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Produktdetails
  • Verlag: Espresso
  • Seitenzahl: 219
  • Abmessung: 200mm
  • Gewicht: 242g
  • ISBN-13: 9783885207702
  • ISBN-10: 3885207702
  • Artikelnr.: 23959650
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.01.2001

Unbelehrbar trotz alledem
Die Vertriebenenverbände sind auch noch Jahrzehnte nach dem Krieg ein Auffangbecken für Ewiggestrige
SAMUEL SALZBORN: Grenzenlose Heimat. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenverbände, Espresso-Verlag, Berlin 2000. 219 Seiten, 29,80 Mark.
Erde ist das elementarste Heimatsymbol. In einem Katalog für Weihnachtsgeschenke offerieren rechte Gruppen in Acryl-Kästen verpackte „deutsche Heimaterde” aus Danzig, Westpreußen und Pommern. Wir mögen den Kopf schütteln, aber vielen Vertriebenen gefällt’s. Die Vertriebenenverbände sind nach wie vor eine wichtige pressure group in der Bundesrepublik. Bekanntlich wird der Status des Vertriebenen über Generationen vererbt; so gibt es beispielsweise nicht nur „Geburts-Schlesier”, sondern auch „Bekenntnis-Schlesier”. Dass manch einer von ihnen heute noch meint, im ehemals deutschen Schlesien seien die Polen nur „Gäste”, ist ein Skandal. Das unsägliche Gerede von „Mitteldeutschland” als Bezeichnung für die ehemalige DDR provoziert nachgerade die Frage, wo denn, bei so viel Mitte, Ostdeutschland sein mag.
Umsiedlung mit Zwang
Das 20. Jahrhundert war nicht allein das Zeitalter der Diktaturen, sondern ebenso eines der gewaltsamen Vertreibung von Menschen aus ihrer angestammten Heimat. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges begann eine Vertreibungswelle, die bis dahin unvorstellbar gewesene Ausmaße annahm. Etwa 40 bis 50 Millionen Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben, und besonders in Osteuropa hat der vom „Dritten Reich” entfesselte Krieg ungeheure Bevölkerungsverschiebungen ausgelöst. Flüchtlingsströme, Evakuierung und Zwangsumsiedlung waren Teil der deutschen Kriegsführung; ein „antibolschewistischer Menschenwall” sollte die Front der Wehrmacht stabilisieren. Auf jeden der 12 bis 15 Millionen deutschen Vertriebenen nach 1945 kamen zwei andere in osteuropäischen Ländern.
Der Autor Samuel Salzborn untersucht in seinem Buch die Vernetzung der Vertriebenenverbände mit dem Parteiensystem und mit rechtsextremen Organisationen. Dabei bemüht er sich, den Vertriebenenverbänden einen rechtskonservativen Geschichtsrevisionismus nachzuweisen. Zu Recht. Aber warum pflegt er selbst einen linken Geschichtsrevisionismus? Immer wieder spricht er von „Umsiedlung” statt von Flucht und Vertreibung. Die Verwendung dieses DDR-Jargons ist unangemessen und läuft allen seriösen Forschungen zuwider. Man kann auch ein kritisches Buch über die Politik der Vertriebenen schreiben, ohne menschliches Leid und die Schreckenserfahrungen derer zu leugnen, die auf der deutschen Seite die Rechnung für den nationalsozialistischen Krieg bezahlen mussten.
Die Vertriebenenverbände sind aus der Geschichte der Bundesrepublik nicht wegzudenken. In den 50er Jahren waren die Heimattage millionenfach besuchte Manifestationen, um den Gedanken an einen gesamtdeutschen Nationalstaat am Leben zu halten. Nur wenige Deutsche zweifelten damals, dass der „Tag X” der Wiedervereinigung, und zwar in den Grenzen von 1937, bald kommen werde. Kaum jemand wollte sich mit der Oder-Neiße-Grenze abfinden. 1954 veröffentlichte selbst die seriöse Wochenzeitung „Die Zeit” eine große Serie „In Ostpreußen heulen die Wölfe. Ein Bericht aus unseren (!) Ostgebieten”. Die Deutschen pochten lautstark auf ihr historisches „Recht auf Heimat”. Aber für das Ausland war dies nicht überzeugend, denn wer während des Nationalsozialismus jedes Recht mit Füßen getreten hatte, dem stand es nicht zu, aus der Geschichte Rechtsansprüche abzuleiten.
Dennoch, so paradox es klingt: Innenpolitisch wirkten die Vertriebenenverbände beruhigend, weil sie den nationalpolitischen Protest kanalisierten. Wirtschaftsdynamik und Lastenausgleich verhinderten, dass in der Bundesrepublik ein aggressiver Revanchismus entstand. Solche Zusammenhänge entgehen Salzborn allerdings vollständig, der leider häufig schiefe Urteile zur Zeitgeschichte fällt. Seine Verwunderung darüber etwa, dass es nicht nur in der CDU, sondern auch in der SPD Arbeitskreise für Vertriebenenfragen gab, ist schlichtweg naiv. Bis Mitte der 60er Jahre sahen die Vertriebenen, wenn sie nicht zum BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) tendierten, in der SPD ihre Partei. Was sollten sie mit Adenauers „antinationaler” Westpolitik auch anfangen? Die SPD hielt immerhin den Primat der Wiedervereinigung hoch; noch auf dem Parteitag von 1964 prangte hinter der Rednertribüne ein großes Plakat mit Deutschland in den Grenzen von 1937, dem Porträt von Kurt Schumacher und dem markigen Spruch „Verzicht ist Verrat”.
Neuanfang mit Willy
Mit der Neuen Ostpolitik ab 1969 änderte sich alles. Während die einen Wege aus der Sackgasse beschritten, blieben die anderen darin gefangen. Die Sozialliberalen wurden des nationalen „Verrats” bezichtigt. Die Vertriebenenverbände schlugen die Hand zur Aussöhnung aus, eine große Chance war vertan. Die Politik der Verbände verhärtete sich, aus dem „Kampf um Heimat” wurde oft ein völkischer Partikularismus, die Verbände erstarrten zu einem Relikt des Kalten Krieges.
EDGAR WOLFRUM
Der Rezensent ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte in München.
Sudetendeutsche präsentieren die Wischauer Tracht aus dem einstigen Mähren. Und fordern „ein Recht auf Heimat”.
Foto: AP
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ziemlich unausgewogen findet der Rezensent Edgar Wolfrum, Dozent für Geschichte, Samuel Salzborns Buch über Vertriebenverbände. Er widerspricht zwar nicht dessen Einschätzung, dass es sich bei diesem Verbänden um rechtskonservative, revisionistische Vereinigungen handelt. Was ihn stört, ist, dass der Autor denselben Fehler macht, indem er einen "linken Geschichtsrevisionismus" verfolge, das menschliche Leid der Vertriebenen verleugne und die daraus resultierenden politischen Motivationen anprangere, ohne sie in den politischen Kontext der Bundesrepublik zu setzen. So findet Wolfrum zum Beispiel des Autoren Bewertung der Vertriebenenpolitik der SPD etwas naiv. Durch diesen undifferenzierten Ansatz entstehen "häufig schiefe Urteile zur Zeitgeschichte".

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