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Friedrich Rückert (1788-1866) galt vielen seiner Zeitgenossen als der bedeutendste Lyriker deutscher Sprache. Geblieben ist von diesem Ruhm nur wenig: Zumeist ist es die Vertonung der »Kindertotenlieder« durch Gustav Mahler, die die Erinnerung an seinen Namen wachhält. Auch das Verdienst des Gelehrten und Übersetzers, dessen meisterhafte Nachdichtungen nah- und fernöstlicher Lyrik der deutschen Sprache »einen Schatz geschenkt hat, den keine andere Sprache besitzt« (Annemarie Schimmel), ist nur noch wenigen Fachgelehrten gewärtig.In seinem Hauptwerk, dem monumentalen Lehrgedicht »Die Weisheit…mehr

Produktbeschreibung
Friedrich Rückert (1788-1866) galt vielen seiner Zeitgenossen als der bedeutendste Lyriker deutscher Sprache. Geblieben ist von diesem Ruhm nur wenig: Zumeist ist es die Vertonung der »Kindertotenlieder« durch Gustav Mahler, die die Erinnerung an seinen Namen wachhält. Auch das Verdienst des Gelehrten und Übersetzers, dessen meisterhafte Nachdichtungen nah- und fernöstlicher Lyrik der deutschen Sprache »einen Schatz geschenkt hat, den keine andere Sprache besitzt« (Annemarie Schimmel), ist nur noch wenigen Fachgelehrten gewärtig.In seinem Hauptwerk, dem monumentalen Lehrgedicht »Die Weisheit des Brahmanen«, verarbeitet Rückert in über 2700 Gedichten Anregungen aus der Hindu-Literatur und den Heiligen Schriften von Islam und Christentum sowie vielfältige Strömungen der abendländischen Philosophie.Zur »Schweinfurter Edition«:In einer von der Rückert-Gesellschaft initiierten und sorgfältig edierten Ausgabe wird unter der Herausgeberschaft Hans Wollschlägers und Rudolf Kreutners Rückerts Hauptwerk nun wieder zugänglich gemacht.Preis bei Abnahme der ganzen Reihe: EUR (D) 82,-; EUR (A) 84,30
Autorenporträt
Friedrich Rückert (1788-1866) ist heute oft nur durch die Vertonung seiner 'Kindertodtenlieder' durch Gustav Mahler ein Begriff. Dabei galt er seinerzeit als der bedeutendste Lyriker deutscher Sprache. Bekannt war er auch als Gelehrter und Übersetzer nah- und fernöstlicher Lyrik.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.1998

Das eine Eins ist hier, das andre Eins ist dort
Eine Bibliothek auf hundert Kamelen: Friedrich Rückert in einer neuen Ausgabe / Von Raoul Schrott

Es fehlte nicht an Kritikern, die ihm eine eigene Stimme absprachen, ihn abwechselnd trivialer Geschmacklosigkeiten oder Sprach- und Klangkünsteleien bezichtigten, ihm endlose, unaussprechlich langweilige Bände vorwarfen und ihm bei so gänzlichem Mangel an aller "Correctheit" rieten, die verfehlte Passion des Versemachens endlich einmal aufzugeben. Und auch das stimmte: Er war vom Schreiben, vom "Schön Schreiben" besessen, ein Kalligraph der Lyrik, wie ihn Hermann Hesse genannt hat. Ungerecht ist diese Kategorisierung nur dort, wo sie vergißt, daß dahinter eine unbändige Neugier steckte, eine Offenheit, der die Welt vor allem deshalb zum Stoff der Poesie wurde, weil sie letztlich nur dadurch auch individuell faßbar wird.

