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Der Gotthard ist seit historischen Zeiten das Wasserschloss und Zentralmassiv des europäischen Alpenraums. Er ist mythenumwoben, zivilisationsgetrieben und einem permanenten landschaftlichen Transformationsprozess ausgesetzt. Über fünf Jahre analysierten Marianne Burkhalter und Christian Sumi im Rahmen des Swiss Cooperation Programme in Architecture SCPA zusammen mit namhaften Experten das Gotthardgebiet.Das Projekt verbindet kartografische Forschungen, die geschichtliche Aufarbeitung technischer Entwicklungsprozesse, den sozialen und architektonischen Wandel und kulturwissenschaftliche Essays…mehr

Produktbeschreibung
Der Gotthard ist seit historischen Zeiten das Wasserschloss und Zentralmassiv des europäischen Alpenraums. Er ist mythenumwoben, zivilisationsgetrieben und einem permanenten landschaftlichen Transformationsprozess ausgesetzt. Über fünf Jahre analysierten Marianne Burkhalter und Christian Sumi im Rahmen des Swiss Cooperation Programme in Architecture SCPA zusammen mit namhaften Experten das Gotthardgebiet.Das Projekt verbindet kartografische Forschungen, die geschichtliche Aufarbeitung technischer Entwicklungsprozesse, den sozialen und architektonischen Wandel und kulturwissenschaftliche Essays zum Brennpunkt Gotthard.Die mehr als 30 grosszügig illustrierten und in der jeweiligen Originalsprache Deutsch, Englisch oder Italienisch wiedergegebenen Essays lassen eine Enzyklopädie des Wissens und einen opulenten Bildatlas zur Wahrnehmung, Reflexion und Konstruktion der Landschaft Gotthard von immensem Reichtum entstehen. Enthalten ist auch eine Pointcloud-Darstellung der Gotthardregion auf DVD, die einen virtuellen Flug über die alpine Landschaft mit all ihren Unebenheiten, Abgründen, Erhebungen, aber auch über technische Errungenschaften wie die Eisenbahnstrecken und die Autobahn ermöglicht.Mit Beiträgen von Silvio Ammann, Silvia Beretta, Marianne Burkhalter, Jakob Burkhardt, Lorenza Boschetti Cambin, Raffaella Carobbio, Laura Ceriolo, Jürg Conzett, Dario Ganzetti, Urs Fanger, Simone Garlandini, Jean-Lucien Gay, Christophe Girot, Albert Kirchengast, Karl Kronig, Jachen Könz, Rahel Lämmler, Massimo Laffranchi, Luigi Lorenzetti, Ricco Maggi, David Mauro, James Melsom, Stefano Miccoli, Mario Monotti, Ákos Moravánszky, Marco Pogacnik, Andrea Porrini, Dunja Richter, Anna Schindler, Lukasz Stanek, Sebastian Stich, Flavio Stroppini, Christian Sumi, Gian Paolo Torricelli, Martina Voser, Pascal Werner und Christian Zellweger.
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Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ganze dreieinhalb Kilo wiegt dieser prächtige bebilderte Band über den Bau des Gotthard-Tunnels, informiert Jürg Altwegg. Und auch inhaltlich ist dieses Werk äußerst gewichtig, fährt der Kritiker fort: Garniert von zahlreichen Abbildungen, Illustrationen, Plänen und Fotos findet Altwegg knapp vierzig Essays auf Deutsch, Englisch und Italienisch, nie zusammengefasst oder übersetzt, aber äußerst informativ. Geordnet nach den Themenbereichen Landschaft, Mythos und Technologie liest der Rezensent in dem von zwei Schweizer Hochschulen veröffentlichten Forschungsprojekt, wie bereits der erste Gotthard-Tunnel seinen Erbauer Louis Favre finanziell ruinierte und schließlich in den Tod trieb und wie sich das neue Mammutprojekt des Gotthard-Basistunnels, der am ersten Juni eröffnet werden soll, bereits in den vierziger Jahren entwickelte. Mit Verweisen auf Henri Lefebvre und Roland Barthes erfährt der Kritiker auch wie Tunnel und Passstraßen die Vegetation und die Wahrnehmung der Landschaft verändern. Insbesondere lobt Altwegg den Beitrag Peter von Matts, der den Gotthard als Motiv der Weltliteratur würdigt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2016

