Die hier versammelten Essays kreisen u.a. um die Frage nach der Möglichkeit von Literatur über den Holocaust und um die Nützlichkeit von Literatur überhaupt.»Wir können nicht menschlich sein, ohne in uns die Fähigkeit zum Schmerz, auch die zur Gemeinheit wahrgenommen zu haben. Aber wir sind nicht nur die möglichen Opfer der Henker: Die Henker sind unseresgleichen. Wir müssen uns auch noch fragen: Gibt es nichts in unserem Wesen, das so viel Entsetzliches unmöglich macht? Und wir müssen uns wohl die Antwort geben: tatsächlich, es gibt nichts. Tausend Hindernisse stellen sich in uns dem entgegen ... Trotzdem ist dies nicht unmöglich. Wir sind also nicht bloß zum Schmerz, sondern auch zur Raserei des Folterns fähig.«
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.07.2008Im Schatten der Gewaltdebatten
Erniedrigung und Schwäche: Wiederentdeckte Schriften französischer Denker liefern aktuelle Stichworte
An möglichen Anwendungsgebieten für hoch abstrakte Theorieprodukte französischer Herstellung mangelt es derzeit nicht. Der Dalai Lama spricht von einem „kulturellem Genozid” in Tibet, Hamas und andere Terrorgruppen werfen die Verhandlungen über einen eigenständigen Staat Palästina immer wieder dann durch Bombenanschläge zurück, wenn eine Einigung sich abzuzeichnen beginnt. Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten” und auch der Fall Amstetten haben die Frage nach Ursache und Ursprung der Gewalt im Einzelnen neu aufgeworfen. Angesichts solch archaisch anmutender Eruptionen des Grauens könnte dies also eigentlich der richtige Zeitpunkt sein, sich wieder anthropologisch der „Archäologie der Gewalt” und philosophisch der Konstellation von „Henker und Opfer” zuzuwenden.
In den zwischen 1969 und 1977 entstandenen Aufsätzen, die jetzt erstmals auf Deutsch vorliegen, deutet der französische Ethnologe Pierre Clastres (1934-1977) den Ethnozid als „systematische Zerstörung der Lebens- und Denkweisen von Leuten”, die sich von denen der Täter unterscheide. So werde der Geist eines Volkes getötet. Für Clastres ist die abendländische Zivilisation und die aus ihr hervorgegangene Staatsmaschinerie schon in ihrem Inneren ethnozidär veranlagt. Sie enthalte den Willen zur Reduzierung der Differenz und Andersartigkeit und bevorzuge das Gleiche und Eine. Die Ursache dafür sei letztlich der Kapitalismus. Dieser mache es unmöglich, diesseits einer Grenze zu verbleiben, da er immer weiter nach vorn flüchte – und dabei alles mit sich reißt. Interessanterweise verbucht der Schüler von Claude Lévi-Strauss die gewaltsame Praxis des Staates als Ausdruck seiner Schwäche. Die Gewalt gegen Minderheiten habe ein Ende, wenn der Staat sich nicht mehr in Gefahr sieht. Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit und Sicherheitsgarantien etwa für den Iran oder Nordkorea ließen sich so begründen.
Entmachtung des Subjekts
Im Weiteren ergeht sich Clastres jedoch in einer kruden Quasi-Apologie der Kriege primitiver Stammesgruppen, die dadurch „ihr Sein selbst bewahren” und die Entstehung eines Staates verhindern wollten. „Die Gemeinschaft will bei ihrem ungeteilten Sein verharren” und verhindere deswegen, dass sich mit dem per se schlechten Staat eine „vereinheitlichende Instanz vom gesellschaftlichen Körper abtrennt”, wäre doch sonst die Teilung in Herr und Knecht unabdingbar. Dieser ethno-strukturalistischer Ansatz erhellt heute im besten Fall das Machtkalkül terroristischer Gruppen und deren Versuche, den nation-building-Bemühungen entgegenzuwirken. Die deklaratorische Verdammung des Staates hat dagegen etwas merklich Verstaubtes an sich. In Anbetracht des pluralen Verfassungsstaates, der Minderheiten heute ja gerade zu schützen weiß, mutet die pauschale Ablehnung der Staatsform an sich kontraproduktiv an.
