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  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Nexus Bd.71
  • Verlag: Nexus, Fr. / Stroemfeld
  • Seitenzahl: 296
  • Erscheinungstermin: Herbst 2006
  • Deutsch
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 474g
  • ISBN-13: 9783861091714
  • ISBN-10: 3861091712
  • Artikelnr.: 13565318
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.2007

Gesittete Lesbarkeit
Näher an die Dichterhand: Ein Plädoyer für Faksimiles

Wenn Editoren und Literaturwissenschaftler sich mit Dichtermanuskripten befassen, dann hat das mit Reliquienkult, der Jagd nach Autographen oder der Charakterdeutung von Graphologen nichts zu tun. Die Debatte um die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht bewilligte Förderung der auf Faksimiles basierenden neuen Kafka-Ausgabe (F.A.Z. vom 20. und 27. Oktober 2006) hat solche Missverständnisse belebt. Verschiedentlich wurde eingewandt, dass es bei der Präsentation von Handschriften mehr um Liebhaberei als um seriöse Wissenschaft gehe. Diesem falschen Eindruck tritt die vorliegende Aufsatzsammlung grundsätzlich entgegen. Behauptet wird eine poetologische Differenz zwischen Schreiben, Schrift und Typographie. Sie mag von Dichter zu Dichter stark variieren und im gegenwärtigen Computerzeitalter zunehmend an Bedeutung verlieren. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Beschränkung auf ein konventionell gedrucktes Buch wichtige Erkenntnisse gar nicht erst zulassen würde.

Diese Einsicht ist keineswegs neu. Um plausibel zu werden, bedarf sie nicht einmal einer poststrukturalistischen Semiotik und Schrifttheorie in der französischen Tradition der "critique génétique", die aus kleinsten Details in Graphik und Anordnung kühnste Schlussfolgerungen zieht. Ohne Editionspioniere wie Friedrich Beißner oder Dietrich E. Sattler wären heute die hohen Standards der Textkritik kaum denkbar. Jeder der beiden hat im Falle Hölderlins durch Ausgaben verdeutlicht, dass die Interpretation eines Gedichtes entscheidend von dem Verständnis abhängen kann, wie es allmählich aus verschiedensten Vorstufen und Fassungen hervorgegangen ist. Nur die sorgfältige Untersuchung eines Manuskripts und die geduldige Umschrift sich überlagernder Textschichten vermögen die Genese eines Textes sichtbar zu machen und damit das tote Material zu verlebendigen. Je wilder ein Autor sich auf dem Papier ausgetobt hat, desto interessanter wird es.

Einige solcher schwierigen Fälle präsentiert nun der Band "Bilder der Handschrift", dessen Umschlag ein mit Aufzeichnungen und graphischen Symbolen übersätes Blatt Walter Benjamins ziert: "Über die Wahrnehmung in sich" lautet der Titel, darunter steht die enigmatische Notiz: "Wahrnehmung ist Lesen / Lesbar ist nur in der Fläche erscheinendes." Die schiere Lesbarkeit im elementarsten Sinne ist für Editoren indes alles andere als selbstverständlich. Beispielsweise die Mikrogramme Robert Walsers zeigen, dass sich die Eindeutigkeit des poetischen Textes bereits auf der Ebene der Schrift verweigern kann. Untersucht werden hier vier längere Gedichte, die auf der Vorder- und Rückseite eines Blättchens in Visitenkartengröße komprimiert sind. Das erforderliche intuitive Lesen oder zweifelnde Erraten würde eine Buchausgabe ohne Faksimile im Gestus der Selbstgewissheit übergehen. Auch von der engen räumlichen und zeitlichen Korrespondenz zwischen den Texten, deren Verse mühsam voreinander ausweichen und mit dem Blattrand kämpfen, hätte man in einer Edition keine Ahnung.

Gottfried Kellers Studienbücher sind ein anderer Fall, bei dem sich ein komplexes Bedeutungsgefüge aus dem Arrangement von Aufzeichnungen ergibt. Wie will man etwa die auf einer ganzen freien Seite wie eine Grabinschrift wirkende Todesanzeige "den 14t Mai 1838. / Heute starb Sie!" im Druck wiedergeben? Zumal die darunter angeordnete Ornamentlinie sich erst auf den zweiten Blick als verschnörkelte Initiale "H K" für Henriette Keller erweist und das Blatt von einem Prosatext und einem mit "G. K." unterzeichneten Trauergedicht gerahmt wird. Dank solcher editionsphilologischer Aufmerksamkeit ist auch bei Interpreten die Sensibilität für ursprünglich gegebene Kontexte gewachsen. Die Entscheidung für eine strikt chronologische Edition von poetischen Texten, selbst zwischen scheinbar unverbundenen Aufzeichnungen und Kladden, kann deshalb sinnvoll sein.

Nicht in allen Beiträgen des Bandes geht es aber um eine vergleichbar gesittete Lesbarkeit von in der Fläche erscheinenden Zeichen. Die Materialität eines Originaldokuments kann wie die "Pornogramme" des Marquis de Sade auch eine Gewalttätigkeit vermitteln, die über die bloße Schrift weit hinausweist. Die wüsten Briefe und Aufzeichnungen aus der Gefangenschaft werden hier als "skripturales Sperma" vorgestellt: Aus Mangel an Papier verewigte de Sade seine autosodomistischen Exzesse und akribischen Onanieprotokolle zwischen den Zeilen der an ihn gerichteten Briefe, die er dann zusammengerollt in seinem Dildo versteckte. Teilweise sind sie von Brandflecken überzogen, wenn der Marquis die Geheimtinte über einer Kerze sichtbar zu machen versuchte. Das Porträt eines vermeintlichen Liebhabers seiner Frau, der er ständig chiffrierte pornographische Briefe sandte, durchlöcherte er gar mit einem Messer. In diesem Fall ist man wohl eher dankbar, als normaler Leser durch die Grenzen technischer Reproduzierbarkeit vor der fleckigen Originalhandschrift geschützt zu sein. Abgesehen von diesem extremen Beispiel wirkt der von allen Beiträgen unterstützte Wunsch, der manchmal tänzerischen, manchmal sudelnden Dichterhand möglichst nahe zu kommen, aber berechtigt - und das mit oder ohne öffentliche Förderung.

ALEXANDER KOSENINA

Davide Giuriato, Stephan Kammer (Hrsg.): "Bilder der Handschrift". Die graphische Dimension der Literatur. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main, Basel 2006. 296 S. , br., 27,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Den seichten Ekel angesichts der Vorstellung, eine von undefinierbaren Flecken verzierte Handschrift de Sades in Händen zu halten, kann Alexander Kosenina beiseite wischen. Dass ein Dichter-Faksimile Erkenntnisgewinn zu bringen imstande ist und also mehr darstellt als Liebhaberei, daran glaubt Kosenina nicht erst seit der Lektüre des von Davide Giuriato und Stephan Kammer herausgegebenen Bandes. Allerdings haben ihm die Autoren auch einige besonders knifflige Fälle präsentiert. Einmal lässt schon die Handschrift des Dichters keine Eindeutigkeit zu (Robert Walser), ein anderes Mal, wie beim "autosodomistischen" de Sade, möchte man es so eindeutig dann auch nicht haben. Das Gros der enthaltenen Beispiele aber ist für den Rezensenten ein klares Plädoyer für das Faksimile.

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