Jeder Tunnel führt zu einem neuen Berg

Nadelöhr Schweiz: Am 1. Juni wird der Gotthard-Basistunnel eingeweiht. Ein opulenter Sammelband untersucht, was das Mammutbauwerk für die Wahrnehmung der Landschaft bedeutet.

Wie wir in diesen Tunnel gelangt sind, weiß ich nicht", erklärt der Zugführer zum Reisenden, der sich als Einziger wundert, dass sie auch noch nach fünf, zehn und zwanzig Minuten in ihm stecken: "Ich besitze dafür keine Erklärung. Doch bitte ich Sie zu bedenken: Wir bewegen uns auf Schienen, der Tunnel muss also irgendwohin führen. Nichts beweist, dass am Tunnel etwas nicht in Ordnung ist, außer natürlich, dass er nicht aufhört." In Friedrich Dürrenmatts Erzählung "Der Tunnel" sind die Gleise in der Dunkelheit eine Metapher für ein Leben, das wie auf Schienen verläuft.

Sie führen nicht ans Licht, sie münden in die unabwendbare Katastrophe. Der vor einem Vierteljahrhundert verstorbene Dichter ist seinen Landsleuten mit der Beschreibung der Schweiz als Gefängnis, das von lauter Freiwilligen bewohnt wird, in Erinnerung geblieben. Die "Basler Zeitung" hat die 1952 erschienene Erzählung ausgegraben und abgedruckt: Besser kann man die Sinnfrage bezüglich des längsten Tunnels der Welt, den eines ihrer kleinsten Länder jetzt gebaut hat, nicht stellen. An seiner Zweckmäßigkeit macht die Zeitung erhebliche Zweifel geltend.

Der Gotthard-Basistunnel ist ein Projekt, wie es sich eigentlich nur die Science-Fiction vorstellen konnte. Doch schon in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte der Basler Carl Eduard Gruner Pläne für eine unterirdische Durchquerung der Alpen auf der Höhe des Flachlands entworfen: ein Tunnel, zu dem keine Rampen und Aufstiege mehr führen würden. In den neunziger Jahren wurden sie konkreter, damals hatte die Schweiz, das Eisenbahnland par excellence, ihre ersten ernsthaften Konflikte mit Europa seit dem Krieg - auch des Verkehrs wegen, der die Eidgenossenschaft überrollte - und will es dazu bringen, den Gütertransport von der Straße auf die Schienen zu verlagern. Es ist so weit: Am 1. Juni wird im Beisein der europäischen Regierungschefs von Angela Merkel bis François Hollande der siebenundfünfzig Kilometer lange Tunnel zwischen Erstfeld im Kanton Uri und Bodio im Tessin eröffnet.

Vor sechs Jahren konnte man den Durchstich live im Fernsehen verfolgen. Fast zentimetergenau war er in zweieinhalb Kilometer Tiefe erfolgt. Von beiden Seiten aus wurde gebohrt, durch Granit und Dolomit. Die beiden Röhren sind durch zahlreiche Querstollen miteinander verbunden - ein technisches Meisterwerk wie schon der erste Gotthardtunnel, der seinen Erbauer, den Genfer Louis Favre, im neunzehnten Jahrhundert in den finanziellen Ruin und in den Tod trieb: Bei einer Besichtigung brach er tot zusammen.