Als Friedrich Rückert im Jahre 1826 in Erlangen zum ordentlichen Professor für orientalische Sprachen ernannt wurde, hatte er eher einen Ruf als Verfasser patriotisch-geharnischter Lieder zu den Befreiungskriegen und als amouröser Feinspitz, der das Wirtsmädel, an das er seine Sonette richtete, fürs Publikum in "Amaryllis" umtaufte. Für die Werke, für die man ihn heute noch eher vom Hören als vom Sagen kennt, hat er zu seiner Zeit nur wenig Ruhm geerntet. Dazu gehören seine in Erlangen mit Müh und Not angenommene Habilitationsschrift, die Übertragung der "Makamen des Hariri", deren Sprachakrobatik die Virtuosität des arabischen Originals mit ihren Reimen, Rätseln und Wortspielen noch übertrifft, und die Übersetzungen der "Ghaselen" des Persers Rumi. Als Name geläufig ist Rückert vor allem durch seine "Kindertotenlieder", und dies auch nur deshalb, weil Gustav Mahler aus dem postumen Corpus von über dreihundert Liedern fünf vertonte. Ihr Anlaß war der Tod der Tochter Rückerts und eines seiner Söhne, die beide kurz nacheinander im Winter 1833/1834 an Scharlach zugrunde gingen. Die Erlanger Professur lag also in mehr als einem Sinn in der Hälfte des Lebens: dem Einschnitt im Privaten entsprach der Bruch seiner Arbeit in zwei, je nach Epoche konträr oder komplementär anzuschauende Gebiete.

"Lyrische Gedichte", schreibt Rückert, "sind kein gesuchtes Marktgut", und bietet seinem Verleger an, "hausbackene Lieder zu verfassen, soviel nur begehrt wird". Anders als Uhland konnte er vom Dichten allein nicht leben und schon gar nicht eine Familie durchbringen. In seiner festen Anstellung gelang ihm das aber auch eher schlecht als recht: "unser deutsch-griechisch-italienischer poetischer Künstlerkönig" - damit ist der Landesvater und Schirmherr der Universität Ludwig I. gemeint - "läßt einen armen abgedankten Poeten und notgedrungenen Orientalisten mit sechs Kindern hungern wie einen indischen Büßer. Es reißt mir nun wirklich die Geduld, und ich muß endlich ein ordentlich gelehrtes Werk loslassen, um mich bei der übrigen Welt zu melden." Nach mehreren Versuchen gelingt es ihm dann auch. Bei seinem fünfzigsten Geburtstag wird man den überaus lehrunwilligen Gelehrten als kompetenten Orientalisten ehren, der bei Hammer-Purgstall in Wien gelernt und renommierte Schüler ausgebildet hat, und ihn wenig später, zu Beginn der vierziger Jahre, an die Universität Berlin berufen. Zum anderen wird man dem publikumsscheuen Dichter attestieren, daß auf "Goethe Friedrich Rückert folgt. Diesen Ort und diese Ehre hat er nach vieljährigem Kampfe endlich errungen. Rückert erfreut sich in diesem Augenblicke einer ausgezeichneten Anerkennung, und es gibt eine große Anzahl rascher Freunde des herrlichen Mannes, die in ihm vorzugsweise den positiven Tröster finden gegen den Heinianismus und die ganze negative Gesellschaft."

Bei aller patriotischen Gesinnung Rückerts, die sich dann auch in Schriften des Vormärz zeigte, läßt sich Heine jedoch nur oberflächlich als Gegenfigur aufbauen. Wie dieser tritt er zwar das Erbe der Romantik und der Goetheschen "Kunstperiode" an, zwar nicht in Paris, der Hauptstadt der Revolution, sondern im Erlanger Orient der Poesie, was man ihm später als "kosmopolitisches Biedermeiertum" auslegen wird. Doch Rückerts Standpunkt ist nicht weniger konturiert. Er konnte so satirisch und zielgerichtet sein wie Heine, aber er hungerte nach fremder Literatur. Denn Wissen war für ihn kein akademisches Exerzitium, sondern Ausdruck eines überparteilichen Humanismus, den er für ein breites Publikum zu verkörpern suchte.

Zunächst verdiente sich der altphilologisch ausgebildete Rückert noch sein Brot als vergleichender Sprachwissenschaftler; er trieb Tag und Nacht seine Exegesen, um für eine Handvoll Hörer, die ihm weder Freude noch Aufmunterung gaben, ein leidliches Collegium über die Psalmen zu lesen. Er unterrichtete Arabisch, Persisch, Türkisch, Hebräisch, Äthiopisch, Russisch, Armenisch, Koptisch, Tamil, Telugu und Kanaresisch, um nur einige von einem halben Hundert zu nennen, Sprachen, die er sich, ähnlich wie Schliemann nach ihm, durch die Methode aneignete, "eine ganz längere Zeit" - er rechnete im Durchschnitt sechs bis acht Wochen dazu nötig - "sich nur diese eine Sprache vorzunehmen und ausschließlich in ihr zu leben". Da es zu seiner Zeit wie für die meisten anderen Sprachen auch weder Lehrmeister noch deutsche Lehrmittel gab, brachte er sich das Sanskrit durch eine englische Grammatik bei, ein englisches Wörterbuch, das er aus Geldmangel abschrieb, und durch das Epos "Mahabharata", das in einer Ausgabe vorlag, die dem Original eine lateinische Übersetzung beigab.

