Produktdetails
  • Verlag: Henschel
  • ISBN-13: 9783894874377
  • ISBN-10: 3894874376
  • Artikelnr.: 10666832
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.09.2002

Der Kommunikator
Sir Simon Rattle in der erhellenden
Monografie von Nicholas Kenyon
Der Medienruhm, die Popularität des Mannes sind beängstigend. Denn Viele verbinden mit seinem Namen Hoffnungen. Er verkörpert ein Versprechen nicht nur für die Zukunft der Berliner Philharmoniker und des Berliner Musiklebens, sondern sogar für den Fortgang der Klassischen Musik in unserer Gesellschaft. So gleicht Simon Rattle eigentlich einem Symbol, einer Lichtgestalt, und ist doch „nur” der nach äußerst soliden Regeln fleißig arbeitende Kapellmeister, der, verglichen mit anderen Pultstars, sich auffallend menschennah verhält und sich sogar in die Karten blicken lässt. Da darf das Rattle-Buch nicht fehlen.
Der Londoner Musikpublizist Nicholas Kenyon hat seine Biografie schon 1987 veröffentlicht, sie jetzt erweitert, auf den neuesten Stand gebracht und sie von Maurus Pacher schlüssig ins Deutsche übersetzen lassen. Das Besondere an der ausgesprochen reichhaltigen, kommunikativen und darum authentisch wirkenden Darstellung ist die Tatsache, dass sie sich ausgiebig auf dokumentarisches Material, besonders auf Gespräche und Interviews mit Rattle selbst, stützt.
Kenyon lässt den Dirigenten auf meist kluge Fragen sehr lebendig, umstandslos, sogar unterhaltsam von seinem Werdegang, der konkreten Arbeit, dem Metier und seinem Umgang mit der Musik erzählen. Solche Originalton- Abschnitte – in kleiner Schrifttype die anderen Texte kontrapunktierend – sind rhythmisch geschickt über die einzelnen Kapitel des Buchs verteilt. Aber nicht nur sie, sondern noch viele andere Stimmen, Instanzen sozusagen, die zumal für Simon Rattles Karrierebeginn wichtig waren, sind der Monografie buchstäblich eingeschrieben, einmontiert nach Art der Collage.
Hierzulande kennt man etwa den britischen Dirigenten und Dirigierlehrer John Carewe kaum, der bei zwei Schönberg-Schülern (Walter Goehr, Max Deutsch), später bei Messiaen und Boulez studiert hatte. Rattles Karriere konnte er früh maßgeblich fördern, und so ist Carewe, der sich konsequent für die zeitgenössische Musik in England eingesetzt hat, ein erstes „Zwischenspiel” unter den zehn Kapiteln gewidmet.
Rattle selbst räumt ein, dass Boulez und die Schallplatten Furtwänglers zunächst wichtig für ihn waren, entscheidend jedoch sei die Begegnung mit Carewe gewesen: „Neunzig Prozent meines Wissens habe ich ihm zu verdanken.” Und Carewe erinnert sich im Gespräch, dass Rattle mit achtzehn zum erstenmal öffentlich – Mahlers Zweite – dirigiert und daraufhin stolz ihm den Mitschnitt mit dem Royal Academy Orchestra gezeigt habe. Er selbst habe Rattle das Ungenügen der Aufführung vor Augen geführt („der Mahler eines sehr jungen Mannes, sehr aufregend, aber zugleich sehr nichts sagend”). Was Carewe als Essenz seiner Unterrichtsmethode beschreibt, die er den Schönberg-Schülern verdankt, klingt einfach, ist aber das wichtigste: „Das Grundprinzip war, dass der Dirigent alle harmonischen und tonalen Folgen klar erfassen muss und dieses Wissen in die Organisation der Phrasierung, der Tempi und der Klangschattierungen umzusetzen hat.” Simon Rattle sei davon „völlig fasziniert” gewesen.
Zu so glänzenden Theoriefundamenten kam für Rattle früh die Praxis des Dirigierens. Zunächst mit den Stationen Liverpool und Bournemouth – im Alter von 25 wurde er in Birminham Chefdirigent – , mit auswärtigen Gastspielen, die deshalb rar blieben, weil Rattle immer überzeugt war, dass die Aufbauarbeit eines Chefdirigenten mit einem Orchester das kreativste aller Ziele sein muss. 18 Jahr lang blieb er in Birmingham.
Prophet der Klarheit
Zu den Stimmen, die sich zu Rattles Abschied von Birmingham 1998 vernehmen ließen, gehört die Hans Werner Henzes, der Rattle seit langem kennt. „Klarheit” der Musik sei das Wesentliche aller Rattle-Aufführungen: „In Birmingham wird die Musik mit Röntgenstrahlen durchleuchtet, so transparent ist sie, gleichzeitig entfaltet sie menschliche Dimensionen, strahlt menschliche Wärme, Beredtheit und Wahrhaftigkeit aus.” Kenyons Biografie ist voll solcher Stimmen. Sie gehorcht dabei gleichsam einer bogenförmigen Dramaturgie, beginnt mit dem Jahr 2000, Rattles Weg nach Berlin, und endet in Berlin. Für dies Finale bedient sich Kenyon der Feder des Berliner Publizisten Jörg Königsdorf, der ein Porträt der Musik- und Dirigentenstadt Berlin in Erwartung Sir Simons entwirft.
Was das Buch so leicht (lesbar) macht, ist seine Unterteilung in verschiedene Textsorten, Gesprächspartner, Sprachen. Und dazu gehören etwa auch tabellarische Übersichten, die Listen aller Komponisten und Werke, die Rattle in Birmingham aufführte, 18 Jahre lang – für jede Spielzeit ein eigener, rasch überschaubarer Kasten. Da lässt sich auf einen Blick absehen, was Simon Rattle in Birmingham tatsächlich präsentierte an Programmreichtum, an musikalischer Vielfalt. Und was Berlin und die Philharmoniker dort erwartet. Simon Rattle, der charismatische Musikkommunikator, dirigiert am heutigen Samstag sein erstes Konzert als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Im Zeichen von Rattles Glaubensbekenntnis, das der Biograf in einem Postscriptum versteckt hat. Auf die Frage, was „Ihr wirkliches Ich” sei, sagt Sir Simon lapidar: „Worum es geht, ist Freude. Es ist ein Feiern und gibt einem die Gewissheit, dass man nicht alleine ist.”
WOLFGANG SCHREIBER
NICHOLAS KENYON: Simon Rattle. Abenteuer der Musik. Deutsch von Maurus Pacher. Henschel Verlag, Berlin 2002. 335 Seiten, 25 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein faszinierendes Buch über einen faszinierenden Dirigenten ist dies für Wolfgang Schreiber. Simon Rattle, der zu einer Art "Lichtgestalt" für Berlin und die klassische Musik geworden sei, werde in der nun überarbeiteten Monografie von 1987 auf vielfach überraschende und überaus abwechslungsreiche Weise porträtiert, was Maurus Pacher zudem "schlüssig" ins Deutsche übersetzt habe. In einer abwechslungsreichen Mischung "verschiedener Textsorten, Gesprächspartner, Sprachen" werde Rattle hier dargestellt und komme auch selbst regelmäßig zu Wort, wobei sich Nicholas Kenyon vor allem auf dokumentarisches Material stütze. Dies alles mache das Buch nach Meinung Schreibers dankenswerterweise zu einer "erhellenden Monografie", die zu lesen sich lohne.

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