Als Begleitband zu diesen beiden Jahrhundert-Unternehmungen erscheint eine ebenso alle Dimensionen sprengende und die Gattungen überbrückende Dokumentation: "Der Gotthard, Il Gottardo". Sie geht auf ein Forschungsprojekt der Universität der Italienischen Schweiz und der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich zurück, das fünf Jahre in Anspruch nahm. Federführend waren Architekten. In drei Sprachen werden die rund drei Dutzend Essays präsentiert: Deutsch, Italienisch, Englisch - ohne Übersetzungen und Zusammenfassungen. Drei Themenbereiche wurden abgesteckt: Landschaft, Mythos, Technologie.

Hunderte von Abbildungen, Illustrationen, Plänen, Fotos enthält der Band auf tausend Seiten. Ausnahmsweise ist ein Hinweis auf das nicht nur intellektuelle Gewicht unerlässlich: der total unhandliche, geradezu lesefeindliche Wälzer bringt dreieinhalb Kilo auf die Waage. Beigefügt ist ihm eine DVD mit spektakulären Luftaufnahmen der Gotthard-Landschaften, die 2014 an der Biennale in Venedig gezeigt wurde. Die Schweizerischen Bundesbahnen SBB haben das Unternehmen "Der Gotthard" gesponsert und sich mit ihm ein einmaliges Denkmal setzen lassen.

Züge und Strecken werden beschrieben, Lokomotiven porträtiert, Fahrpläne und Plakate abgedruckt. Wer sich für den Bau von Skiliften interessiert, kann sich auf Dutzenden von Seiten darüber informieren. Die Briefmarken mit dem Motiv sind aufgelistet. Man erfährt, was mit dem Aushub geschieht und wie er die Landschaft verändert: Jeder Tunnel führt zu einem neuen Berg. Für den Gotthard-Basistunnel mussten dreizehn Millionen Kubikmeter einer neuen Bestimmung zugeführt werden. Vor Flüelen gibt es im See künstliche Inseln. Alfred Nobel hatte eine Dynamitfabrik gebaut, die man nur auf dem Seeweg erreichen konnte.

Tunnel und Passstraßen verändern die Vegetation und die Wahrnehmung der Landschaft: Für die Beschreibung ihrer Entwicklung über die "longue durée" hinweg werden Henri Lefebvre und Roland Barthes bemüht. "Narrative Perspektiven auf den Alpenraum folgen ästhetischen Konzepten", schreibt Akos Moravánszky und zeigt auf, wie sich die Erhabenheit der Natur mit dem Gebirge als Krone der Schöpfung auf die Bewunderung und den Kult der Technik überträgt.

Die Kunst ist wie die Kartographie in dieser monumentalen Darstellung bestens repräsentiert. Und für die Literatur hält man sich bekanntlich an Peter von Matt, der in "Das Kalb vor der Gotthardpost" deutlich macht, warum die Brücken, die man sprengen kann, und das Bohren von unterirdischen Bunkern in den Kern der eidgenössischen Identität vorgerückt sind. Nur ihr unterirdisches Tunnelsystem des "Réduit" hätten die Schweizer im Falle eines deutschen Angriffs im Zweiten Weltkrieg verteidigt.

Dass es dazu nicht kommen musste, hat genauso mit den Tunneln zu tun: Hitler konnte den Gotthard bis zuletzt als Transportweg für seine plombierten Züge benutzen. Bismarck hatte die Verbindung zwischen Deutschland und Italien, die sie zusammen mit der Schweiz finanzierten, gewollt und entschieden, dass sie nicht durch den Splügen gebohrt, sondern am Gotthard eröffnet wurde.

Der Tunnel war immer ein europäisches, auch ein politisches Projekt. Und für Peter von Matt ist der Gotthard überhaupt kein Mythos für Schweizer Dichter und antieuropäische Politiker, sondern von Goethe, der ihn bereiste, bis Friedrich Schiller und Dürrenmatt ein Motiv der Weltliteratur.

JÜRG ALTWEGG

Marianne Burkhalter und Christian Sumi (Hrsg.): "Der Gotthard, Il Gottardo".

Scheidegger & Spiess Verlag, Zürich 2016. 984 S., zahlr. Abb., 1 DVD, geb., 97,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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