Als Professor sprach Rückert mit Kollegen: mit Friedrich Schlegel, den er schätzte, mit August Wilhelm Schlegel, den er haßte, mit August von Platen, der wie er selbst den Perser Hafis übersetzt hatte, mit Brentano, Chamisso, Schwab und Lenau, dem Philosophen Schelling und einem Universitätskollegen, der es zu Weltruf bringen sollte, dem Physiker Georg Simon Ohm. Ein umfangreiches Werk an einen Verleger in Frankfurt, Stuttgart oder Leipzig zu bringen gelang ihm in den ersten zehn Jahren seiner Professur nicht, obwohl er überall Übersetzungen des zweiten Teils der "Makamen", einer Sammlung arabischer Volksdichtung, einer chinesischen Anthologie oder von Sanskrit-Liedern anbot. Er merkte selbst allzu deutlich "die Vergeblichkeit meiner bisherigen Bemühungen ums Publikum mit meinen Zwitterarbeiten. Desto mehr muß ich nun mit etwas ordentlich Gelehrtem vorrücken". Doch auch dies, die streng wissenschaftliche Bearbeitung eines indischen Epos samt Fußnoten, Bibliographie und Anmerkungen, findet kein Interesse. Andererseits stoßen aber auch seine, wie gefordert hausbackenen "Neuen Lieder" auf kein nennenswertes Echo.

Und dann, nach diesen schwierigen Jahren, in denen ihm auch noch Schwester und Mutter sterben, trotz widrigster Umstände und vergeblichem literarischem Taktieren, bricht 1835 eine Arbeit aus, die in einem noch nie dagewesenen Furor, einem Furor poeticus und teutonicus, all dies in 2789 und einem Punkt bündelt (und in dieser Rechnung fehlen noch hundertsiebzig verstreute Gedichte, zweihundertzwanzig der Sammlung "Erbauliches und Beschauliches aus dem Morgenlande", außerdem die gut zweihundert der "Sieben Bücher morgenländischer Sagen und Geschichten" und die gut dreihundert der "Brahmanischen Erzählungen"):

"Ich schreibe seit einem Jahr und länger . . . lauter Bruchstücke eines Lehrgedichts. Möchte endlich eine schöpferische Begeisterung hineinfahren und das Chaos zur Welt, zu einem Ganzen machen... Ich habe einige Mappen voll zum Durchblättern; aber abschreiben, auch nur aussuchen kann ich nichts, sondern nur immer Neues schreiben. Es muß alles hinein, was ich eben lese: vor 8 Wochen Spinoza, vor 14 Tagen Astronomie, jetzt Grimm's überschwenglich gehaltreiche Deutsche Mythologie, alles unter der nachlässig vorgehaltenen Brahmanenmaske . . . Bruchstücke zu den berühmten Bruchstücken, in welche Bruchstücke mein Leben vollends aufgehen zu wollen scheint, in Brüche und Stücke, wie alles Leben."

Bleibt für die drei Jahre währende und gärende Arbeit noch die indische, orientalische und antike Literatur zu ergänzen, griechisch-römische und gegenwärtige Philosophie, die Bibel und der Koran, wissenschaftliche Literatur von Carl Ritters "Erdkunde im Verhältnis zur Natur und zur Geschichte des Menschen" bis hin zu den Schullehrbüchern seiner Söhne mit ihren mathematischen, physikalischen und astronomischen Gleichnissen, schließlich die moralischen Lesefrüchte von Plato bis Catull - alles, was damals zugänglich war -, aber auch Gedichte zum Tod seiner Mutter und Landschaftsimpressionen von einer Reise durch Tirol.

Dahinter steckt ein Programm, das schon Johann Gottfried Herders Spruchsammlung "Gedanken einiger Brahmanen", Friedrich Schlegels "Über die Sprache und Weisheit der Inder" noch vor Rückerts "Weisheit des Brahmanen" verrieten: "Die jetzige Lage Indiens ist von der Art, daß es gewissermaßen den Mittelpunkt der Welt, der asiatischen zumal ohne Widerrede, ausmacht. Neben der einheimischen mannichfaltigen Überlieferung in Wort und Werk hat sich dahin gerettet der Rest des alten Parsismus; eben dahin hat seine Überschwemmung ergossen der Islam mit allen seinen Sekten und ihren Schriftschätzen; dahin endlich ist seit Jahrhunderten das germanische Europa gesegelt."

