Produktdetails
  • ISBN-13: 9783865726919
  • ISBN-10: 3865726917
  • Artikelnr.: 43743455
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Kolja Reichert lernt ein ganze Menge über die Synergien zwischen Kunst und Popmusik bei Jörg Heiser. Kontextwechsel von Künstlern wie Warhol, Beuys oder Jay Z kann ihm der Autor in Fallstudien erläutern. Dass Heiser dabei sozialgeschichtlich versiert Generalisierungen aus dem Weg räumt und vor allem bei seiner Analyse libidinöser Strukturen in Wahrhols Factory Erhellendes zutage fördert, kann Reichert bestätigen und empfiehlt Heisers Werkanalysen gar als Referenztexte einer Nachkriegs-Kulturgeschichte. Wenn der Autor hin und wieder den Faden und den großen Bogen aus dem Blick verliert, kann ihm Reichert verzeihen. Gern hätte er noch mehr erfahren über strukturelle Verschiebungen und die Auswirkungen auf die Kunst insgesamt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Auf den Event läuft alles zu

Auch eine Kulturgeschichte der Nachkriegszeit: Jörg Heiser beschreibt, wie sich Kunst und Popmusik von den Sechzigern bis heute miteinander verbanden.

Kraftwerk spielen eine "Retrospektive" im Museum of Modern Art. Jeff Koons gestaltet ein Albumcover für Lady Gaga. Miley Cyrus präsentiert Skulpturen, und Rapper Jay Z adaptiert eine Performance von Marina Abramovic für den Dreh eines Musikvideos: Synergien zwischen Kunst und Popmusik haben Konjunktur. Noch immer wird das oft als Grenzüberschreitung oder gar als Auflösung überkommener Gattungsgrenzen gefeiert - als stünden jene Grenzen nicht längst weit offen. Geht und gilt in der Kunst heute nicht alles?

Eine theoretisch unterfütterte Antwort auf diese Frage gibt der Kunstkritiker Jörg Heiser in seinem Buch über Kunst und Popmusik: Anzunehmen, dass alles geht, hieße den Kunstbegriff tautologisch auf künstlerischen Eigensinn oder die Routinen des Betriebs zu bauen. Gerade wenn angeblich alles geht, gelte es aber, jeden einzelnen Kontextwechsel - so Heisers Kernbegriff - genau zu prüfen: Bedient sich hier ein Künstler nur im anderen Feld, ohne Rücksicht auf dessen spezifische Eigenlogik und Geschichte, wie im Fall Jay Zs? Oder werden Gegensätze produktiv gemacht, neue Handlungsräume oder Rollenmodelle erschlossen?

In Fallstudien, die von den sechziger Jahren bis in die Gegenwart reichen, von Andy Warhol über Joseph Beuys bis zur gerade angesagten Musikerin Fatima Al Qadiri, versucht Heiser sich an einer "Genealogie des künstlerischen Arbeitens zwischen Kunst und Popmusik". Er schärft die Unterschiede zwischen den Feldern, während er Generalisierungen beiseiteräumt, die noch immer die Rezeption bestimmen. Das gelingt, indem er auf die konkrete Lebens- und Arbeitspraxis blickt.

Diese Verbindung von Kunst- und Sozialgeschichte hilft, die Verengungen zu überwinden, die etwa die Rezeption Warhols bis in die Neunziger behinderte. Dessen Malerei lässt sich nicht losgelöst von seinen Filmen betrachten und beides nicht von unabhängig von der Produktion sozialer Energien in seinem Atelier, der Silver Factory, in der für Heiser erstmals direkte Übergänge zwischen Kunst und Popmusik möglich geworden seien. Die Analyse der libidinösen Struktur der Factory gehört zu den Höhepunkten des Buches. In Warhol, der erklärte, er habe Karriere damit gemacht, dass er "das richtige Ding im falschen Raum und das falsche Ding im richtigen Raum" war, entdeckt Heiser den Kontextwechsler par excellence: "Kein mühevolles Winden vor der Leinwand, stattdessen die aus der Werbegrafik stammende Technik des Siebdrucks angewandt in schneller Reihenfolge wie das selbstverständliche Bam-bam-bam eines Rock-Beat. Nicht mit einschmeichelndem Pop die Charts erobern, zu den Bedingungen der Plattenindustrie, sondern zu eigenen Bedingungen mit den bösen, ,negativen' Velvet Underground und ihren Songs mit Titeln wie ,Heroin'. Überall wo man hinschaut: verkehrte Welt." Warhols Engagement als Musikproduzent widmet Heiser denn auch die bislang wohl gründlichste Analyse.

Die fundierten und pointierten Werkanalysen empfehlen sich als Referenztexte. Sie addieren sich zu einer Kulturgeschichte der Nachkriegszeit: von der "bürgerlichen Moralpanik" angesichts der Aktionen der britischen Künstlergruppe COUM Transmissions, die später als Throbbing Gristle das Industrial-Genre begründeten, über den Antiamerikanismus der deutschen 68er, der sich besonders grell in Joseph Beuys' Lied "Sonne statt Reagan" zeigt (für Heiser ein klares Beispiel für einen missglückten Kontextwechsel), bis zur Attacke des Tontechnikers, der kurz vor einem Auftritt von F.S.K. den E-Bass der Künstlerin Michaela Melián (die gerade mit einer Schau im Münchner Lenbachhaus gewürdigt wird) wegen angeblicher Soundprobleme in Einzelteile zerlegt. Und schließlich die Durchökonomisierung aller Lebensbereiche, inklusive Kultur.

Hin und wieder erliegt Heiser dabei der Anziehungskraft des Materials: wozu vier Seiten für die Malerei von Walter Dahn? Gelegentlich gerät der große Bogen aus dem Blick. Heiser konzentriert sich auf die Produzentenperspektive und damit auf Beispiele, die künstlerisch interessant sind. Es wäre spannend, auch solche hinzuzuziehen, die als Symptome struktureller Verschiebungen von Bedeutung sind. Vollziehen doch die beiden Kontexte selbst gegenwärtig einen Statuswechsel. So hat die Popmusik, wie auch Heiser schreibt, ihr Monopol als kulturelles Leitmedium eingebüßt, während sich Pop- wie Filmstars gerne in der Kunst zeigen. Und ähnlich wie die vier großen Plattenfirmen in den Goldenen Zeiten der CD generieren heute vier Megagalerien ihre astronomischen Umsätze mit der Vermarktung künstlerischer Positionen, die woanders ausgearbeitet wurden.

Die Musikbranche generiert indes ihre Haupteinnahmen im Live-Sektor, also der Ereignisökonomie, welche auch Museen ergriffen hat und in der sich die Grenzen zwischen den beiden Kontexten noch weit stärker vermischen, als Heiser es beschreibt. Was das für das Werk, den Künstler und "Kunst" als Ganzes bedeutet, darüber hätte man gerne mehr gelesen.

KOLJA REICHERT

Jörg Heiser: "Doppelleben". Kunst und Popmusik.

Philo Fine Arts, Hamburg 2016. 600 S., geb., 28,- [Euro].

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