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Heimweh nach Danzig oder Fräulein Esthers Geheimnis
Warschau um 1900. Esther Simmel, eine junge Frau aus Danzig, kommt ins Haus der wohlhabenden Familie Celinski, um den 12-jährigen Andrzej in Fremdsprachen zu unterrichten. Durch "Fräulein Esther" bekommt der Alltag in der Ulica Nowogrodzka neuen Glanz. Die Welt reicht jetzt nicht nur bis Odessa, sondern bis Paris und Wien. Andrzej entwickelt eine heftige Leidenschaft für seine Gouvernante, und auch sein Bruder Aleksander, der in Heidelberg Architektur studiert, verliebt sich in sie. Da befällt Esther eine unheimliche Krankheit, die ihr…mehr

Produktbeschreibung
Heimweh nach Danzig oder Fräulein Esthers Geheimnis
Warschau um 1900. Esther Simmel, eine junge Frau aus Danzig, kommt ins Haus der wohlhabenden Familie Celinski, um den 12-jährigen Andrzej in Fremdsprachen zu unterrichten. Durch "Fräulein Esther" bekommt der Alltag in der Ulica Nowogrodzka neuen Glanz. Die Welt reicht jetzt nicht nur bis Odessa, sondern bis Paris und Wien. Andrzej entwickelt eine heftige Leidenschaft für seine Gouvernante, und auch sein Bruder Aleksander, der in Heidelberg Architektur studiert, verliebt sich in sie. Da befällt Esther eine unheimliche Krankheit, die ihr Wesen völlig verändert. Die Celinskis bemühen sich verzweifelt um sie. Doch selbst die medizinischen Größen aus Petersburg können ihr nicht helfen. Von einer Ahnung ergriffen, fängt Aleksander Briefe aus Zürich ab und entdeckt, dass Esther mit Friedrich Nietzsche befreundet war. Nach ihrer plötzlichen Genesung verschwindet die junge Frau aus dem Leben der Familie. Nur ein paar Fotos von ihr und ihrer Heimatstadt Danzig bleiben zurück - Bilder, die während des Warschauer Aufstands wieder auftauchen und Andrzej das Leben retten. Stefan Chwin nimmt sie als Bruchstücke einer Geschichte, die ein ganzes Jahrhundert umspannt und in Estherhof endet, einer kleinen Bahnstation im Süden Danzigs.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000