Dieses Indien, das symbolisch älter noch als Delphi oder Jerusalem gesetzt wird, gilt als ein Ursprung kultureller Breiten und Längen, von dem aus die Erde einmal einheitlich überschaubar war. Damit wird es für die deutschen Dichter in der Epoche vor 1848 zu einer Utopie ganz eigener Art. Ihnen bietet dieses Indien einen imaginären Ort, in dem die einzelnen intellektuellen Bemühungen einen Schnittpunkt finden sollen, eine Zentralperspektive, unter der sich die ganze Vielfalt dessen, was sich als Kultur in Deutschland behauptet, einordnen läßt. Denn wenn die Jahre um 1800, in denen Rückert aufwuchs, eines zeigen, dann das Bemühen um eine eigenständige Nationalliteratur, deren Anspruch und Ästhetik erst auszuarbeiten war, für und gegen das Publikum, mit didaktischem Eifer von Gottsched bis Schiller, mit der Goetheschen Verachtung alles Provinziellen. Und Provinz war Deutschland in Europa auch zu Rückerts Zeiten noch.

Es war zersplittert in Protektorate mit ihren Zöllen und Zensuren, der Buchhandel als Markt bot kaum ein Korrektiv dazu, und die Diskussion um eine "Hochdeutsche Mundart" zwischen Adelung, Wieland und Voß lag noch nicht lange zurück. Der deutsche Hang zur Abgrenzung von und Identifikation mit den Nachbarn und ihren Traditionen zeigte sich in einem philologischen Eifer erstaunlichen Ausmaßes. Englische und französische Poetiken wurden abgehandelt, dann der romanische Raum entdeckt, man begann die griechische Antike Winckelmanns abzutragen, bis der orientalische Horizont dahinter binnen weniger Jahre vor Augen kam, und in der Ferne schließlich auch Indien - als Projektionsfläche für das eigene Land.

Schon in seiner Dissertation hatte Rückert behauptet, daß dem Deutschen vorrangig die Fähigkeit zukomme, alle fremden Idiome in sich aufzunehmen und wesensgerecht wiederzugeben - zusammen mit der Goetheschen Forderung nach Weltliteratur wurde folglich auch die Eingemeindung alles Fremden ebenso missionarisch wie eigennützig betrieben. Durch diesen Deckmantel wiederum, und das war wohl ausschlaggebend, ließ sich auch die eigene poetische Arbeit legitimieren - indem man sie überhöhte und so aus den gesellschaftlichen Animositäten heraushob.

Rückert hat seine "Weisheit des Brahmanen", diese abendländisch-deutsche Summa summarum einer Epoche, unter der nur "nachlässig vorgehaltenen" Maske eines Weisen vorgelegt, hinter der bald sein eigenes Gesicht zum Vorschein kam:

Fortsetzung auf der folgenden Seite

der Dichter und Gelehrte, der sich seines Adressaten nie sicher ist und seine Alexandriner schließlich für seine Söhne schreibt, um sie in ihrer Welt-Anschauung zu unterrichten - was manches, längst aber nicht alles am Tonfall erklärt. Das Publikum schließlich respektierte und akzeptierte das Werk; in den dreißig Jahren bis zu seinem Tod wurden zehntausend Stück wenn schon nicht gelesen, dann doch verkauft - und schließlich vergessen.

Rückert hat seine Sammlung von Bruchstücken ein "Lehrgedicht" genannt und damit ein doppeltes Paradoxon inszeniert; denn kein Gedicht unterrichtet von etwas im Sinne einer Lehre, und das Lehrgedicht als solches, als eigene Gattung, existierte nur noch im Schatten einer großen Tradition. Diese Zäsur ist um so einschneidender, als seit Menschengedenken alles in Verse gebracht worden war, was der mündlichen Überlieferung wert schien, da es so auch memorisierbar wurde: gleichgültig ob Wissenschaft, Philosophie, Ethik oder Geschichte, von Hesiod über die Vorsokratiker, Lukrez und Manilius, mathematische Abhandlungen in Indien oder Gesetzestexte in Irland, bis hin zu Angelus Silesius' "Cherubinischem Wandersmann", dessen Sinnsprüche Rückerts unmittelbares Vorbild waren.

