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Philippe Soupault war 1938 von Léon Blum, dem ersten sozialistischen Premierminister Frankreichs, beauftragt worden, in Tunis eine Radiostation aufzubauen, Radio Tunis, um der Propaganda der italienischen Faschisten, die über Radio Bari Nordafrika erreichte, etwas entgegenzusetzen. Tunesien war damals französisches Protektorat. Der Überfall Hitlers auf Frankreich 1940 und die Besetzung Frankreichs und das damit verbundene Vichy-Regime unter Marschall Pétain hatten daher auch Folgen für Tunesien. Der Antifaschist Soupault wurde umgehend seines Postens als Direktor von Radio Tunis enthoben. 1942…mehr

Produktbeschreibung
Philippe Soupault war 1938 von Léon Blum, dem ersten sozialistischen Premierminister Frankreichs, beauftragt worden, in Tunis eine Radiostation aufzubauen, Radio Tunis, um der Propaganda der italienischen Faschisten, die über Radio Bari Nordafrika erreichte, etwas entgegenzusetzen. Tunesien war damals französisches Protektorat. Der Überfall Hitlers auf Frankreich 1940 und die Besetzung Frankreichs und das damit verbundene Vichy-Regime unter Marschall Pétain hatten daher auch Folgen für Tunesien. Der Antifaschist Soupault wurde umgehend seines Postens als Direktor von Radio Tunis enthoben. 1942 wurde er denunziert, im März wegen Hochverrats verhaftet und in das Gefängnis von Tunis gebracht. Im September 1942 wurde er in die vorläufige Freiheit entlassen und konnte zusammen mit seiner Frau Ré am 13. November 1942 von Tunis nach Algier fliehen, bevor am nächsten Tag die Stadt von den Nazi-Truppen unter Marschall Rommel besetzt wurde. »Die Zeit der Mörder« ist ein außergewöhnlichesZeitdokument, in dem der Autor seine Mitgefangenen, seien es gewöhnliche Kriminelle oder Widerstandskämpfer, porträtiert, über die Demütigungen und Erniedrigungen berichtet, die sie Tag für Tag erleiden müssen. Er beschreibt den Gefängnisalltag, wird zum Vertrauten der Gefangenen, die es seltsam finden, dass er Bücher liest. In seinem Bericht steckt seine ganze Verachtung für das faschistische Regime und deren menschenverachtendes System. »Die Zeit der Mörder« ist eine Zeitkapsel von besonders erschreckender Aktualität. Vom Autor schon 1945 in den USA veröffentlicht, konnte der Bericht erst 2015 in Frankreich publiziert werden.
Autorenporträt
Philippe Soupault, geboren 1897 in Chaville bei Paris, lernte 1917 über Apollinaire André Breton kennen. Zusammen mit Breton und Louis Aragon war er Initiator der surrealistischen Bewegung, entzog sich jedoch schon bald deren Gruppenzwang, um eigene Wege zu gehen. Er wurde Verleger und Herausgeber von Zeitschriften. In den dreißiger und vierziger Jahren arbeitete Soupault als Journalist, später war er UNESCO-Beauftragter und Radio-Produzent. Am 12. März 1990 starb er in Paris. Seit 1981 publiziert der Verlag eine Soupault-Werkausgabe.

Sabine Müller, geb. 1959 in Lauffen/Neckar, Studium der Germanistik, Philosophie, Pädagogik in München, Erlangen und Bonn. Übersetzt Belletristik und Wissenschaft aus dem Französischen und Englischen, u.a. Andrei Makine, Cecile Wajsbrot, Erik Orsenna, Philippe Grimbert, Annie Leclerc, Alain Mabanckou. Zahlreiche Stipendien des Landes Baden-Württemberg, des Deutschen Übersetzerfonds und der Berliner Übersetzerwerkstatt, 2011 Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2017

Die verriegelte Tür
In Frankreich lange unpubliziert: Die Erinnerungen Philippe Soupaults an seine Haft in Tunis im Jahr 1942
Philippe Soupault hat mit seinem Roman „Der Neger“ eines der eigenwilligsten Bücher des französischen Surrealismus geschrieben. Doch so ganz lässt sich der 1897 bei Paris geborene, individualistische Sohn eines Arztes und Großgrundbesitzers dem Surrealismus nicht zurechnen, schon weil es darin, folgt man einigen seiner Ideologen, gar keine Romane geben darf. Als Louis Aragon und André Breton immer dogmatischer kommunistisch wurden, schlossen sie Soupault 1927 sogar feierlich aus. Sie lagen richtig. Zwar hatte Soupault mit der Entdeckung der fantastischen Bilderwelten des Comte de Lautréamonts viel für die Bewegung des Surrealismus getan, aber ihren Wortführern ordnete er sich nicht unter.