Das Rätsel der Ähnlichkeit
Stefan Chwins Roman vom Schicksal der Menschen und Dinge in Danzig und Warschau
Danzig und Warszawa, Danzig und Warschau, Gdansk und Warszawa: Der 1948 geborene polnische Schriftsteller Stefan Chwin erzählt in seinem jüngsten Roman die Geschichte zweier Städte. Den Rahmen seines Buches bildet eine Art Aufgesang aus dem postkommunistischen Warschau, das – groteske Parodie – von westlichen und asiatischen Warennamen okkupiert ist, und eine Art Abgesang, eine Vigilie des (oder eines) Autors im Zug zurück nach Danzig. Eingebettet in diese Herausgeberfiktion ist eine impressionistische Ich-Erzählung aus dem Polen nach der Jahrhundertwende. Und angefügt an diesen „eigentlichen” Roman ist ein auktioraler Abspann, der mit lapidarem Sarkasmus eine Chronik der Ereignisse bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges erstellt: „Das weitere Schicksal der Menschen und Dinge”.
Insgesamt eine Konstruktion, die unser Jahrhundert der Teilungen und Vertreibungen überspannt, um eine Vergangenheit zu beschreiben, die (frei nach Faulkner:) nicht tot, nicht einmal vergangen ist. Aber es ist kein historisches Panorama, das Stefan Chwin ausbreitet. Vielmehr zeichnet er das Porträt einer charismatischen Frau, in der sich dieses Jahrhundert facettenreich „bricht”.
Alles war in dem großbürgerlichen Haus der Warschauer Familie Celínski seinen gewohnten Gang gegangen, aber jetzt ist eine „schöne junge Frau” da, Esther Simmel aus Danzig. Der zwölfjährige Andrzej, den sie in Fremdsprachen unterrichten soll sowie Aleksander, der in Heidelberg Brückenbau studiert, stoßen allenthalben auf die feinen Spuren der Fremden. Bis in den sensualistischen Stil hinein scheint Stefan Chwin die Literatur der Jahrhundertwende wiederzubeleben, zu der seine Erzählung beginnt. Aber was er betreibt, ist keine nostalgische Mimikry.
Denn sein Roman erzählt auch von dem Befremden, das die Weltgewandte unter den Lokalpatrioten, die Deutsche unter den Polen auslöst, sowie von Affekten unter den Christen, die eine antisemitische Pogrombereitschaft bereits vorwegnehmen. Er erzählt auch von den Dingen, an denen die Geschichte des 20. Jahrhunderts sich vollzieht. In seinem Roman Tod in Danzig (1995; dt. 1997), dessen Handlungsgegenwart mit dem Zeit-Raum der Gouvernante verschränkt ist, sagt Chwin, was die Dinge „tun”, die – in einem Polen, das mal russischen, mal deutschen Interessen sich fügen muss – ihre Besitzer überleben, indem sie von Vertriebenen zurückgelassen, von anderen Vertriebenen vorgefunden werden: „Die Dinge taten das, was sie immer tun. Sie betrachteten die Welt von den Regalen aus, von den Fächern, Tischplatten, Fensternischen, und machten sich nichts aus unseren Angelegenheiten. Sie waren auf keiner Seite. Geduldig begaben sie sich in unsere Hände. ” Je geduldiger sie das tun, so möchte man das verstehen, desto deutlicher bleibt in ihnen die Erinnerung an die Zeit vor den Vertreibungen bewahrt. Und eben diese Zeit ist es, die Stefan Chwin in seinem neuen Roman beschwören möchte, dessen Originaltitel Esther in einem deutsch-polnischen Grenzland von vornherein eine politische Dimension besitzt.
Es ist bezeichnend, dass Aleksander, der Ich-Erzähler, Esther zunächst nur indirekt wahrnimmt, in „Dingen”, die sie – und, ohne dass er es weiß, auch ihr späteres Schicksal – buchstäblich verkörpern: „Auf dem Bett lag völlig reglos eine dunkle Gestalt. Ich atmete auf: Es war nur ein Kleid, ein langes Kleid aus dunklem Crêpe de Chine, lässig quer über’s Bett geworfen, der schwarze Rand berührte den Boden, und der Ärmel, der linke Ärmel mit der schmalen Manschette, seltsam verdreht, schien hinter das Kopfkissen greifen zu wollen. ” Aleksander erzählt die Geschichte von ihrem Ende her, und so verdanken sich seine Wahrnehmungen auch dem, was Esther ihm „beigebracht” hat.
Neues Milieu
Sinnerhellung, der Dinge Glanz, das Leuchten der Welt – aber dann wird Esther von einer obskuren Krankheit befallen. Andrzej und Aleksander müssen um die sinnstiftende Kraft der Schönheit fürchten. Sie entwickeln eine panische Betriebsamkeit, Warschau verwandelt sich in ein Netz aus Krankenhäusern, Arztpraxen, Apotheken. Stefan Chwin kann auf diese Weise das Kammerspiel seines Romans multikulturell öffnen, das „kleine” Personal in Verbindung bringen mit neuen Milieus und neuen „Sprachen”. Die Längs- und Querschnitte, die er durch den Weltalltag und die Epoche des alten Warschau legt, verleihen dem Roman sogar eine dokumentarische Dimension.
Und auch die Bemühungen der beiden Brüder weiten den Roman aus. Der verzweifelte Andrzej verübt ein Attentat auf eine Madonnenstatue, und es entwickelt sich eine Kriminalhandlung mit Erpressung und Volkszorn. Und Aleksander glaubt der Patientin Briefe vorenthalten zu müssen, die sie aus der Schweiz erreichen, ja, er bricht sie sogar auf, und auch wir Leser werden eingeweiht in eine geheimnisvolle Beziehung zwischen Esther und Nietzsche, der ihr ein Zarathustra-Exemplar „zur Erinnerung an den Nachmittag in Sils” gewidmet hat. Offensichtlich verfolgt Stefan Chwin das Interesse, auch die Fermente aufzuspüren, welche die Mentalitätsgeschichte Mitteleuropas im Guten wie im Schlechten geprägt haben. Dabei gelingt ihm die epische Integration dieses „Wissens” so schwerelos, weil er es nicht an die Beredsamkeit, sondern an die Verschwiegenheit seiner Figuren bindet oder – wie hier – an den Zufall, mit dem es jemandem in die Hände fällt, für den es gar nicht bestimmt ist.
Das Ende kommt plötzlich, aber es ist kein deus ex machina, der Esther gesund werden und plötzlich nach Wien abreisen sowie – etwas später – die Familie Celínski Warschau verlassen lässt. Die kleinen Fluchten sind Vorboten (oder gar schon Elemente) der großen. Die Dinge, die Aleksander zuallererst ins Auge gefallen waren, müssen jetzt von Esther zurückgelassen werden, ihre Kleider werden verbrannt (und es ist keine Erfindung des Autor, sondern des Jahrhunderts, wenn das wie eine allegorische Antizipation klingt:), „um gleich darauf, in wirbelnde Asche verwandelt, durch den Schornstein zu fliegen (. . .), der Wind trägt die winzigen, kaum sichtbaren schwarzen Flöckchen Crêpe de Chine über die Stadt”. Als Aleksander vom Bahnhof, zu dem er Esther begleitet hat, nach Hause zurückkehrt, betritt er noch einmal ihr ehemaliges Zimmer, und jetzt kehrt sich die „Sensation”, die er am ersten Tag empfunden hat, um: „Ich spürte, wie die Stille, die ihre Schritte hinterlassen hatten, sich über das ganze Haus ausbreitete. Die Dinge, die ihre Berührung gewöhnt waren, schienen matt zu werden. Noch konnten wir nicht glauben, dass es eine wirkliche Abwesenheit war. ” Aber Esther hat ein Foto hinterlassen, und es wird dieses Foto sein, das später noch eine schicksalsverändernde Rolle spielen wird.
Was indes Stefan Chwin – und vielleicht ist das Foto die Keimzelle seines Romans gewesen – über die Menschen und Dinge weiterhin erzählt, muss hier nicht bilanziert werden, darf es auch nicht, denn es beraubt den Leser der fast körperlichen Erfahrung, in die Suche nach der verlorenen Zeit einbezogen zu sein. Nur noch so viel. In dem Roman gibt es die bizarre Wunderkammer eines deutschen Geheimrats namens Mehlers. Dessen russischer Bediensteter klärt Aleksander auf: „Sicherlich werden Sie fragen, nach welchem Schlüssel all das gesammelt wurde. Dieser Schlüssel – Sie werden es sich vielleicht schon denken – ist das Rätsel der Ähnlichkeit. ” Ein Rätsel der Ähnlichkeit ist es auch, das Stefan Chwin auf allen Ebenen seines Romans nicht löst, sondern freilegt: die Ähnlichkeit von Gdansk oder Danzig, die Ähnlichkeit der Vertreibung der Polen durch die Deutschen, der Deutschen durch die Polen, die Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart, der Zukunft in der Vergangenheit, „die Verwandlung in Erde”, die Aleksander bei Esther vorweggenommen sieht „durch das Trüberwerden der Iris, das Matterwerden des Haars”. Stefan Chwin hat ein herzzerreißendes (von Renate Schmidgall vorzüglich übersetztes) Buch über die Anwesenheit der Abwesenheit geschrieben.
HERMANN WALLMANN
STEFAN CHWIN: Die Gouvernante. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2000. 317 Seiten, 42 Mark.
Stefan Chwin achtet auf die Dinge, die ihre vertriebenen Besitzer überleben.
Foto: E. von Schwichow
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2000