Doch spätestens seit dem Streit um Dantes "Divina Comedia", von der man nicht wußte, wie sie einordnen, ob als Gedicht oder als Lehre, mit dem Abschied von der Vorstellung einer durchgeistigten Natur, mit der Entstehung der empirischen Wissenschaft, verlor das Lehrgedicht auch seine eigentliche Legitimation. Es wurde vom Vehikel, bei dem sich faktische Erkenntnis und humane Einsicht zu einem Ganzen verband, zu einer Art von moralischem Kommentar, in dem sich der Kreis nicht mehr schloß. Rückerts "Weisheit des Brahmanen" steht zu seiner Zeit bereits isoliert und janusköpfig da.

Eine Lehre nach den heutigen Vorstellungen von in sich geschlossener Empirie und folgerichtigen Gedankengebäuden hat das Gedicht nie vertreten. Im Gegenteil: diese Art von Philosophie zu hintergehen, darin lag immer schon der Verrat der Dichter. Durch einen Zeitgenossen ist uns überliefert, daß Rückert "niemals eigentlich philosophische Studien trieb, vielmehr eine gewisse Abneigung vor aller abstrakten Spekulation empfand und sogar ernsthaft böse werden konnte, wenn man ihn im Gespräch zu tief dahinein verflechten wollte".

Rückert schreibt zu Beginn seines Lehrgedichts: "Wenn du erkennen kannst, wievielfach ist das Eins, / Fällt mit der Vielheit ein die ganze Welt des Scheins. (. . .) Das eine Eins ist hier, das andre Eins ist dort, / Die tauschen unter sich den Namen und den Ort. (. . .) Im Spiegel ist dein Bild, du selber aber bist / Nur dessen Spiegelbild, der Aller Urbild ist". In diesen Reflexionen einer sich immer wieder aufs neue entziehenden Welt ist das Gedicht ein improvisiertes Konstrukt, eine Hypothese des Blicks, abhängig von den Diagonalen der Sprache und des Denkens. "Wer Schranken denkend setzt, die wirklich nicht vorhanden, / Und dann hinweg sie denkt, der hat die Welt verstanden. // Als wie Geometrie in ihren Liniennetzen / Den Raum einfängt, so fängt sich selbst das Denken in Gesetzen". Was gesetzt wird, ist im Anspruch auf eine human erschließbare Vollständigkeit der Welt nur immer das eigene Ich, gewissermaßen rückbezüglich. In dieser Hinsicht ist Rückerts Sammlung von Fragmenten einer Wirklichkeit durchaus zu Recht so vollkommen maßlos im Bemühen, alles zu erfassen, um einen eigenen Mittelpunkt zu konstruieren. Daß er daran scheitert, auch nur das Buch in eine geordnete Form zu bringen, wie er in seinen Briefen bekennt, ist deswegen auch alles andere als ein Makel - gerade das offen ausgearbeitete Scheitern macht diese Gattung von Gedichten erst aus; ihr Sinn liegt im ausgreifenden Kontrastieren, nicht im Konstatieren letzter Dinge.

Die "Digestion der Brahmanen Weisheit" überließ Rückert deshalb dem befreundeten Professor Kopp, der die Arbeit schwieriger als gedacht fand. "Warum? Weil ihr Herrn Poeten nicht logisch, sondern analogisch denkt. Ein Wort gibt das andere heißt es bey Euch; ein Gefühl das andere. Ihr singt und dichtet demgemäß, und springt leichten Fußes von einem Gebiet ins andere lustig und wohlgemuth, erhebt und erleuchtet auf diese Weise. Allein der Lehrweg, den wir Didaktiker gehen, läßt keine solche Sprünge aus Natur in Gnade, aus Physik in Ethik ppp zu, sondern will überall nur die gerade Fährte einhalten. Wenn ich hiernach ordnen wollte, etwa unter Gott, Religion, Pflanzenleben, Tierleben, Natursymbolik u.s.w., so müßte ich manche Stücke weit auseinander bringen". Rückert antwortete ihm darauf: "Mir wollte es immer nicht ein, daß sie sich unter so abstrakte Titel sollten rangiren lassen. Halte nur fest den gefundenen Faden des analogischen Denkens, und ordentlich darnach mehr oder minder einzelne gefällige Gruppen, mit Ausscheidung des Störenden und Müßigen; niemand als Du kann eine erfreuliche Welt aus diesem Chaos entfalten".

