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Ein Überfall auf die Leserschaft. Exzentrisch, egoman und extravagant. Ein Mahlstrom der Zeit. Hinreißende Literatur.Dieses Buch gönnt dem Genre Roman eine Pause. Es sprengt dessen Grenzen und kreiert ein ganz eigenes Format. Ein Tagebuch? Ja, aber...Fast täglich schreibt Zschokke zwischen 2002 und 2008 auf, was ihm durch den Kopf geht und festgehalten werden muss: Es sind Auseinandersetzungen mit der Welt, der Zeit, der Literatur, mit der Musik, dem Theater, der Kunst: Kollegenbeschimpfungen, Reiseberichte, ja, sogar politische Marginalien.Aber all das ist nicht zur Selbstreflexion bestimmt,…mehr

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Produktbeschreibung
Ein Überfall auf die Leserschaft. Exzentrisch, egoman und extravagant. Ein Mahlstrom der Zeit. Hinreißende Literatur.Dieses Buch gönnt dem Genre Roman eine Pause. Es sprengt dessen Grenzen und kreiert ein ganz eigenes Format. Ein Tagebuch? Ja, aber...Fast täglich schreibt Zschokke zwischen 2002 und 2008 auf, was ihm durch den Kopf geht und festgehalten werden muss: Es sind Auseinandersetzungen mit der Welt, der Zeit, der Literatur, mit der Musik, dem Theater, der Kunst: Kollegenbeschimpfungen, Reiseberichte, ja, sogar politische Marginalien.Aber all das ist nicht zur Selbstreflexion bestimmt, sondern hat ein Du. Was Zschokke notiert, ist für ein Gegenüber, den Freund Niels, bestimmt. Also ein Briefroman in seiner modernen Form, der Mail? Ja, aber...Niemals waren die Mails, als sie geschrieben wurden, zur Veröffentlichung bestimmt. Das erklärt ihre Frische und Spontaneität. Der sie schreibt, ist ein wacher, staunender, spöttisch ironischer und selbstironischer Mensch. Er fragt etwas, sich selbst oder das Gegenüber, er probiert Antworten, poltert los, nimmt alles zurück und kommt zu ganz neuen Einsichten. Und Fragen! Eine mitreißende Neugier zieht sich durch alles, und man selbst gerät ins Staunen und sieht plötzlich klarer auf die Dinge. Eine Fundgrube ist dieses Buch, ein Wunderding.Ab Mitte Januar 2011 vorab unter www.lieberniels.wordpress.com
Autorenporträt
Matthias Zschokke, geb. 1954 in Bern, aufgewachsen in Aargau und Bern, lebt seit 1979 als Schriftsteller und Filmemacher in Berlin. 1982 debütierte er mit dem Roman »Max«, für den er den Robert-Walser-Preis erhielt. Zschokke veröffentlichte zahlreiche Romane, Theaterstücke und Spielfilme. Er wurde mit renommierten Preisen gewürdigt, darunter der Gerhart-Hauptmann-Preis, der Solothurner Literaturpreis und der Prix Femina étranger für den Roman »Maurice mit Huhn«.Für seinen Roman »Der Mann mit den zwei Augen« wurde Matthias Zschokke mit dem Eidgenössischen Literaturpreis 2012 ausgezeichnet und 2014 mit dem Großen Literaturpreis der Stadt und des Kantons Bern.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2011

Porträt des Künstlers als wunder Mann

Matthias Zschokke nimmt in seiner Mail-Chronik kein Blatt vor den Mund. So entsteht die radikal ehrliche Besichtigung eines Schriftstellerlebens.

Von Nicole Henneberg

Manische Brief-und Tagebuchschreiber muss man sich als kämpferische, glückliche Menschen vorstellen: Sie sind zwar einsam und misstrauisch, haben aber mindestens einen, der ihnen aufmerksam zuhört. Sie können nach Belieben zerknirscht beichten oder auftrumpfen - das Geschriebene ist in der Welt, also in gewisser Weise wahr.