Die fünf Sinne
Polnische und deutschsprachige Romane in diesem Herbst

Die Schriftsteller, vor allem polnische und deutsche, ziehen in diesem Bücherherbst in die Provinz. Sie verlassen die Hauptstadt der großen Worte und der großen Gesten. Der Himmel ist überall blau. Das sagte Goethe. Er kannte die Reiseangebote von Neckermann nicht. In Martinique hätte Goethe nur geschwitzt und den "Faust" in den Strand gesetzt. Der Deutschen berühmtester Klassiker favorisierte die Provinz. Denn hier liegt das Land Ur, sind das Urgestein und die Urpflanze daheim. Man muß nicht in der weiten Welt umherschweifen, wenn man im Kleinen die Metamorphose des Ganzen erkennen kann.

Die Literatur findet in diesem Herbst den Ursinn, Vater der fünf Sinne und Mutter aller Gefühle. Sie nimmt ernst, was die ästhetischen Theorien suchen: die Wahrnehmungen. In den fünf Sinnen und in der Sinnlichkeit findet sie den "Sinn" einer Welt, der von den Allüren der Hauptstadt vertrieben wurde. In der Provinz liegt der Schriftsteller ureigenstes Terrain: in den wahrhaft wilden Wiesen des Herzens, nicht im World Wide Web der Verstandesselbstverständlichkeiten.

