversehrtheit zu sichern.” So fasst Catherine Merridale den paradoxen Totenkult der atheistischen Sowjetführung zusammen.
Wie lebt man mit dem Tod, wenn die alten Riten verboten werden? Und wenn es ihn oftmals gar nicht geben darf? Um diese Fragen kreist die Untersuchung der britischen Historikerin, die zweieinhalb Jahre lang empirische Forschung betrieben hat: Sie sprach mit pensionierten Generälen des Zweiten Weltkriegs und Afghanistan-Veteranen, sie besuchte Psychiater, Historiker und Soziologen und traf ehemalige Gulaghäftlinge und Überlebende der Hungersnöte, die, unter anderem verursacht durch die brachiale Kollektivierung, Anfang der Dreißiger Jahre alleine in der Ukraine fünf Millionen Tote gefordert haben soll. Fünf Millionen Tote, die es Jahrzehnte lang nicht geben durfte. Ein Schwarzbuch der Erinnerung an die erdabgewandte Seite der Sowjetunion ist das Ergebnis, ein polyphones Gewirr aus Einzelerinnerungen und Lebenslügen, die zusammen eine düstere Chronik der Massengräber und Kriege, der Hungersnöte, Verschleppungen und vor allem der Verdrängung ergeben. Denn im Zentrum des Buches stehen das Schweigen und die Leere.
Die Geschichte der Sowjetunion begann schon mit einem weißen Fleck: Es gibt kein sowjetisches Nationaldenkmal für den Ersten Weltkrieg. Die Russen verloren in diesem Krieg mehr Menschen als alle anderen europäischen Mächte. Doch er wurde nicht zum Bestandteil der historischen Mythologie gemacht, sondern von der Sowjetgeschichte abgespalten, als letztes dunkles Kapitel der vorkommunistischen Zeit gesehen und aus der sowjetischen Geschichtsschreibung ausgeblendet. Catherine Merridale bat an die hundert Russen, ihr die drei verlustreichsten Kriege in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu nennen. Kaum einer nannte den Ersten Weltkrieg. Wenn sie ihn nannte, antwortete man ihr: „Oh, der.”
Als 1923 auf der Krim das neuropsychologische Zentrum „Roter Stern” eröffnet wurde, da schätzte der Schockexperte Alexej Preobraschenski, dass die jüngsten Kriege und Hungersnöte unter der russischen Bevölkerung viermal mehr psychische als physische Schäden verursacht hatten. Die bolschewistischen Funktionäre sahen das Forschungszentrum dennoch als dekadenten Schnickschnack an. Für das ZK-Mitglied Nikolai Bucharin zeugten die vielen Selbstmorde in jenen Jahren von einem „schwachen Willen und schwachen Charakter” und offenbarten einen „mangelnden Glauben in die Kraft und Stärke der Partei”. Das Krankenhaus wurde nach nur drei Jahren geschlossen.
Das Erschreckende ist nun, dass Merridale auch in den Neunziger Jahren noch allerorten auf Unverständnis stieß, wenn sie die Leute auf posttraumatischen Stress oder auf Folgen der Abspaltung der Katastrophen aus dem kollektiven Gedächtnis ansprach. „Trauma?” lachte sie ein Psychiater aus, der die schreckliche Belagerung von Leningrad überlebte, „wir wären froh gewesen, wenn wir genug zu essen gehabt hätten”.
Viele der Menschen, die jahrelang unschuldig im Gulag saßen, glauben noch immer diffus, zu Recht verschickt worden zu sein. Ihre Aussagen klingen wie ein fernes Echo auf Ossip Mandelstam, der in einem seiner letzten Briefe, nach einer Reihe von Verhaftungen, schrieb: „In alledem habe ich einen historischen Sinn gefunden ... Dafür hat man mich geschlagen. ich befinde mich in der Lage eines Hundes. Ich bin nur noch ein Schatten ohne eigene Existenz. Nur auf den Tod habe ich noch ein Recht.” Und nach zehn Jahren Glasnost glaubt selbst die russische Öffentlichkeit in großen Teilen noch an die Schuld der verurteilten Menschen. Wie aber sollen diese sich dann zu dem Erlittenen äußern?
Sicher, es gibt heute monumentale Gedenkstätten. Aber wie es James Young treffend formulierte: „Sobald wir dem Gedenken eine monumentale Gestalt geben, entbinden wir uns von der Verpflichtung zum Erinnern.” Märtyrerverehrung hat nichts mit Trauerarbeit zu tun. Auch arbeiten heute Gedenk-Organisationen wie Memorial die verdrängten Katstrophen auf, aber nach 70 Jahren Schweigen fehlt der russischen Öffentlichkeit in Merridales Augen immer noch der kollektiver Rahmen für eine Auseinandersetzung.Die Autorin hörte aus den Berichten ihrer Gesprächspartner immer wieder die alten Mythen und Lügen heraus, das Fortwirken alter Erklärungsmuster und Klischees. Alexander Block schrieb 1918: „Russland ist eine Sphinx, frohlockend, kummervoll und blutschwitzend.” Blocks Bild deutet eine Kontinuität über Jahrtausende hin an, eine genetische Prägung bis in die Urgeschichte hinein. Und es bestätigt sich aufs Unheimlichste, wenn heutige Historiker den Mythos vom Stoizismus der russischen Seele ventilieren, wenn Psychiater von der Furchtlosigkeit des Russen reden, und wenn vier Frauen Merridale im Zug nach Petersburg erklären, dass die Katastrophe nun einmal zum Russen gehöre wie der Wodka. Diese propagandistischen Versatzstücke über das russische Selbstverständnis sitzen, nach Merridale, „wie ein Splitter im russischen Hirn”.
Freilich ist an dem Buch auch zu studieren, welche Splitter noch immer im westlichen Hirn stecken. Merridale wird streckenweise von einer hermeneutischen Naivität getragen, die ans Groteske reicht: Man könne, schreibt sie, dem damaligen Befinden auf die Spur kommen, indem man sich einfach „unmittelbar in die Lage eines Sowjetbürgers der 30er Jahre versetzt”. Dennoch ist ihre Studie ein so großes wie düsteres Panorama und ein beeindruckendes Stück Erinnerungsarbeit.
ALEX RÜHLE
CATHERINE MERRIDALE: Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland. Karl Blessing Verlag, München 2001. 550 Seiten, Abb., 49 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Hoffentlich geht die Studie der in Bristol lehrenden Historikerin Catherine Merridale nicht in der Flut der Neuerscheinungen über die Katastrophen und das millionenfache Leid im Russland des letzten Jahrhunderts unter, sorgt sich Dietrich Geyer. Der Autorin schenkt der Rezensent seine volle Sympathie. Denn Merridales Untersuchung fußt weniger auf Aktenbeständen denn auf teilnehmender Beobachtung und persönlichen Gesprächen mit Experten, Opfern und deren Angehörigen, die sie in den Jahren 1997 und 1998 während eines ausgedehnten Russland-Aufenthalts interviewt hat, informiert Geyer. Und zwar nach Meinung des Rezensenten mit einem ungewöhnlichen und anrührenden Maß an Professionalität, Empathie und "beachtlichen" literarischen Qualitäten. Und ohne dass Merridale auf sozialpsychologische oder psychoanalytische Deutungsangebote unkritisch zurückgreife, denkt Geyer. Bei so viel Lob stört es den Rezensenten auch nur wenig, dass es der Studie an einer kohärenten Systematik mangelt. Was er aber leidlich vermisst, ist ein Sachregister. Den roten Faden muss sich der Leser streckenweise selbst erdenken, bedauert der Rezensent.

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