Niels Höpfner, der langjährige Freund und begeisterte Leser von Matthias Zschokke, hat im Lauf von achtundzwanzig Jahren mehr als dreitausend Briefe und Faxe von ihm und, seit 2002, Tausende von E-Mails gesammelt. An eine Veröffentlichung hatten beide nie gedacht, was den besonderen Reiz dieser Korrespondenz ausmacht: Sie ist völlig ungeschützt und ohne jeden Gedanken an literarische Stilisierung entstanden, auch wenn für die jetzige Ausgabe manches gestrafft wurde. Aber es können keine großen Eingriffe gewesen sein, denn man spürt am Rhythmus und Tempo der Sätze genau, wann der Schreiber sich vergisst, wann ihn der Furor packt und wann er den abwesenden Freund dringend überzeugen oder herbeizaubern will.

Schon die Schreibsituation, ein Zimmer in einem ehemaligen Fabrikgebäude, mitten in einem der spannungsreichsten Viertel Berlins, zwingt zur Mitteilung. Auch die bizarren und trostlosen Orte ringsum, die Armut und seelische Not der Menschen drücken auf die Seele. Türkische Männer und Frauen eilen auf dem Weg zum Gebet am Arbeitszimmer vorbei, aus den Fenstern der Moschee im oberen Stockwerk schallen im Sommer die Koransuren. Dass die Gläubigen ihren Nachbarn auch nach Jahrzehnten keines Wortes oder Blickes würdigen, verstört diesen zutiefst. Also tröstet und ermutigt Niels, gibt praktische Ratschläge, schimpft manchmal - doch in allen schwierigen literarischen Lebenslagen ist er da, antwortet jeden Tag, und wenn er einmal verhindert oder verreist ist, schickt der Autor vorwurfsvolle Hilferufe. "Ohne dich hätte ich mich wahrscheinlich schon längst aufgegeben", schreibt Zschokke im November 2007.

Deshalb ist die Mail-Chronik "Lieber Niels" auch keine sanfte Lektüre, im Gegenteil: In ihr weht, neben Melancholie und Spottlust, der Geist der Empörung. Alles, was dem schreibenden Ich unecht, feige und nur auf schnelle Wirkung hin kalkuliert erscheint, seien es nun Filme, Bücher oder Theaterstücke, geißelt er gnadenlos. Und das Spinnennetz des Literaturbetriebs mit seinen Schleimern, Musterschülern, Intriganten und selbstherrlichen Kritikern, die er alle beim Namen nennt, hasst Matthias Zschokke ohnehin. Aber es geht in diesem siebenhundert Seiten dicken Buch nicht um Betriebsschelte oder Ressentiments, auch wenn die betreffenden Passagen sich so vergnüglich lesen wie ein Thomas-Bernhard-Lamento und genauso punktgenau treffen - oder völlig am Ziel vorbeischießen. Es geht um das radikal subjektive Erzählen eines schriftstellerischen Alltags, um den sprachgenauen Blick auf ein hochsensibles, narzisstisches, verletzliches und liebessüchtiges Ich, das sich jeden Tag zwischen deprimierender Zeitungslektüre, kränkenden Mailanfragen und zermürbenden Geld- und Schreibproblemen neu zu verorten und zu motivieren sucht.

"Ich sollte endlich einen Entkrampfungskurs besuchen. Bin nun schon so alt. Erstaunlich, dass ich immer noch so viel Kraft und Energie habe zum Einkrampfen", schreibt er im November 2007 über eine seiner vielen missglückten Lesungen. Diese "an Hysterie grenzende Empfindlichkeit", mit der er lebenslang kämpft und die ihm schon die Schauspielerei verleidete, ist so ziemlich das Schlimmste, was einem Schriftsteller, der von Auftrittshonoraren lebt, passieren kann. Denn Grund zur (oft berechtigten) Klage gibt es immer. Entweder ist der Raum stickig oder leer, der Begrüßende herablassend oder dumm, das Honorar beleidigend niedrig. Alles wie im billigsten Tingeltangel, nur soll der Künstler literarische Hochseilartistik abliefern! Ganz zu schweigen von den Kämpfen mit seinem früher begeisterten, jetzt in schweren Geldnöten steckenden Verleger, der so impertinent einen Bestseller fordert, als hätte er keine Zeile seines Autors gelesen.

