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Litauen im Sommer 1941. Die Sowjets beginnen mit Deportationen nach Sibirien. Dank seiner Bekanntschaft mit dem zuständigen Beamten gelingt es dem Schriftsteller Jakob Josade, seine Familie aus der Liste zu streichen. Die "Rettung" erweist sich als Todesurteil: Josades Eltern und Geschwister werden bald darauf von den Nazis ermordet. Josade ist einer der wenigen überlebenden Juden in der neuen Sowjetrepublik. Um nicht Opfer von Stalins aggressivem Antisemitismus zu werden, macht er sich unsichtbar. Er litauisiert seinen Vornamen, beginnt mühevoll litauisch zu schreiben, verbrennt heimlich…mehr

Produktbeschreibung
Litauen im Sommer 1941. Die Sowjets beginnen mit Deportationen nach Sibirien. Dank seiner Bekanntschaft mit dem zuständigen Beamten gelingt es dem Schriftsteller Jakob Josade, seine Familie aus der Liste zu streichen. Die "Rettung" erweist sich als Todesurteil: Josades Eltern und Geschwister werden bald darauf von den Nazis ermordet. Josade ist einer der wenigen überlebenden Juden in der neuen Sowjetrepublik. Um nicht Opfer von Stalins aggressivem Antisemitismus zu werden, macht er sich unsichtbar. Er litauisiert seinen Vornamen, beginnt mühevoll litauisch zu schreiben, verbrennt heimlich seine jiddischen Manuskripte und fast seine gesamte Bibliothek. Sein Leben in ständiger Angst und Selbstverleugnung zwingt ihn zu absurden Handlungen. So richtet er einen Safe mit gefährlichen Aufzeichnungen ausgerechnet im Haus eines befreundeten KGB-Spitzels ein. In den Jahren vor seinem Tod 1995 stellt sich Josade der tragischen Wahrheit seiner Biographie. Erst "im Licht des Todes" gelingt es ihm, seine Verzweiflung zu überwinden und jenes Ich wiederzugewinnen, das jenseits des Schweigens, der Angst, des Verrats, der kulturellen und persönlichen Selbstzerstörung überdauert hat.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2000

Das litauische Schweigesyndrom
Jewsej Zeitlins lange Gespräche in Erwartung eines glücklichen Todes · Von Viktor Kriwulin

Jewsej Zeitlins Buch "Lange Gespräche in Erwartung eines glücklichen Todes" ist vor drei Jahren auf Russisch im Verlag des Jüdischen Museums Wilna erschienen. Doch erst in den letzten Monaten erkennt man seine wahre historische und künstlerische Bedeutung. Inzwischen wurden Dokumente gefunden, die die Zusammenarbeit zwischen der Verwaltungsspitze der katholischen Kirche Litauens und der SS während der deutschen Besatzung sowie mit dem sowjetischen Geheimdienst (NKGB-MGB-KGB) in der Nachkriegszeit belegen. Vergleichen wir diese Dokumente mit dem "Doppelblick" des Helden von Zeitlins Buch, so erhalten wir eine Ahnung davon, wie drückend die Atmosphäre aus Angst und Verrat auf der litauischen Bevölkerung im zwanzigsten Jahrhundert gelegen haben muss.

Vor diesem Hintergrund kommt der Beziehung zwischen den jüdischen Litauern und den katholischen Litauern eine Schlüsselbedeutung zu. Der Tragödie des Holocaust wurde hier die Tragödie der Deportation litauischer Staatsbürger nach Sibirien am 14. Juni 1941 aufgesetzt. Nach dem Krieg ging Stalins Zerschlagung der Reste jüdischer Kultur mit der Vernichtung der nationalen Traditionen Litauens einher, die in der katholischen Kultur wurzeln. Litauer und Juden erfuhren parallel dasselbe Schicksal, wobei sich ihre Geschicke tragisch miteinander verflochten. Ein Beispiel: Die Eltern Jokubas Jossudes, der Hauptfigur in Zeitlins Buch, sollten vom sowjetischen Geheimdienst deportiert werden, doch der Sohn, der den neuen Machthabern nahe stand, konnte es verhindern. Sie wurden nicht ausgewiesen und kamen während der deutschen Besatzung um. Jokubas' Vater starb von der Hand der "Weißbinden", wie die katholischen Freiwilligen hießen, die mit den Nazis kollaborierten, und seine Mutter geriet ins Ghetto.