Es gibt einen Schriftsteller, der das frische Gras der Provinzen gerochen hat: Alexander Kluge. Über zweitausend Seiten lang ist seine "Chronik der Gefühle". Er hat sich mit seinem berühmten Spaten und Feldstecher aufgemacht, die Landkarte der Empfindungen zu vermessen. Aberhunderte von Geschichten stecken wie Fähnchen an den neuralgischen Stellen, dort, wo die Angst, das Vertrauen, der Neid, der Mißmut und die Zuneigung in ihren tausend Gestalten sitzen. Die Gefühle sind die Partisanen, die Begriffe die reguläre Armee. Die einen stehen in den Kasernen, die anderen schwärmen und sind schwer zu fassen, sie haben keine voraussehbare Strategie und lassen sich auf keine Kompromisse ein. Wo sie auftauchen, ist der Mensch nahe dabei, den Ausnahmezustand für sich auszurufen: Man weiß nicht, wie einem geschieht.

Das Gefühl ist ein Partisan

Aus "Geschichte und Eigensinn" - so hieß ein Buch, das Alexander Kluge zusammen mit dem Soziologen Oskar Negt in den politisch erhitzten siebziger Jahren veröffentlichte - wurde eine Geschichte des Eigensinns. Die von Kluge gesammelten Anekdoten ergeben keine große Literatur. Der Herzenskartograph scheut die poetische Gegenwart des Erzählens und verläßt sich auf die Konstellation der Dokumente, die er sortiert. Die "Chronik der Gefühle" ist nicht mit dem Herzblut eines Dichters geschrieben, auch wenn sie von blutenden Herzen berichtet. Das ist das Los aller Schriftsteller, die nicht selbst das Gras sind, das sie wachsen hören. Manchmal kann man zu klug für eine Welt sein, wenn man Hunderte von Welten im Blick hat.

Gefühle ohne Wahrnehmungen gibt es nicht. Deswegen ist es egal, wo eine Geschichte spielt. Sie ist nicht groß, sie ist nicht bedeutend, nur weil die Helden durch die Hauptstadt rennen. Der Raum einer Erzählung wird durch die fünf Sinne abgesteckt. Hören und Sehen müssen einem nicht vergehen, sondern aufgehen, wenn man an den Ort der Poesie kommt.

"Teufelsbrück" hieß - und heißt für den, der nicht lesen will - eine Anlegestelle an der Elbe. Bis Brigitte Kronauer kam und in dieser nördlichen Provinz der großen Literatur ein Zelt aufschlug. Ihr neuer Roman, der den am Fluß gelegenen Flecken im Titel trägt, gibt den Sinnen zurück, was sie an die Begriffe verloren haben: erkennende Verführung und verführende Erkenntnis. Teufelsbrück ist der romantischste Ort der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur. Hier setzte Brigitte Kronauer die Pflanze Ursinn - der Weltsinn aus den fünf Sinnen - in den Boden einer Geschichte, die Blüten nach allen Seiten trieb, Herzensgewächse, die Erkennen und Empfinden miteinander verbinden. Das ist nicht neu bei Brigitte Kronauer, nicht neu in der großen Literatur. Doch in diesem Herbst ist dieser Roman der erotischste, verspielteste Wegweiser in die wundersame Provinz des poetischen Sinns und der Gefühle.

Rund eintausend Kilometer weiter östlich liegt das Städtchen Dukla in den Karpaten. Hier beginnt die poetische Heimat des polnischen Schriftstellers Andrzej Stasiuk. Ihm sei, erzählt er in seinem Roman "Die Welt hinter Dukla", in den Überresten einer städtischen Toilette eine Erleuchtung zuteil geworden. Das Licht, das auf den Dreck fiel, veränderte seinen Blick auf die Dinge. "Ich hatte eine Gänsehaut. In diesem vergessenen und erodierenden Scheißhaus sah ich die Materie im letzten Stadium des Verfalls, in letzter Verlassenheit. Minuten und Jahre waren in die Dinge eingedrungen und zersetzten sie von innen. Das gleiche wie immer und überall. Sechsunddreißig Jahre hatte ich gebraucht, um hierherzufinden."