Das hat nichts mit politischem Desinteresse zu tun. 1938 wird Soupault, schon lange auch Journalist, von Léon Blum, dem Präsidenten der Volksfront, mit dem Aufbau von Radio Tunis und der Leitung des dazugehörigen Presse- und Informationsdienstes beauftragt. Er soll einen antifaschistischen Gegenpol zu den Propaganda-Sendern Mussolinis schaffen. Schnell populär hält Radio Tunis viele Hörer davon ab, die täglich drei arabischsprachigen Sendungen zu verfolgen, die Goebbels’ Radio Berlin ab Herbst 1939 ausstrahlt.
Doch das den Nazis gegenüber unterwürfige Vichy-Regime entmachtet Soupault. Am Abend des 12. März 1942 wird er vor seinem Haus in der Altstadt von Tunis schließlich verhaftet: „Ich hatte schon den Schlüssel zur Eingangstür aus meiner Tasche geholt, als mich ein Individuum von der Eleganz eines Filmgangsters, flankiert von zwei Schattengestalten, seinen Knechten, fragte: ,Sind Sie Monsieur Soupault?’ Dabei hob er das Revers seines Jacketts, um mir seine Polizeimarke zu zeigen.“
Die Gangster-Polizisten finden nichts, nur Manuskripte, die viel zu dick sind, als dass sie sie lesen würden. Sie sagen, Soupault werde „nur als Zeuge befragt“, weil er mit dem Agenten einer ausländischen Macht in Verbindung stehe. Er wird in eine Zelle gebracht. Tage später konfrontieren die Vichy-Polizisten ihn mit H., dem Sohn seines ehemaligen Sekretärs. Einem, so Soupault, jungen, großsprecherischen Angestellten der Getreideverwaltung, der stolz ist, einen Schriftsteller zu kennen, den er einmal zu viel erwähnt hat.
Soupault bleibt sechs Monate in Haft. Das ist, wie er in seinem Vorwort schreibt, verglichen mit dem, was in jener Zeit sonst geschah, lächerlich wenig. Aber auch ein paar Monate Gefängnis verändern einen Menschen, wenn er nicht weiß, dass er nach einem halben Jahr entlassen wird. Das manchmal etwas pathetische Vorwort Soupaults ist nicht der überzeugendste, aber auch kein typischer Teil des Buches. Ansonsten sind diese Gefängniserin-
nerungen, die 1945 in den USA publiziert wurden und erst im Jahr 2015 in Frankreich erschienen sind, von einem lakonischen Sarkasmus durchzogen: „Marschall Pétain und seine Komplizen, über deren weitere Verantwortung die Geschichte
richten wird, forderten ruchlose Männer auf, die Methoden der Nazis nachzu-
ahmen (…).“
Soupault versucht, die Welt dieser Zeit zu verstehen, ob außerhalb oder im Gefängnis, wo er sich in Selbstbeobachtung übt: „Die verriegelte Tür, die unüberwindlichen Mauern, die undurchdringliche Nacht, die Wärter, die Vorschriften, das Rasseln der Schlüssel: Demütigungen, deren Gift man nicht ausscheiden kann. Die Demütigung ist eine Farbe, ein Lied, ein Geruch, eine Berührung, plötzlich ist sie da und durchdringt einen in jeder Sekunde, fließt mit dem Blut durch die Adern, formt Knochen und Nervenbahnen.“
Fünfundvierzig Tage lang bleibt Soupault in Einzelhaft, fühlt sich wie von der Pest befallen. Aber er versucht, die Situation in Auszeichnung umzumünzen: „Ich hatte nur das Recht, allein zu sein. Und ich war stolz, allein zu sein. Ich hütete mich davor, mit den Aufsehern zu sprechen. Und ich achtete darauf, nicht zu lächeln.“ Er beobachtet seine Mithäftlinge, ein besonders unangenehmer Zeitgenosse mit „kreischender, harter und böser Stimme“ entpuppt sich als beeindruckender Landschaftskenner, der Soupault die Farben und Gerüche seiner Jugend nahebringt, „das Licht in den Weinbergen, die Farbe der Hügel“, „ohne falsche Nostalgie.“ Umso überraschender, dass derselbe Mensch Soupault schreckliche Träume erzählt. Er verfolge die Leute, die er hasse, er habe „immer die Hände voller Blut.“ Er lauere ihnen auf, um sie zu erschrecken, und wenn er dazu brülle, wache er selber auf.
