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Produktdetails
  • Verlag: Peter Hammer Verlag
  • 1998.
  • Seitenzahl: 624
  • Deutsch
  • Abmessung: 250mm
  • Gewicht: 1410g
  • ISBN-13: 9783872947871
  • ISBN-10: 3872947877
  • Artikelnr.: 07260935
Autorenporträt
Jürgen Reulecke, Dr. phil., ist emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Sprecher des Sonderforschungsbereichs 434 »Erinnerungskulturen«. Forschungsschwerpunkte: Generationengeschichte, Geschichte von sozialen Bewegungen sowie von Jugend und Alter, Stadt- und Urbanisierungsgeschichte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.1999

Gelehrte wollen gelesen sein

Von England ausgehend, so las man kürzlich, nimmt eine neue Reformbewegung ihren Lauf. "Public Understanding of Science" heißt sie, der deutsche Ableger hat die "humanities" hinzugefügt und sich zu "Push" verdichtet. Ziel der Reformer ist es, man staune, die Erkenntnisse der Forschung nun auch der Öffentlichkeit näherzubringen. Wer hinter dieser akademischen Wende den Rechtfertigungsdruck in Zeiten des Sparzwangs vermutet, ist natürlich ein Schelm. Doch ganz gleich, woher die plötzliche Einsicht kryptophiler Forscher rühren mag, das Wort ist heraus, die Absicht bekundet. Die Ära zugangsbeschränkter Bibliotheken, bleiverwüsteter Bücher und wurmbefallener Wissenschaftsprosa soll abdanken. Es folgt ein goldenes Zeitalter der bunten und lebensnahen Synthese aus Forschung und Vermittlung.

Das von Diethart Krebs und Jürgen Reulecke herausgegebene "Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933" (Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1998. 624 S., geb., 78,- DM) ist ein Produkt des Übergangs. Wegweisend erscheint die abwechslungsreiche Bebilderung, die noch keinem wissenschaftlichen Werk geschadet hat. "Die Illustrationen sind", so heißt es im Vorwort, "falls uns nicht Material geliefert worden ist, von uns hinzugefügt worden, um dem Leser/der Leserin wenigstens hier und da exemplarisch auch einen ersten visuellen Eindruck von Teilaspekten der dargestellten Reformbewegungen zu verschaffen." Halbwegs verschämt öffnen sich die Herausgeber hier der Erkenntnis, daß eine gute Illustration schneller wirkt als tausend gute Worte.

Im besten Falle packt sie richtiggehend zu. Eine solche Illustration findet sich im Abschnitt "Naturschutz": das Faksimile eines Artikels aus der SS-Zeitschrift "Das Schwarze Korps" von 1935. Unter der handgeschwungenen Überschrift "Störche im K.Z." berichtet ein SS-Rottenführer Rößler von der Ansiedlung von Störchen in den Lagern Esterwegen und Dachau. Wie die Tiere den Besatzungen als willkommene Abwechslung erscheinen, wie einem Jungstorch der gebrochene Schnabel sorgfältig geschient wird, wie schließlich "unsere gefiederten Lagerinsassen zusammen mit den anderen Störchen ihre Reise nach dem Süden" antreten - das läßt den Leser des Handbuches so schnell nicht mehr los. Hier springt die Faszination für das Forschungsgebiet sofort über, hier bedarf es keiner bombastischer Behauptungen wie der, "die Grundfrage nach dem Verhältnis von Reform und Revolution" sei "eine epochale Herausforderung von erheblicher historischer Tiefe und utopischer Brisanz".

Der zentrale Begriff des Handbuchs bleibt trotz aller "Brisanz" ungeklärt, die Frage nach einer Definition wird mit Materialfülle erschlagen. Was in diesem Handbuch nicht aufgeführt wird, so ist anzunehmen, kann keine Reformbewegung gewesen sein. Einundvierzig Stück sind auf gut sechshundert Seiten dargestellt, darunter zahlreiche Mauerblümchen. Das "Laienspiel" wurde von der Jugendbewegung "getragen". Kann es dann noch als eigene Reformbewegung anzusprechen sein? An anderer Stelle reicht schon das Abonnieren einer Zeitschrift aus, um den Bezieher zum Mitglied der "Kunstwartgemeinde" zu machen. Und im Falle des Buddhismus räumt der Autor selber ein, daß die entsprechenden Vereinigungen "klein und mitgliederschwach" gewesen seien, die Annahme der fremden Religion oft nicht mehr als "intellektuelle Spielerei" und "Kuriosität" war.

Die Lektüre der durchweg gründlichen Artikel geht, wie so oft, mit den obligatorischen Ermüdungserscheinungen einher. Platz für Quellentexte wäre vorhanden gewesen, sie hätten für willkommene Abwechslung gesorgt und die Unmittelbarkeit der Illustrationen auf die Textebene gezogen. Doch die Textebene bleibt ohnehin das große Problem. Zwar spricht aus dem Vorwort der gute Wille zur Perestrojka. "Jeder Autor und jede Autorin", schreiben die Herausgeber Diethart Krebs und Jürgen Reulecke, "ist gebeten worden, ihre Ausführungen möglichst gut lesbar zu halten." Aber so schnell ist der deutschen Geisteswissenschaft keine neue Zunge gewachsen. Meist bemüht sie den Sprachwust der Studierstube, der sich dort im Laufe der Jahrhunderte zu einer beeindruckenden Wollmaus zusammengestaubt hat. Wer darin herumklaubt, stößt auf manches altehrwürdige Ärgernis. Selbstreferenzen wie "Allerdings muß an dieser Stelle deutlich betont werden . . ." sind nur eine umständliche Spielart des bundesligaerprobten "Ich sach ma'", hinzu kommen Präzisierungen, die keine sind ("in jeweils spezifischer Weise"), und ungebändigte Querverweise der überflüssigen Art. All das wird gerne als Ornament genommen, wenn stetes Aneinanderzimmern und Ineinanderschachteln zu Konstruktionen von mitunter siebzig und mehr Wörtern führt. Daß sich in dieser barocken Pracht ein lebendiger Stoff verbirgt, mag man dann glauben oder nicht.

Böse Zungen sagen ja, daß hinter jedem ungeordneten Satz ein ungeordneter Gedanke steht. Doch die Triebfedern der Umständlichkeit sind oft eher die übertriebene Furcht vor Präzisionsmangel und eine Hypertonie des gebildeten Gehirns, aus dem unablässig Sachzusammenhänge hervorquellen. Vieles hätte gestrafft werden können, ohne dem Inhalt ein Leids zu tun. Und so wäre nicht nur der Verleger, sondern wären vor allem auch die Leser froh geworden.

Daß Wissen gleichbedeutend mit Macht ist, hat der Volksmund schon immer gewußt. Es ist allmählich an der Zeit, daß die Wissenschaftler ihre Macht mit dem Volke teilen, denn dessen Staatswesen finanziert in den meisten Fällen ihr Treiben. Für "Push", diese höchst notwendige Reformbewegung, gibt es viel zu tun. Wenn man so will, steht sie vor einer epochalen Herausforderung von erheblicher historischer Tiefe und utopischer Brisanz.

KLAUS UNGERER

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