Seitdem weiß Stasiuk, daß es eine Welt hinter Dukla gibt: eine Gegend, der Dinge ihre dunkle Seite, ihr Geheimnis, zuwenden, das nur entdecken wird, wer die Dinge zu sehen, aus dem gewohnten Blickwinkel herauszudrehen gelernt hat. In seinem Roman erzählt Stasiuk vom Sehen unter einem sich verändernden Himmel, vom Versuch, der Welt, und zwar in der Provinz, durch die Sinne beizukommen. "Eigentlich tue ich nichts", sagt er, "als die eigene Physiologie zu beschreiben. Die Veränderungen des elektrischen Feldes auf der Netzhaut, Temperaturschwankungen, die unterschiedliche Konzentration von Geruchspartikeln in der Luft, das Oszillieren der Schallfrequenzen. Daraus setzt sich die Welt zusammen. Alles Übrige ist formalisierter Wahnsinn oder die Geschichte der Menschheit."

Dukla heißt nicht nur ein Dorf, sondern seit Stasiuk auch eine Lichtung, die aus den Wahrnehmungen entsteht. Die Dinge werden erlöst, verdrängen aus dem Gesichtskreis des Schriftstellers die Geschichte, die in der Hauptstadt gemacht wird. Auch in den Karpaten führen, als gingen die Philosophen Husserl und Heidegger spazieren, Feldwege in die Poesie.

Vertrauen in die Dinge bewegt auch den polnischen Schriftsteller Stefan Chwin. Sein Roman "Die Gouvernante", der um 1900 spielt und die ganze Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts umfaßt, weckt in einer Villa in der Hauptstadt, die auch die Hauptstadt der Politik ist, die Erinnerungen der fünf Sinne zum Leben. So schnurrt das turbulente Warschau zu einer Provinz der Empfindungen zusammen, die sich an den Dingen entzünden. Wie Ungetüme platzen in dieses heilsame Ambiente die Menschen hinein, denen der Sinn für die Erscheinungsfülle verlorengegangen ist. Sie sind blind für eine Einheit geworden, die einmal die Seele mit den Formen einging. Aber die Welt, die von den fünf Sinnen aufgeschlossen wird, bewahrt auch in diesem Roman einen Ursinn in sich, der einem die Augen für "die Vögel und Lilien auf dem Felde" öffnet: Ein Glaube erwacht in der Natur. Das Gesetz der Provinz, in der die Seele des Menschen ein Zuhause hat, ist die Metamorphose der Dinge, nicht die Züchtung durch den Willen. Die Provinz der Sinne ist der Ort, wo der Mensch sich vor den Eroberungszügen des Verstandes, die in hellem Wahn oder in dumpfer Wissenschaft enden, retten kann.

So viele Gedanken macht man sich in der Wetterau nicht. Der Autor Andreas Meier spielt im Titel seines Debütromans schon den Heimvorteil der Provinz aus: Zum "Wäldchestag" findet man sich ausschließlich in Hessen zusammen. Auf dem Land halten nicht nur die Nahrungsmittel, was sie versprechen. Die Empfindungen sind noch nicht durch den Kakao der Medien und Metropolen gezogen worden. Ein Fremder ist nur ein Fremder, weil er nicht aus demselben Dorf ist, und wenn ein Junge neben einem Mädchen auf der Bank sitzt, dann sitzt die Unbeholfenheit zwischen ihnen. Träume erfüllen sich in der Garage beim Motorfrisieren, das Kinderzimmer daheim bei den Eltern ist der Kokon, aus dem die Abenteuer gesponnen werden. Die fünf Sinne kommen auf ihre Kosten, weil das Plastik der Großstadt nur ausgepackt wird, wenn es in Strömen regnet. Auch am Wäldchestag ist die Welt nicht rund, aber sie bewegt sich in einem Tempo, das man selbst halten kann. Stumpf wird, wer den Absprung in seinen kleinen Traum nicht schafft. Das Dorf ist, Meiers mäandrierender Stil wird dem gerecht, eine Endlosschleife. Man steckt sich eine Kippe an, weil man sich auf Zigarettenlänge aus diesen Kurven tragen lassen möchte.