Zeitlins Held ist keine erfundene Figur, sondern authentisch. Es ist ein litauischer Schriftsteller, Dramaturg und Kritiker jüdischer Herkunft, mit dem sich der Autor fünf Jahre lang täglich unterhalten hat. Diese Gespräche hat er, der Vertreter einer anderen Generation ohne die spezifischen Ängste und Illusionen seines älteren Gesprächspartners, aufgezeichnet und kommentiert. Angesichts des Todes läßt der achtzigjährige Jossude sein Leben Revue passieren. Er sucht einen Ausweg aus dem moralischen und intellektuellen Labyrinth, in das ihn die Angst verbannt hat. Die Angst, Jude zu sein, die Angst, Litauer zu sein, die Angst, ein Untertan des Sowjetimperiums zu sein. Die Angst, zu sein. Diese Angst bemächtigt sich auch seines Namens. Aus dem Kind Jankel wird der junge Jakob und im Nachkriegslitauen Jokubas, der mit der litauisierten Form seines Namens auch die litauische Sprache annimmt. Seine literarische Karriere hatte er vor dem Krieg als jiddischer Autor begonnen. Im Winter 1948, als der Antisemitismus Triumphe feiert, gibt er seine Muttersprache auf und sieht sich selbst bis zum Tod als sowjetischen, litauischen Literaten. In dieser Eigenschaft ist er anonym.

Wie K., der Held in Kafkas "Schloss", wird Jokubas Jossude in den "Langen Gesprächen . . ." meist nur mit dem Buchstaben "j." genannt. Er wird klein geschrieben und entspricht damit den Überlebensbedingungen des Helden. Es ist ein Zeichen für das Aufgehen des Helden im Text der imperialen Geschichte und Symbol seiner kulturellen Arbeit: Als mittelmäßiger Dramaturg und Kritiker war Jossude Redakteur der Zeitschrift "Pjagale" und in den zehn Jahren der schärfsten Zensur, von 1948 bis 1958, für die Literaturkritik zuständig.

Der Nachname "Jossude" ist das hebräische Wort für Fundament oder Grundlage. Wir haben hier aber die Geschichte eines Mannes vor uns, der die Angst um das eigene Überleben zur Grundlage seines Lebens gemacht hat. "Die Angst", schreibt Zeitlin, "ist die Grundlage des Landes, dessen Bürger j. ein halbes Jahrhundert war. Mit den Jahren verändert sich diese Angst jedoch. In den vierziger und fünfziger Jahren war es die Angst vor dem Gefängnis, dem Lager und der physischen Vernichtung. In den sechziger bis achtziger Jahren ist es die Angst, die komfortablen Arbeitsbedingungen zu verlieren." Die Angst kittet Jahrzehnte von j.s Leben zusammen. Sie stellt sich geraume Zeit vor dem Krieg ein, lange vor dem Holocaust und Stalins Säuberungen. Glaubt man j.s Erzählungen, dann empfand er schon im Alter von fünfzehn Jahren Beklemmung, wenn er die "Männer in Schwarz", die Agenten der Geheimpolizei, sah.