Natürlich können so beunruhigende, hochkonzentrierte Bücher wie "Max", "Das lose Glück" oder der fulminante Großstadtroman "Maurice mit Huhn" keine Massenerfolge werden, dazu sind sie viel zu kunstvoll. Aber der gekränkte Autor, dem sogar Niels manchmal Erfolgstipps zu geben versucht, faucht und wütet und verdächtigt alle, ihn in die "Niederungen des Kultursöldnertums" zwingen zu wollen: "Wir reisen rund um die Welt in Sachen Kultur, logieren in Kasernen, essen in Spelunken, blöken irgendwelche Plattitüden daher über Schweizer Literatur, tragen unseren kargen Sold nach Hause." Merkwürdig nur, dass der unmittelbare Anlass für diesen Ausbruch ein prachtvoller, vom Schweizer Botschafter ausgerichteter Abend war!

Es macht den Reiz dieser zwischen Brief, Tagebuch und Alltagsgespräch angesiedelten, in ihrer Sensibilität und Offenheit hochaktuellen Form aus, dass sie ständig zwischen Banalem und Literarischem hin- und herpendelt. Aus den Computernöten des Autors entwickelt sich ein kleine Poetik, aus dem Jammern über Kopfschmerz und Kater die funkelnde Schilderung eines melancholischen, aus der Zeit gefallenen Abends, und aus Niels' ignorantem Lästern über Muslime eine liebevolle Reiseerzählung. Das Ich, das hier spricht, hadert mit sich und seiner Ungeschicklichkeit und Schüchternheit, fühlt sich dem Alter ausgeliefert und klammert sich panisch an das Schreiben. So groß ist diese Angst, dass der Autor momenteweise sogar Niels misstraut, der ihm zu einem grandiosen und verrückten Internetauftritt verholfen hat (www.angelfire.com), samt abenteuerlicher Vita (Aktmodell, Schauspieler, Tierpfleger etc.) und behauptet: "Zutiefst überzeugt davon, dass ich Kunst schaffe, bist du nicht. Doch das sagst du mir nicht, so wie du mir auch nie sagen würdest, dass es keinen Osterhasen und keinen Weihnachtsmann gibt." Niels kann (in seinen nicht abgedruckten, aber mitschwingenden Antworten) noch so zynisch wüten: Der Erzähler glaubt an das Wunder der Kunst, an ihre Sprünge und Unwägbarkeiten. Diese Offenheit des Herzens macht ihn scharfsichtig und blind zugleich. Niemand kann so kindlich begeistert, so leicht und witzig einen philosophischen Trash-Abend von Renée Pollesch in den Himmel loben oder mit wenigen, giftigen Sätzen eine bedeutungsschwangere Inszenierung von Jonathan Meese zur Hölle schicken. Nur was die Einschätzung gleichaltriger Autoren angeht, ist unser Mailschreiber sonderbar blind. Ausgerechnet den selbstkritischen und skrupulösen Ulrich Peltzer degradiert er zum gestählten Formulierungs- und Denkmuskelmann und behauptet, Autoren wie er gäben "nichts preis von ihrem Denken und Leben".

Verblüffend ist die Nähe des hier Schreibenden zu seinen Romanfiguren: der schüchterne Eigenbrötler Maurice, der im Wedding arbeitet, sich jeden Weg aus dem Haus selbst abtrotzen muss und den Alltag als beunruhigendes Abenteuer erlebt, muss ein Double von Matthias Zschokke sein, der sich von Zumutungen umgeben fühlt und vom Auswandern träumt. Und die Empfindlichkeiten und Zögerlichkeiten von "Max" sind in fast jeder Mail zu spüren.

