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Die Chancen und Risiken biomedizinischer Entwicklungen werden innerhalb der Wissenschaft und in den Medien breit diskutiert. Wie aber erfolgt die Aneignung dieser Wissensbestände, wie kommt das neue Wissen »unter die Leute«?Im Mittelpunkt des Bandes steht genau diese Frage nach dem »Wie« der Weitergabe, Vermittlung und Aufnahme biomedizinischen Wissens in Alltagswelten - also nach der Prozessierung neuer biomedizinischer Wissensbestände. Anhand konkreter Beispiele werden verschiedene Mechanismen des Wissenstransfers vorgestellt, so dass sich eine analytische Grundlage für das Verstehen der lebensweltlichen Relevanz biomedizinischen Wissens eröffnet.…mehr

Produktbeschreibung
Die Chancen und Risiken biomedizinischer Entwicklungen werden innerhalb der Wissenschaft und in den Medien breit diskutiert. Wie aber erfolgt die Aneignung dieser Wissensbestände, wie kommt das neue Wissen »unter die Leute«?Im Mittelpunkt des Bandes steht genau diese Frage nach dem »Wie« der Weitergabe, Vermittlung und Aufnahme biomedizinischen Wissens in Alltagswelten - also nach der Prozessierung neuer biomedizinischer Wissensbestände. Anhand konkreter Beispiele werden verschiedene Mechanismen des Wissenstransfers vorgestellt, so dass sich eine analytische Grundlage für das Verstehen der lebensweltlichen Relevanz biomedizinischen Wissens eröffnet.
Autorenporträt
Liebsch, KatharinaKatharina Liebsch (Prof. Dr.) ist Professorin für Soziologie unter besonderer Berücksichtigung der Mikrosoziologie an der Helmut Schmidt Universität Hamburg. Sie ist Ko-Leiterin des Clusters OPAL (Organisation Personal Arbeit Leadership) an der HSU und forscht derzeit zur Technisierung von Pflege-Arrangements im Rahmen des Verbund-Projekts »Sorge-Transformationen. Forschungsverbund interdisziplinäre Carearbeitsforschung«. Weitere Schwerpunkte sind die Geschlechterforschung, die hermeneutische Wissenssoziologie und Normenanalyse, Körper- und Biopolitik sowie Kulturen des Privaten und der Intimität.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2011

Wie mit einer Phantomdebatte Marketing gemacht wird

Alle tun ganz aufgeregt: die Hersteller von Psychopharmaka, die Neuroforscher und ein Rudel von Ethikerinnen und Ethikern. Unter dem Stichwort "Hirndoping" werden Zukunftsphantasien großgeredet.

Vielleicht sollte man schon misstrauisch sein, wenn eine Sache nur unter ihrem englischen Namen neu klingt: Neuro-Enhancement. Die geistige Leistungsfähigkeit steigern? Das klingt wenig spektakulär, und wir kennen eine Fülle von Kulturtechniken, die diesem Zweck dienen. Es beginnt beim Ausschlafen und reicht über Kaffee, Tee, Zigarette bis zum beschwingenden Glas Sekt. Wer sich nicht stimulieren, sondern beruhigen will, greift zu Baldrian oder auch zu verschreibungspflichtigen Präparaten, wobei Schläfrigkeit die kognitive Leistung kaum steigern dürfte.

Dem allen steht seit einiger Zeit das Schlagwort Enhancement gegenüber: Fundamentale Neuerungen der Neuroforschung sollen Selbstmanipulationen bislang unbekannten Ausmaßes erlauben. Die Rede ist von "Hirndoping", einer "Neurorevolution" oder auch von einer "Enhancement-Epidemie". Und eine rasch wachsende Welle neuroethischer Literatur widmet sich der Frage, wie sich unser Wertesystem auf die bevorstehenden Herausforderungen von Neuro-Enhancement einrichten könnte. Eine ethische Debatte ist eröffnet: Werden im Bildungssystem und am Arbeitsplatz neue Ungleichheiten eingeführt? Ist den Leistungen des Gegenübers - weil gedopt - möglicherweise nicht zu trauen? Oder gilt man umgekehrt bald als Problemfall, wenn man nicht auch dopt, wo andere es tun? Verwandelt sich unsere Gesellschaft?