1926 fand in Litauen der Putsch Smetonas statt, das autoritäre Regime wurde errichtet. Auf den Straßen tauchten Männer im schwarzen Anzug mit schwarzer Melone auf. Sie fesselten j.s Interesse. Nach dem Krieg übten die Abkürzungen NKWD, MGB (Innenministerium) und KGB eine unheimliche Faszination auf Zeitlins Helden aus. Wenn j. an dem düsteren Gebäude des Staatssicherheitsdienstes in Wilna vorüberging, blieb er stehen, selbst wenn er es eilig hatte. Die beleuchteten Fenster, hinter denen schlimme Arbeit verrichtet wurde, schienen ihn zu hypnotisieren und anzuziehen. Sie weckten ein unerklärliches Gefühl eigener Schuld. In den vierziger Jahren warb ihn das Innenministerium als Geheimagent an. Seinem Biografen gesteht er dieses Faktum als etwas Natürliches und Unwichtiges, behauptet aber, er habe nie jemanden angezeigt. Die Offenheit j.s vor dem Tod hinterlässt beim Leser gemischte Gefühle.

Zeitlins Buch weckt widersprüchliche Gefühle. Sein Genre ist eine explosive Mischung aus "Eckermanns Gesprächen mit Goethe", Nietzsches "Also sprach Zarathustra", Kafkas Romanen und den Dialogen der chassidischen Zaddiks; es ist eklektisch, fragwürdig und provozierend. Doch es ist keineswegs ein postmoderner "Mix". Das Genre dieses Buches entspringt dem Schicksal und der Persönlichkeit des Helden. Die ungewöhnliche Form gibt vielleicht auf die einzig angemessene Art die komplizierte ethische und soziale Situation in Litauen (beziehungsweise in Osteuropa) wieder. Sie ist bis heute nicht überwunden und vermag neue Konflikte und menschliche Tragödien auszulösen.

Zeitlin untersucht diese Situation von verschiedenen Standpunkten aus und interpretiert sie bald aus der Sicht der traditionellen Psychoanalyse, bald im Geist der Hermeneutik, bald durch das Prisma der religiös-metaphysischen und konkret historischen Erfahrung. Nach seinem eigenen Bekenntnis ist j.s geistige Entwicklung durch den klassischen Ödipuskomplex vorbestimmt. Der Heranwachsende erfährt, dass sein Vater eine Geliebte hat und alles Unglück in der Familie von ihr kommt. Er verspürt den Wunsch, seinen Vater zu töten, oder die Frau, die seine Familie zerstört. Er taucht mit einem Messer bei ihr auf, landet aber schließlich in ihrem Bett. So wird er der Liebhaber der Geliebten seines Vaters, und um diesem Teufelskreis zu entkommen, flüchtet er aus dem Provinznest Kalvaria in die Hauptstadt Kaunas. In der Kette aus Verrat und Flucht ist dies das erste Glied.

Gegen Ende seines Lebens berichtet j. ohne Bedauern oder Groll darüber, er befreit sich einfach von der Vergangenheit und versucht, nicht nur seinen Vater einzuordnen, sondern auch dessen Mörder. Er bemüht sich, nicht nur den Tod seiner Stammesbrüder im Ghetto von Wilna nachzuvollziehen, sondern auch die Motive der Litauer zu erspüren, die aus ebenso schmerzlich empfundener nationaler Kränkung, wie die Juden sie erfuhren, mithalfen, die Juden zu vernichten. Litauer und litauische Juden verbinden gemeinsame Angst und gemeinsamer Schmerz.

Auf j.s Schreibtisch steht neben einem Kruzifix eine Fotografie. Sie zeigt einen jungen Mann in der Uniform eines Wehrmachtsoldaten, das j. zusammen mit einem nicht abgeschickten Brief an die Geliebte in den Taschen eines Österreichers gefunden hatte, der beim Angriff der 16. Litauischen Division gefallen war, in der j. diente. Es ist die Erinnerung an ein Opfer, das der greise Schriftsteller wahrscheinlich selbst zu verantworten hat. In seinem Bücherregal steht aber kein Buch in jiddischer Sprache, obwohl sie bis zum Winter 1948 den Grundstock seiner Bibliothek bildeten. Er verbrannte sie im Kamin und schaffte die Asche heimlich in der Aktentasche aus der Wohnung. Ein innerer Zensor befahl ihm, die Tragödie der litauischen Juden zu verschweigen.