Auch der letzte Satz ist bezeichnend: die Dramaturgie einer humanen Sinnsetzung hat andere Kriterien als die einer Explikation, die in ihrer Konsequenz ins Leere führt. Kopp baute das Lehrgedicht darum in Stufen auf, von der "Einkehr" über "Stimmung" und "Kampf" zu "Schule" und "Leben", mit "Prüfung" und "Erkenntnis" im Zentrum, zu "Weltseele", "Dämmerklarheit" und dem "Todtenhügel" bis zu "Im Anschauen Gottes"; die Auswahl endet mit dem "Frieden", zwölf Bücher, wie schon bei Goethes "West-östlichem Divan".

Eine moderne Kritik wird noch nicht bei dieser Symbolik einer Apotheose einsetzen und auch nicht bei der Vielzahl von Sinnsprüchen, Maximen und Lebensregeln, die schon das erste griechische Lehrgedicht, Hesiods "Werke und Tage", prägten. Was einem dagegen quer im Mund liegt, ist die Grundform des Zweizeilers, die ausnahmslos die Gedichte konstituiert. Rückert bietet, in eine orientalische Parabel gekleidet, den Grund für die Wahl dieser Form dar: Ein König zieht aus, seine ganze Bibliothek auf hundertundein Kamel geladen, und weil ihm das zu umständlich wird, läßt er von hundertundeinem Weisen Auszüge machen und aus diesen wieder den Auszug eines Büchleins, das ihm aber immer noch lästig wird. Er bittet sie schließlich, das ganze auf einen Spruch zu reduzieren, um "seines Reichs zu walten" - ein Spruch, der ihm aber nichts nützt, weil er ihn nicht selbst gezogen hat; die Moral der Geschichte ist, "daß aus dem Bücherwust / Du machen für dein Heil solch einen Auszug mußt". Legitimiert wird Rückerts weise Spruchsammlung überdies durch die Bedeutung des Wortes "bráhman" in Sanskrit - "poetische Formel; angemessene Form". In ihr war, in den indo-europäischen Anfängen der Dichtung und ihrem religiösen Kontext, die ganze Macht des Wortes begriffen. In ihrer Eigenart lag die Wahrheit beschlossen; deshalb durfte ihre spezifische Wortfolge nicht manipuliert, mußte sie unverändert weitergegeben werde. Die Formelhaftigkeit der Sprache war Beleg des Magischen und kodierte durch ihre Einprägsamkeit eine ganze Weltsicht; sie bot ein Sprachraster dar, das von den Merseburger Zaubersprüchen bis hinauf zu den Stabreimen von "Haus und Hof" und "Kind und Kegel" oder in der Werbung auch heute noch produktiv ist.

Doch Rückerts Poesie ist auf gnadenlose Art gereimt. Rhythmus und Assonanz, die den alten Formeln etwas unterschwellig sich Festsetzendes, letztlich Unauslotbares gaben, wechselt Rückert gegen das Metronom ein und den reinen Reim in all seiner aufdringlichen Plattheit - für den er überdies oft genug auch noch die Eindrücklichkeit der normalen Wortstellung opfert. Er reduziert damit bewußt seine Distichen zu bloßen Sprichwörtern, deren erste Zeile eine Frage aufwirft, auf welche die zweite sofort die gereimte Antwort parat hat, und das ein für allemal - was eher den Eindruck eines inhaltlichen Kurzschlusses als eines poetischen Syllogismus erweckt.