Georges Batailles Reflexionen über „Henker und Opfer” suchen nach einem anderen Zugang zur Gewaltfrage. Phasenweise lesen sich die 1947 entstandenen Aufzeichnungen wie ein ferner Kommentar zum Drama im niederösterreichischen Verlies von Amstetten. Die Schmerzen, die Menschen widerfahren, wirken weniger beunruhigend, solange gemeinsam und einhellig gegen sie vorgegangen werde, wie etwa bei Naturkatastrophen. „Erniedrigung, Schande und Schwachheit”, die allmählich das „Bollwerk der Vernunft” zerstören, treffen uns viel stärker. Bataille will trotzdem in die Abgründe der Seele blicken, denn es sei die Kenntnis des möglichen Schmerzes, die menschlich mache.
Mit abstrakten Theoremen, wie etwa Clastres’ Strukturalismus, sei das Entsetzliche, jenseits eines Normalzustandes, nicht zu entdecken. Oft könne nur die Feigheit eine Grenze der Grausamkeit sein, aber für diese Feigheit gebe es keine Grenze. Damit klingt von ferne das theoretische Zentrum der Philosophie Batailles an, die Entmachtung des Subjekts und die Erfahrung von ekstatischer Grenzüberschreitung. Der dünne Band ermöglicht aber kaum mehr als einen assoziativen Einblick in das Surrealismus, Psychoanalyse und Soziologie verbindende Werk.
Bataille steht unter dem Einfluss der rational nicht mehr greifbaren Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Das Subjekt ist entmachtet – und gerade deswegen zu allem fähig, bis hin zum Handwerk des Henkers im Konzentrationslager. Bei Clastres sind eine Generation später die omnipotenten und alles determinierenden „Strukturen” an dessen Stelle getreten. Jan Philipp Reemtsmas hat dagegen in seiner in diesem Jahr veröffentlichten großen Studie „Vertrauen und Gewalt” das Selbstzweckhafte der Gewalt ins Zentrum gestellt, das auf die Zerstörung des Körpers des Opfers abzielt und dabei den Wunsch nach absoluter Macht zu erfüllen versucht. Die Gewaltdebatte wird sich in den kommenden Jahren wohl eher an diesem Erklärungsansatz orientieren. LUTZ LICHTENBERGER
GEORGES BATAILLE: Henker und Opfer. Mit einem Vorwort von André Mason. Matthes & Seitz Verlag, Berlin, 2008, 96 Seiten, 10 Euro.
PIERRE CLASTRES: Archäologie der Gewalt. Aus dem Französischen von Marc Blankenburg, Diaphanes Verlag, Zürich, 2008, 125 Seiten, 18,90 Euro.
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Erniedrigung und Schwäche: Wiederentdeckte Schriften französischer Denker liefern aktuelle Stichworte
An möglichen Anwendungsgebieten für hoch abstrakte Theorieprodukte französischer Herstellung mangelt es derzeit nicht. Der Dalai Lama spricht von einem „kulturellem Genozid” in Tibet, Hamas und andere Terrorgruppen werfen die Verhandlungen über einen eigenständigen Staat Palästina immer wieder dann durch Bombenanschläge zurück, wenn eine Einigung sich abzuzeichnen beginnt. Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten” und auch der Fall Amstetten haben die Frage nach Ursache und Ursprung der Gewalt im Einzelnen neu aufgeworfen. Angesichts solch archaisch anmutender Eruptionen des Grauens könnte dies also eigentlich der richtige Zeitpunkt sein, sich wieder anthropologisch der „Archäologie der Gewalt” und philosophisch der Konstellation von „Henker und Opfer” zuzuwenden.
In den zwischen 1969 und 1977 entstandenen Aufsätzen, die jetzt erstmals auf Deutsch vorliegen, deutet der französische Ethnologe Pierre Clastres (1934-1977) den Ethnozid als „systematische Zerstörung der Lebens- und Denkweisen von Leuten”, die sich von denen der Täter unterscheide. So werde der Geist eines Volkes getötet. Für Clastres ist die abendländische Zivilisation und die aus ihr hervorgegangene Staatsmaschinerie schon in ihrem Inneren ethnozidär veranlagt. Sie enthalte den Willen zur Reduzierung der Differenz und Andersartigkeit und bevorzuge das Gleiche und Eine. Die Ursache dafür sei letztlich der Kapitalismus. Dieser mache es unmöglich, diesseits einer Grenze zu verbleiben, da er immer weiter nach vorn flüchte – und dabei alles mit sich reißt. Interessanterweise verbucht der Schüler von Claude Lévi-Strauss die gewaltsame Praxis des Staates als Ausdruck seiner Schwäche. Die Gewalt gegen Minderheiten habe ein Ende, wenn der Staat sich nicht mehr in Gefahr sieht. Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit und Sicherheitsgarantien etwa für den Iran oder Nordkorea ließen sich so begründen.