Einen ernüchternden Einwurf macht der Frankfurter Soziologe Torsten Heinemann in dem Band "Leben mit den Lebenswissenschaften". Er analysiert die Debatte über den neuen Weg zum klaren Kopf als Anzeichen einer "Medikalisierung", soll heißen: einer Ausweitung des medizinischen Zugriffs in Alltagsbereiche hinein, die bis vor kurzem nicht in ärztliche oder gesundheitspolitische Zuständigkeit fielen. Kognitive Leistungsfähigkeit zu steigern schlüpft unvermerkt in das Gewand einer medizinischen Maßnahme: Wir lernen, dass ein Normalzustand als behandlungsbedürftig gelten kann - und dass nun Ethikexperten eingeschaltet werden müssen, um mit dem "Neuen" der pharmazeutischen Möglichkeiten verantwortlich umzugehen.

Heinemann skizziert zunächst die populärwissenschaftliche Karriere des Hirndopings: Als spektakuläre Erfolgsgeschichten, die zugleich eine dramatische Warnung vor Suchtgefahren transportieren, besitzen Artikel über Neuro-Enhancement ein stereotypes Muster. Zweierlei ist zu vermerken: Erstens wird suggeriert, die Hirnforschung habe tatsächlich bereits brauchbare Medikamente hervorgebracht, zweitens scheint Ethikbedarf unausweichlich: Auch wenn sie das Problem zumeist im Stile eines Gedankenexperiments bearbeiten, steigen international wie auch in Deutschland unverzüglich Moralphilosophen und Ethikexperten (bislang mehrheitlich befürwortend) in die Frage nach der Vertretbarkeit von Hirndoping ein.

Dagegen steht nun aber die Empirie. Wie Heinemanns fächerübergreifender Literaturüberblick zeigt, kann weder von neuen Medikamenten mit spektakulären Leistungssteigerungsmöglichkeiten noch von ethisch neuen Fallkonstellationen wirklich die Rede sein. Im Gegenteil: Ob mittels der im Wesentlichen bekannten Präparate, die als "Neuro-Enhancer" in der Diskussion sind (Ritalin, Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie Prozac sowie verschiedene Betablocker), mentale Leistungen sich überhaupt positiv verändern lassen, ist empirisch offen.

Vor allem, wer übermüdet ist, zeigt nach Einnahme solcher Mittel messbar bessere Leistungen. Wer jedoch wach und ohnehin überdurchschnittlich leistungsfähig ist, dessen Werte sinken nach Einnahme der Medikamente eher ab. Dazu wirken allenfalls geringe Dosierungen positiv. Steigert man die Dosis, werden Leistungen messbar schlechter. Auch einschlägige Umfragen unter amerikanischen Hochschulangehörigen, die jeweils zu zehn bis fünfzehn Prozent (Studierende) oder gar zwanzig Prozent (Wissenschaftler) angaben, sich mit Tabletten mental fitzumachen oder schon fitgemacht zu haben, sagen allenfalls etwas über den Gebrauch der Mittel, nicht aber über den Erfolg. Der in Zürich lehrende Psychopharmakologe Boris Quednow hat Enhancement-Szenarien daher unlängst als "Phantomdebatte" bezeichnet, Heinemann spricht von "Zukunftsphantasien".