Die verworrenen Beziehungen zwischen Litauern und Juden sind das Thema des Stücks "Das Schweigesyndrom", das j.s Biograf ausführlich nacherzählt. "Das Schweigesyndrom" ist ein philosophisches Gleichnis, in dem drei Personen agieren: ein Ärztehepaar, die Jüdin Sarah und der Litauer Jonas Markus, sowie der Geheimdienstoberst Gurow. Die Handlung spielt kurz vor Stalins Tod. Gurow nützt die Angst der beiden aus und macht sie zu Geheiminformanten. Sarahs Angst hängt mit ihrem Judentum zusammen. Jonas hingegen hatte sich Ende Juni 1941 den Litauern angeschlossen, die in Kaunas den Aufstand gegen die Sowjetmacht wagten. Er versorgte die Verwundeten, dann bekam er eine Maschinenpistole und sollte auf die persönliche Habe der ermordeten Juden aufpassen. Vielleicht nahm er sogar selbst an dem Massenmord teil. Gurow kennt seine Vergangenheit und zwingt Jonas, sich ihm unterzuordnen und die ungeliebte Sarah zu heiraten. Nach dem Krieg stellt der Moskauer Henker die litauischen Henker und Opfer während der Kriegszeit auf die gleiche Ebene. Am Schluss erscheint Gurow in der Wohnung der Eheleute, um beide zu verhaften, doch im Radio wird Stalins Tod bekannt gegeben.

Dieses Stück hatte keinen Bühnenerfolg. Wie andere Arbeiten j.s litt es unter Klischeehaftigkeit. Es belegt jedoch, dass j. am Ende seines Lebens einen Ausweg aus dem existentiellen Labyrinth erahnte, in das er teils aus eigener Schuld, teils infolge der historischen Ereignisse geraten war. J. entdeckt sich jenseits der Welt, die geprägt war vom Verhältnis zwischen Henker und Opfer. Er findet sich endlich im unabhängigen Litauen, im "litauischen Jerusalem", das wohl bald der Vergangenheit angehören wird. Obwohl Jokubas Jossude auf einem katholischen Friedhof beerdigt wird, spürt man die schwache Hoffnung, dass die jüdische Kultur im befreiten Litauen die Möglichkeit hat weiterzuleben. Vielleicht könnten sich die geistigen Wege der Litauer und Juden einmal an einem Punkt treffen.

Aus dem Russischen von Annelore Nitschke.

Jewsej Zeitlin: "Lange Gespräche in Erwartung eines glücklichen Todes". Aus dem Russischen von Vera Stutz-Bischitzky. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2000. 288 S., geb., 39,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Dieter Hildebrandt ist nicht recht glücklich mit Jewseij Zeitlins "Langen Gesprächen in Erwartung eines glücklichen Todes". Auf Grundlage von langen Gesprächen beschreibt Zeitlin darin das Leben des bekannten litauischen Schriftstellers Jokubas Josade (1911 bis 1995) - ein jüdisches Schicksal unter dem Terror der Sowjetunion. In den Gesprächen mit Zeitlin kommen, so Hildebrandt, die alten Ängste Josades wieder hoch. "Verstörend zu lesen", findet er, "wie klein, intim, zivil sie sein konnten, wie beinah trivial und doch allgegenwärtig." Josades erzählt Hildebrandt zufolge eine Fülle von Episoden von dem latenten und offenen Terror und der daraus resultierenden lähmenden Furcht. Kritisch sieht Hildebrandt dabei Zeitlins Rolle bei den Gesprächen. Dessen "inquisitorische Haltung" und manchmal ans "Parteichinesisch" erinnernden Formulierungen wirken auf Hildebrandt "seltsam bedrückend". Dass Josade seine jüdische Existenz so habe verleugnen können, erscheine Zeitlin als Verrat. Das geht dem Rezensenten dann doch zu weit. Vielleicht wäre es besser gewesen, gibt er zu bedenken, Josade hätte einen anderen Nachrufer gesucht.

© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Bekenntnis von großer historischer und künstlerischer Bedeutung. Frankfurter Allgemeine Zeitung