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Produktdetails
  • Verlag: Nicolai Berlin
  • Seitenzahl: 129
  • Deutsch, Englisch
  • Abmessung: 295mm
  • Gewicht: 964g
  • ISBN-13: 9783875840964
  • ISBN-10: 3875840968
  • Artikelnr.: 09810802
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2001

Wartezeit nicht unter Jahrzehnten
Wie der Fotograf Arno Fischer in der DDR um ein Buch kam

Wer die Wirklichkeit festhalten will, braucht nicht unbedingt eine Kamera, aber der Blick auf ein Foto kann hilfreich sein, um das Empfundene als wirklich zu erkennen. Für die Kultur eines nicht mehr existenten Landes bedeutet der Blick auf die Bilder seiner Vergangenheit Einsicht in die Gegenwart. Die toten Seelen haben ihr Leben in der Erzählung. Sie ist der Transport der ungestalteten Visionen und ihrer ungelebten Utopie. Arno Fischers Bilder, denen ein grundlegender sozialanalytischer Gestus eignet, sind ein Teil davon.

Das bekannteste Bild des Fotografen hat keinen Titel außer Orts- und Zeitangabe: "Müritz, 1956". Menschen, von der breiten hölzernen Brüstung eines Landungsstegs gerahmt, halten Ausschau; aneinander vorbei, wartend wie fixiert von einem leeren Horizont. Ihre Blicke begegnen sich erst außerhalb des Bildes, Richtung unendlich. Ein Schwarzweißquartett wie bei Hopper oder Beckett. Fischers Foto vom Ufer der Müritz und seine Berlin-Fotografien reihen sich - wie Burris deutsche Bilder, wie Doisneaus Pariser Tableaus, wie Franks "Les Américains" - zur Ikonographie der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts; sie gehören zur bleibenden Bildwelt des lang anhaltenden Nachkriegs, der mit dem Mauerfall in seine letzte Phase trat und nun im Status quo der Bundesrepublik verklingt.

Berührend, fast betäubend die Erfahrung, daß diese Bilder mehr Gegenwart reflektieren, als man selbst wahrgenommen hat. Das ist Ausweis ihrer Qualität über Trends und Epochen hinaus. Die frühen Bilder Fischers zeigen Trümmermenschen, dann Wohlstand und Restauration im Westen der Stadt, Demonstrationen im Osten. Der Fotograf faßt es so: "Im Westen Kapitalprotz, im Osten Politprotz." Er wohnte im Osten der Stadt, seine Sympathie galt dem neuen Gesellschaftsmodell, das er jedoch zunehmend mit Abstand besah und nur gelegentlich noch fotografierte.

Was die Vertreter der jeweiligen Klasse, Schicht, Staatsangehörigkeit im Blickwinkel des Fotografen eint, ist ihre Position am Rand des Geschehens. Sie sehen zu. Der starre Blick des Bannerträgers einer Landsmannschaft reiht ihn, der dazugehören will, unter die Objekte der Geschichte, an den Rand. Der zu Boden geneigte Blick des alten Mannes unter Fahnen am 1. Mai in der ostdeutschen Hauptstadt rückt auch ihn, der im Zentrum steht, an den Rand.

Was aus den Berlin-Bildern, die Fischer zum Komplex "Situation Berlin" vereinte, vereinzelt in Anthologien und Ausstellungen zu sehen war, ließ sich die DDR-Zeit lang als Gegenwartsbeschreibung lesen. Das Bild vom Riß in der Hauswand: Der Riß zieht sich längs über die unverputzten Steine, durch den Mann, der sich aus dem in die Brandmauer geschlagenen Fenster wie aus der Schießscharte beugt. Unten stand Fischer, seinen Sohn an der Hand, vergeblich wartend, daß der Mensch im Fenster verschwindet, und hat schließlich mit der Linken geknipst. 1953 aufgenommen, wurde das Bild fünf Jahre später mit dem Abdruck in "U.S. Camera" Fischers Einstand in der internationalen Fotografie.

Die zwischen 1952 und 1960 entstandenen Bilder aus "Situation Berlin" geben, chronologisch geordnet, nur allmählich die Gesichter frei, aus denen sich die Blicke lösen. Das Bild mit der Frau am unteren Bildrand: ein Torso, der sich aus dem Trümmerfeld entfernt, hinter ihr der institutionelle Hinweis, daß der tote Ort bewacht wird, Grund ist Gold. Die Parade der Zeitgenossen auf der Trümmerbalustrade, Kronprinzenpalais Unter den Linden am 1. Mai 1956: Gesichter eines anderen Jahrhunderts, Mienen, Profile, von den Brüchen der Epoche geprägt, Figuren wie aus dem Panoptikum geschnitten, festgehalten in Phasen des Hinschauens und Wegsehens, in der Geste der Betrachtung. Die letzten Bilder, bevor der Osten sich seinen Druckverband mauert, bevor West-Berlin zum weißen Fleck für die Ostsicht wird. Strenge Gesichter, selten gelöst. Blicke, die den des Betrachters unvermittelt auf sich ziehen, Blicke, die zugleich aus dem Bild führen. Im Westen eher zielgerichtet, zweckorientiert; im Osten öfter abwesend, ins Unbestimmte gerichtet.