Als Soupault vorläufig entlassen wird, weil ihm nichts Konkretes nachgewiesen werden kann, beobachtet der „freie Häftling“ unnachgiebig die Kollaborateure, deren Zahl immer größer wird: „Die Nazis rekrutierten Nacheiferer. Die Ansteckung war beträchtlich. Nachbarn denunzierten ihre Nachbarn. Die Anzeigen waren nicht einmal mehr anonym. Manche rühmten sich, dass sie regelmäßig Briefe an die Polizei schrieben. Natürlich widerte es mich an, als ich feststellte, wie weit die Zersetzung innerhalb von sechs Monaten fortgeschritten war. Eine große Zahl von Menschen wälzte sich eifrig im Schlamm.“ Daneben gab es diejenigen, „die einfach nur Angst hatten“, und, am anderen Ende, jene, die „stolz und glücklich waren, die ‚nationale Revolution‘ zu unterstützen.“
Nach seinem Gefängnisaufenthalt bleibt Soupault, zusammen mit seiner Frau Ré, der ehemaligen Bauhausschülerin Meta Erna Niemeyer aus Pommern, in Tunis. Ré hat dort ihre mittlerweile berühmte Fotoreportage über die Prostituierten von Tunis gemacht. Auch Soupault will nicht weg. Doch die Gerüchte verdichten sich. Er erhält einen Hinweis, der Einmarsch der Truppen Rommels stehe unmittelbar bevor. Die beiden verschwinden mit dem letzten Bus, der Tunis in Richtung Algier verlässt. Am Tag danach übernehmen die Deutschen. Soupault bleibt beinahe ein Jahr in Algerien, dann geht er, mit Ré zusammen, in De Gaulles Auftrag nach Süd- und Mittelamerika, um dort eine neue Nachrichtenagentur aufzubauen.
HANS-PETER KUNISCH
Philippe Soupault: Die Zeit der Mörder. Erinnerungen aus dem Gefängnis. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Verlag das Wunderhorn, Heidelberg 2017. 411 Seiten, 28 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Soupault soll mit Radio Tunis
einen Gegenpol zur
Propaganda Mussolinis schaffen
Soupault blieb zunächst in
Tunis, nachdem er aus der
Haft entlassen worden war
Das Jahrhundert in den Knochen: Philippe Soupault 1980 in Paris.
Foto: imago/Leemage
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»Ein großartiges Panorama verschiedenster Charaktere, die alle das Eine vereint, nämlich die Sehnsucht nach Freiheit« WDR 3 Peter Urban-Halle »Im Zentrum dieser Erinnerungen steht nicht das verachtenswerte Regime (...) im Mittelpunkt steht der einzelne Häftling und die Frage, was die Dunkelheit, die Langeweile, die Unselbständigkeit mit einem Menschen macht. Wie der Charakter sich verändert durch die Demütigungen, die jeder Gefangene aushalten muss.« Deutschlandfunk Kultur, Manuela Reichart »Freunde und Kollegen sitzen im Gefängnis. Da braucht man eine Ahnung von den Prüfungen der Gefangenschaft. Soupault leistet das.« taz, Brigitte Werneburg