Entmachtung des Subjekts
Im Weiteren ergeht sich Clastres jedoch in einer kruden Quasi-Apologie der Kriege primitiver Stammesgruppen, die dadurch „ihr Sein selbst bewahren” und die Entstehung eines Staates verhindern wollten. „Die Gemeinschaft will bei ihrem ungeteilten Sein verharren” und verhindere deswegen, dass sich mit dem per se schlechten Staat eine „vereinheitlichende Instanz vom gesellschaftlichen Körper abtrennt”, wäre doch sonst die Teilung in Herr und Knecht unabdingbar. Dieser ethno-strukturalistischer Ansatz erhellt heute im besten Fall das Machtkalkül terroristischer Gruppen und deren Versuche, den nation-building-Bemühungen entgegenzuwirken. Die deklaratorische Verdammung des Staates hat dagegen etwas merklich Verstaubtes an sich. In Anbetracht des pluralen Verfassungsstaates, der Minderheiten heute ja gerade zu schützen weiß, mutet die pauschale Ablehnung der Staatsform an sich kontraproduktiv an.
Georges Batailles Reflexionen über „Henker und Opfer” suchen nach einem anderen Zugang zur Gewaltfrage. Phasenweise lesen sich die 1947 entstandenen Aufzeichnungen wie ein ferner Kommentar zum Drama im niederösterreichischen Verlies von Amstetten. Die Schmerzen, die Menschen widerfahren, wirken weniger beunruhigend, solange gemeinsam und einhellig gegen sie vorgegangen werde, wie etwa bei Naturkatastrophen. „Erniedrigung, Schande und Schwachheit”, die allmählich das „Bollwerk der Vernunft” zerstören, treffen uns viel stärker. Bataille will trotzdem in die Abgründe der Seele blicken, denn es sei die Kenntnis des möglichen Schmerzes, die menschlich mache.
Mit abstrakten Theoremen, wie etwa Clastres’ Strukturalismus, sei das Entsetzliche, jenseits eines Normalzustandes, nicht zu entdecken. Oft könne nur die Feigheit eine Grenze der Grausamkeit sein, aber für diese Feigheit gebe es keine Grenze. Damit klingt von ferne das theoretische Zentrum der Philosophie Batailles an, die Entmachtung des Subjekts und die Erfahrung von ekstatischer Grenzüberschreitung. Der dünne Band ermöglicht aber kaum mehr als einen assoziativen Einblick in das Surrealismus, Psychoanalyse und Soziologie verbindende Werk.
Bataille steht unter dem Einfluss der rational nicht mehr greifbaren Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Das Subjekt ist entmachtet – und gerade deswegen zu allem fähig, bis hin zum Handwerk des Henkers im Konzentrationslager. Bei Clastres sind eine Generation später die omnipotenten und alles determinierenden „Strukturen” an dessen Stelle getreten. Jan Philipp Reemtsmas hat dagegen in seiner in diesem Jahr veröffentlichten großen Studie „Vertrauen und Gewalt” das Selbstzweckhafte der Gewalt ins Zentrum gestellt, das auf die Zerstörung des Körpers des Opfers abzielt und dabei den Wunsch nach absoluter Macht zu erfüllen versucht. Die Gewaltdebatte wird sich in den kommenden Jahren wohl eher an diesem Erklärungsansatz orientieren. LUTZ LICHTENBERGER
GEORGES BATAILLE: Henker und Opfer. Mit einem Vorwort von André Mason. Matthes & Seitz Verlag, Berlin, 2008, 96 Seiten, 10 Euro.
PIERRE CLASTRES: Archäologie der Gewalt. Aus dem Französischen von Marc Blankenburg, Diaphanes Verlag, Zürich, 2008, 125 Seiten, 18,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Georges Batailles Zugang zur Gewaltfrage liest sich für Lutz Lichtenberger wie ein "ferner Kommentar" zum Fall Amstetten. Lichtenberger eröffnet der schmale Band mit den Texten von 1947 Abgründe der Seele. Obgleich der Rezensent darin auf zentrale Themen des Autors, wie die Entmachtung des Subjekts und die Erfahrung von Grenzüberschreitung stößt, verhilft ihm der Band nur zu einem "assoziativen Einblick" in das interdisziplinäre Werk Batailles. Zudem fällt es Lichtenberger schwer, die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs als eine für den Autor prägende Erfahrung nachzuvollziehen. Zeitgemäßer erscheint ihm da Jan Philipp Reemtsmas These von einer sich selbst genügenden Gewalt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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