In der Steiermark sieht das anders aus. Elfriede Jelinek kann einen das Fürchten vor der Provinz lehren. "Gier" lautet der Titel ihres neuen Romans, der den Regionalismus nur in zwei Formen kennt: als vom Menschen malträtierte Natur und als vom Trieb deformiertes Gefühl. Nichts Echtes regt sich weit und breit. Mann und Frau dämmern in der Provinz ihres Unterleibes dahin. Von den fünf Sinnen ist in diesem Land keiner mehr intakt. Sie sind verkümmert, wie alles drum herum verschandelt ist. Der Sinn, der kein Sinn mehr ist, sondern ein tierhafter Körperreflex, steht dem Mann nur noch nach einem. Die Frau hat ihre Sinne bis zur Besinnungslosigkeit degeneriert und verliert sich in der Bereitschaft, das Nachsehen zu haben. Wo die fünf Sinne fehlen, holzt die Axt des Stumpfsinns nieder, was auf Kopfhöhe wachsen möchte. Die Provinz, das ist Elfriede Jelineks Befund, ist überall, im Bett und auf den Bergen. Kein schöner Land als Österreichs Täler und Berge gibt die Aussicht darauf frei, daß das Dorf der Hauptstadt, wo die Gier der Körper sich als Lust an der Macht drapiert, die Diagnose stellen kann.

Helden tragen Scheuklappen

In diesem Bücherherbst findet man auch Romane, die die Hauptstadt in die Provinz verlegen, die große Politik auf das Maß eines Reihenhauses bringen: "Spione" von Marcel Beyer, "Paul Schatz im Uhrenkasten" von Jan Koneffke und "Hampels Fluchten" von Michael Kumpfmüller. Als man die Gesellschaft in die Begriffe zu zwingen versuchte - Alexander Kluge war damals Mitte Vierzig -, tauchte ein Wort auf, das man im Zusammenhang mit diesen drei Romanen verwenden kann: Die Provinz wird instrumentalisiert. Marcel Beyer. Jan Koneffke und Michael Kumpfmüller haben selbst weder den Zweiten Weltkrieg noch die DDR erlebt. Sie kennen, wie könnte das bei ihrer Generation anders sein, was geschah, nur aus den Archiven oder aus Erzählungen. Aus welchen Motiven heraus sie sich einer Vergangenheit zuwenden, die nur vermittelt die ihre ist, darüber kann man rätseln. Sie sehen die Fallgruben und versuchen, sich mit einem Kunstgriff aus der Affäre zu ziehen. Entweder sie erzählen, was damals geschah, aus der Perspektive von Kindern, wie Beyer und teilweise Koneffke, oder sie laden die große Politik nach Hause zum Kaffeetrinken ein. Bei allen drei Versuchen, die deutsche Vergangenheit in einer Geschichte zu fassen, hilft die Provinzialisierung des Blicks. Gerät die Politik in die Provinz, machen Helden, die an allen fünf Sinnen Scheuklappen tragen, Geschichte.

Die Provinz der fünf Sinne ist die auffälligste Erscheinung in diesem Bücherherbst. Wer auf die Literatur hofft, der darf seinen Blick ruhig über diese Provinz schweifen lassen. Nirgendwo anders ist der Schriftsteller besser an seinem Platz als hier. Diese Provinz, das zeigen die neuen deutschen und polnischen Romane, könnte versöhnen, was die Welt der Hauptstädte angerichtet hat. Die fünf Sinne sind die Partisanen eines Glücks, von dem nur die Schriftsteller zu erzählen vermögen.

EBERHARD RATHGEB

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Dies sei kein historischer Roman, findet Eberhard Rathgeb, sondern "eher eine zarte Mentalitätsgeschichte", die an "die deutsche und die polnische Seele um 1900" erinnern möchte. Dann lesen wir allerlei Dinge, die immer bloß davon handeln, was der Roman sagen will, aber nicht davon, was er denn eigentlich sagt. Vermutlich ist diese höhere Ungenauigkeit das Resultat einer großen Begeisterung. Wenngleich deren Ursache nicht recht nachvollziehbar wird. Auch nicht als Rathgeb schließlich doch ein paar echte Details aus dem Roman mitteilt. Vermutlich liegt das Geheimnis zwischen den Zeilen, was ja auch Rathgeb am Ende einräumt: "`Die Gouvernante` ist ein gleichsam dahinsummender Roman über die Dinge und die Menschen zu einer Zeit, als die Seele - und mit ihr der Körper - in Aufruhr geriet und die Fassung verlor." Aber irgendwie will man dann doch wissen, was auch den Rezensenten da so aus der Fassung brachte. Zumal er schreibt, dass die Geschichte Polens und Deutschlands in Chwin einen "herausragenden Erzähler" gefunden habe.

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