Bleibt die Ethikwelle. Warum gibt es sie, und wem nützt sie? Der Griff zum Medikament - die Anmutung, für alle Leiden gebe es Pillen - war schon in den siebziger Jahren Thema. Man vermutete Dunkelfelder und stark steigende Tablettensucht. Im Großmaßstab messen lassen sich tatsächliche Medikamenteneinnahmen heute wie damals nicht. In der aktuellen Debatte um Hirndoping kommt denn auch die Mehrzahl der Ethikexperten zu dem Ergebnis, ein offener Umgang mit "Neuro-Enhancern" sei angezeigt. Man dürfe die neue Möglichkeit nicht verteufeln, gesellschaftliche Folgeprobleme seien lösbar. Vergleiche mit dem Autoverkehr (auch er schafft Risiken), mit althergebrachten Mitteln (Medikament gleich Espresso) sowie die Frage der "Chancen" (was nicht allein bei der Arbeit nutzt, sondern auch glücklich macht, sollte erlaubt sein) bestimmen das Bild. Dazu kommt das zentrale Argument: Techniken, die vorhandene Probleme lösen, seien nicht aufzuhalten (die Sache kommt so oder so), oder sie seien objektiv nötig (weil die Gesellschaft unterdurchschnittliche Leistungen irgendwann tatsächlich als Krankheiten sehen wird).

Heinemann deutet die eigenartig anlasslose und - was die Argumente angeht - auffällig oberflächliche Debatte als Indiz für einen "neuen Modus von Medikalisierung", also als Vorstoß, der seinen Grund weder in qualitativ neuen Produkten der Neuroforschung hat noch in einem wachsenden Doping-Bedarf der Bürger. Vielmehr werden Argumente eingeübt, die uns gewissermaßen auf die Pillen als auch jenseits von Krankheit einsetzbare Medizin einstellen - uns also bereits gewöhnen an das Pro und Kontra neurogedopter Erfolgsgeschichten, ohne dass es entsprechende Medikamente überhaupt gibt. Es geht nicht um die Mittel, es geht um das Auswendiglernen von Gebrauchsanweisungen, entweder für einen kommenden Markt oder aber zur Umnutzung vorhandener Medikamente.

Bei Heinemann wird die Enhancement-Debatte in den Zusammenhang des Erfolgs- und Leistungsdrucks gestellt, mit dem wir in der "wissensbasierten Ökonomie des Neoliberalismus" leben. Er geht also davon aus, dass die Debatte letztlich durch Nachfrage getrieben funktioniert: Sind die Menschen hinreichend gestresst, werden sie das populärwissenschaftlich vermittelte "neue Wissen" und im Zweifel dann auch die Pillen haben wollen. Zweifellos, möchte man ergänzen, kommt die Diskussion über Neuro-Enhancement aber auch der Anbieterseite zupass, der Neuroforschung also, den Herstellern von Psychopharmaka, den auf Neurothemen eingerichteten Massenmedien und vor allem den Ethikerinnen und Ethikern, welche die Debatte gern vorweg schon einmal führen. Im System Wissenschaft heißen solche Debatten Wissenschaftsvermittlung. In der Wirtschaft spräche man von Marketing.

PETRA GEHRING.

"Leben mit den Lebenswissenschaften". Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt?

Hrsg. von Katharina Liebsch und Ulrike Manz. transcript Verlag, Bielefeld 2010. 278 S., br., 28,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Marketing meets Wissenschaftsvermittlung, wenn es um Neuro-Enhancement geht, bemerkt Petra Gehring ergänzend zu Torsten Heinemanns Analyse der Debatte ums Hirndoping. Wenn schon der Verbraucher keinen messbaren Nutzen hat von der Medikalisierung seines Alltags, so schließt Gehring aus Heinemanns Beitrag in diesem Band von Katharina Liebsch und Ulrike Manz, haben immerhin Ethiker und Pharmabranche ihren Vorteil. Eine Erkenntnis, zu der ihr Heinemanns Darstellung der Hirndoping-Karriere verhilft. Vor allem seine quellengestützte Darlegung der Tatsachen lässt sie staunen: Keine Leistungssteigerung, keine ethisch neue Fallkonstellation, nirgends. Dafür viel heiße Luft, bestenfalls Zukunftsmusik ferner Märkte, auf die der Konsument schon mal eingestimmt wird.

© Perlentaucher Medien GmbH