Die Komposition der Bilder, wie überschneidend vielschichtig sie auch ist, hat ihren Akzent auf der Erzählung. Die Welt war überschaubar, sie sollte es bleiben. Immer wieder Paar-Konstellationen, Menschen, sich aneinander vorbei begegnend für den Augenblick des Fotografen. Momente der Unordnung, Fluchten und Flüchtiges, die Situation aus dem Fluß der Dinge gelöst. Die Vereinzelung der Paare auf dichtestem Raum; im Autoscooter auf dem Rummelplatz, dem Anschein nach ohne jedes Vergnügen, geschlossenen Auges, vielleicht im konzentrierten Traum vom wirklichen Wagen; das Paar in der Mitropa-Gaststätte, vor geleerten Gläsern, Mann und Frau in der Pose der Resignation, vom Gebrauch der leeren Hände unterstützt; sein Blick führt aus dem Bild, vielleicht zur Tür; die Augen seiner Partnerin sind nach unten, vielleicht nach innen gerichtet.

Immer wieder die Haltung der Betrachtenden, aufgenommen durch das Objektiv des Beteiligten, der aus der Menge kommt und in der Menge geht. Der Mensch im Bild macht seinen Schwerpunkt aus. Fischer zeigt den Blick des Flaneurs, der mit dem Moment des Auslösens entscheidet, was den Spuren an Aura belassen wird, die uns bleibt. Im Osten steht mehr Raum für die Hoffnung jenseits der Trümmer, mehr Tageslicht; im Westen Klischee und Reklame, deren Leuchtzeichen sich mit der Dunkelheit entfalten. Die Situationen rasen voneinander fort, auf die Mauer zu, an der auch "Situation Berlin" als schon gedruckter Bildband scheitern sollte.

Ostdeutsche Anekdote, der Vorgang ist überliefert: Herbstmesse in Leipzig, die Großprojekte der Verlage werden ausgestellt. Bei der Edition Leipzig ist es "Situation Berlin", eine Vorzeigepublikation für den Export. Die staatliche Abnahmekommission passiert unter Leitung des Außenministers im Rundgang die Produkte. Streift am Verlagsstand vorbei, in dem Fischers Ost-West-Bilder zu sehen sind und der, wie sich zeigen sollte, unheilvolle Titel. Ein Funktionär der unteren Kategorie, im Nachsetzen: Genosse Minister, Berlin ist doch keine Situation!? Bolz, der Minister, über die Schulter: Situation? Nee. Ach ja, dann macht das mal weg! Die Bilder hatte im Vorbeigehen niemand näher betrachtet, die Texte niemand gelesen, und womöglich war mit "Wegmachen" nur das vorlaute Spruchband gemeint. September 1961, der Mythos um einen Fotografen war geboren, die Legende um ein nie erschienenes Buch, um einen Bilderzyklus, der, immer wieder neu geordnet, als "Original" nicht existiert.

Die oft unheimliche Nähe Fischers, mit dem 35-Millimeter-Objektiv mehr im als am Ort seiner Arbeit, läßt uns von Beobachtern zu Teilnehmenden werden. Auffallend das Filmische im nichtinszenierten Geschehen, verstärkt durch die Körnung des Materials. Alles wirkt fließend, plastisch, der Schatten spielt mit. Er erinnert an die Geburt der Fotografie aus dem Bedürfnis, die Welt zu erkennen, schwarz oder weiß. Vilém Flusser beschreibt die Geste des Fotografierens als die des "phänomenologischen Zweifels"; für die fotografische Sichtweise gibt es keinen "richtigen" Standpunkt, sie ist anti-ideologisch. Ein Augenblick der Wahrheit, die so nicht gesehen werden muß, sich aber so mitteilt. Die Situation. Das Stück Existentialismus im Titel der Sammlung entspricht der gegenläufigen Bewegung innerhalb der Stadt zu dieser Zeit. Nach der Implosion des Staatsgebildes DDR (dem die Explosion des Rahmens gefolgt ist, Teile fliegen immer noch herum oder sind als Blindgänger gelandet) sind die Bilder von der Interpretationslast befreit. Sie lassen sich, fünfzig Jahre nach ihrer "Entstehung", als autonome Licht-Texte betrachten, die von Menschen in Vorgängen und Zustand erzählen. Sie speichern Zeit und Geschichte, der Name ihres Autors ist im kollektiven Gedächtnis gelöscht.

Brecht schrieb: "Der ,Urheber' ist belanglos, er setzt sich durch, indem er verschwindet." Jetzt kehrt der Urheber, Jahrgang 1927, zurück.

Der von Ulrich Domröse herausgegebene Band "Arno Fischer. Situation Berlin. Fotografien 1953 - 1960" ist gerade im Nicolai Verlag, Berlin, in Zusammenarbeit mit der Berlinischen Galerie erschienen. Er hat 130 Seiten, ist gebunden und kostet 58 Mark.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Wolfgang Kil berichtet ausführlich von der Vorgeschichte zu diesem Bildband. 1961 bewarb ein DDR-Verlag auf der Leipziger Messe seinen Stand mit Fotografien aus einem geplanten Bildband über die "Situation Berlin". Der Fotograf hieß Arno Fischer und war jahrelang in beiden Teilen der Stadt unterwegs gewesen. Kurz darauf wurde die Mauer hochgezogen - die "Situation Berlin" war perdue, der Bildband auch. Er ist nie publiziert worden. Nun sind 40 Jahre später zwar die Fotografien neu erschienen, aber in neuer Anordnung und ohne die damals flankierenden ideologischen Texte, Zeugnisse des Kalten Krieges. Dadurch bekommt der Bildband, so sehr Kil sein Erscheinen ansonsten begrüßt, für ihn etwas Versöhnliches; schwerer vermittelt sich nun auch die Härte des damaligen politischen Klimas, findet er. Die Bilder selbst sind in seinen Augen großartig und René Burris fast zeitgleich erschienenen "Deutschen" sowie Robert Franks "Les Américains" ebenbürtig.

© Perlentaucher Medien GmbH