Am Ende des Buches, das der Poetologie gewidmet ist, kommt er selbst auf den Bruch mit den antiken Versmaßen zu sprechen: "Warum mit Reimen euch, und schweren Reimen quälen? Wär' es, ihr Dichter, nicht genug die Silben zählen? // (. . .) Der Künstler aber sei gelobt, der fühlt und wägt, / Was seine Zeit von Kunst bedarf und was verträgt; // Der ihr nichts bietet, was sie nicht verträgt, nichts weigert, / Was sie bedarf, und nicht ihr falsch Bedürfnis steigert". Mit dieser Didaktik aber schaut er seiner Zeit aufs Maul und zögert doch gleichzeitig zwischen anbiedernder Gefälligkeit und elitärem Außenseitertum: "Du klagst, unmöglich sei fürs Volken zu dichten heut. / Wann aber hat des Volks die Dichtkunst sich erfreut? // Selbst in der schönsten Zeit der Kunst ward dargeboten / Doch ihre Gabe nur Hellenen, nicht Heloten. // Nun sind verschmolzen zwar Heloten und Hellenen, / Doch immer weiht die Kunst nur diesen sich, nicht jenen". Zu Buche zu schlagen aber ist diese Ausrichtung an den niederen Ständen bei gleichzeitiger Identifikation mit dem Geistesadel nicht nur Rückert allein - obwohl es unter seinen Zeitgenossen weniger kompromißbereite Haltungen gegeben hat -, sondern im selben Maß auch einem Deutschland zwischen zwei Epochen.

So läßt sich Rückerts "Weisheit des Brahmanen" als Zeitdokument oder Lehrgedicht, als Selbstbiographie oder moralische Bibel lesen (die ihre Fortsetzung in seinem "Leben Jesu" von 1839 fand). Zum Vademecum exzerpieren muß man sich die neu erschienene zweibändige Ausgabe jedoch selbst. Der Band legt den gesamten ursprünglichen Gedichtcorpus in zwanzig Kapiteln vor; er ist sauber ediert, mit einem umfangreichen Quellen- und Manuskriptverzeichnis und einem Nachwort versehen, das sich auf das unbedingt Notwendige beschränkt. "Nach der Auffassung der Herausgeber", heißt es dort, "daß kritische Ausgaben vor allem textphilologische Pflichten haben, nicht aber Sammelbecken für ausschweifende Nacherzählungen von Lexikon-Artikeln oder ins Abseitige ausgreifende Sekundärliteraturen sein sollten, sind als unerläßlich nur solche Erklärungen verstanden, die dem unmittelbaren Verständnis der Dichtung helfen; ferner wird allgemeines Bildungsgut, dessen Fehlen zum Verzicht auf Literaturlektüre dieser Art überhaupt bewegen sollte, stillschweigend vorausgesetzt". Womit wiederum etwas über Hellenen und Heloten, damals wie heute, gesagt ist - auch in einem übertragenen Sinn.

Der schale Beigeschmack von Ignoranten hier und Eingeweihten dort, der einem auf der Zunge bleibt, ja überhaupt von gelehrten Disziplinen auf der einen und lyrischen Elefenbeintürmen auf der anderen Seite, hat mit der Stimme der Poesie nichts zu tun. Denn wenn es ihr um eines gehen kann, dann darum, sich Zugriff auf die einzelnen Segmente des Denkens verschaffen zu können, um eine menschliche Summe unterschiedlichster Arten der Erkenntnis zu formulieren. Diese Weltaneignung durch und in der Sprache hat Rückert wie eigentlich nur Goethe vor ihm und noch niemand nach ihm verkörpert.

Friedrich Rückert: "Die Weisheit des Brahmanen". Ein Lehrgedicht in Bruchstücken. Historisch-kritische Ausgabe. Bearbeitet und herausgegeben von Hans Wollschläger und Rudolf Kreutner. Wallstein Verlag, Göttingen 1998. Zwei Bände. 1115 S., geb., 198,- DM; Bis 31. Dezember 1998 Subskr.-Preis 168,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Der Band ist in der vom Markt wie von der Wissenschaft nicht gerade dringend erwarteten Gesamtausgabe der Werke des weitgehend vergessenen Dichters Friedrich Rückert der ersterschienene. Die Herausgeber halten große Stücke ("sein Hauptwerk") auf das mit gereimten Gedanken zur Lebensweisheit angefüllte Gedichtkonvolut - der Rezensent Rolf Vollmann ist freilich denkbar weit davon entfernt, ihnen darin zuzustimmen. Auf den 1000 Seiten mit nicht weniger als 3000 Gedichten hat er wenig Labendes gefunden, vereinzelt nur, der Gesamteindruck aber, da nimmt er weiß Gott kein Blatt vor den Mund, ist der einer "fast fabelhaften Langweiligkeit". Nicht weniger deutlich spricht er, noch einmal, von der "entsetzlichen Weisheitswüste", durch die er hindurch musste, zitiert wird - da muss man wohl dankbar sein - nichts.

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