Sind die Romane also autobiographisch, die elektronischen Briefe Erzählungen? Zum Glück für den Leser sind die Grenzen offen, denn die Mails gehen vom selben Existenzpunkt aus wie die Romane (und die Theaterstücke und Filme): Sie handeln von einem Ich, das sich mit jedem Atemzug und jeder Bewegung an der Welt reibt und sich gegen seinen Willen ständig in ihre Netze verstrickt. Mit größter Begeisterung hat Matthias Zschokke die Briefe von Gottfried Benn an Oelze gelesen - ihr Stil und ihre klare, oft eigensinnige Haltung haben eindeutig Spuren hinterlassen, ebenso die Tagebücher von Samuel Pepys mit ihrer Schonungslosigkeit und schieren Masse: Genauso überzeugend bilden diese Mails den "Mahlstrom der Zeit" (Nils Höpfner) ab. Der aber fließt hier tänzerisch anmutig, hoffnungsvoll und leicht, und erzeugt einen unwiderstehlichen Lesesog. Die Mails "An Niels" machen süchtig!

Matthias Zschokke: "Lieber Niels".

Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 764 S., geb., 29,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.04.2011

Die beflügelnde Wirkung des Totalbankrotts
Er schimpft und schwärmt, hadert mit Hamlet, sich selbst und dem Betrieb: „Lieber Niels“ – 1500 elegant-maliziöse Mails des Schweizer Wahlberliners Matthias Zschokke
„Lieber Niels“ ist ein Pakt zwischen Voyeur und Exhibitionist. Über zwei kleine Hürden muss man also vor der Lektüre springen, denn man mag ja nicht in der Mailbox eines anderen herumschnüffeln, und wenn man der Versuchung doch nicht widersteht, dann leugnet man es wenigstens. Und man mag den Exhibitionisten nicht, der einem unverblümt seine Intimereien präsentiert. Wenn man solche Bedenken überwunden hat und mit dem Autor paktiert, dann ist dies der Beginn einer äußerst vergnüglichen und stets diskreten Komplizenschaft.
Insbesondere weil Matthias Zschokke ein umgekehrter Exhibitionist ist: Er zieht sich nicht aus, sondern an. In den rund 1500 E-Mails, die der 1954 geborene Schweizer Autor und Wahlberliner zwischen 2002 und 2009 an seinen besten Freund, den Publizisten und Autor Niels Höpfner gesendet hatte, kleidet er das, was er empfindet und denkt in eine Sprache, die leicht und präzis ist, dabei lebendig und von großer Anschaulichkeit. Und zwar egal, ob es sich um DSL-Internetzugang, Don Karlos, Hausschuhe aus Schangnau, Peter Hamm, The Wrestler, die Ostsee, das Rosamunde-Pilcher-Land, Mayröcker, Alterserscheinungen oder Mietzinserhöhungen handelt.
Zschokke beschreibt seine Alltage mit einer Aufmerksamkeit fürs Detail, die den Ereignissen auf der Straße, Zuhause, auf Reisen, im Kulturbetrieb, in den Zeitungen, am TV eine Gleichwertigkeit verleihen, die dem Leben mit all seinen Facetten Respekt zollt. Das Schwergewicht liegt dennoch auf Seiten der „Hochkultur“, der Vorder- und Hinterbühne des Kulturbetriebs in Deutschland und der Schweiz, woraus der Hauptanteil des immensen Personals stammt, das hier auftaucht, Literaten, Schauspieler, Regisseure, Kritiker, Kulturattachés, Verleger, Professoren. Lektüren, Theater-, Konzert- und Kinobesuche führen zu empörten Verrissen und zu Lobeshymnen, ebenso die Urlaubsreisen, Lesereisen und längeren Auslandsaufenthalte, die ihm während dieser Jahre als Writer in Residence gestiftet wurden, in Budapest, Amman und New York.
Eine ganz persönliche Kulturgeschichte und -auseinandersetzung des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts also, und eine zeitgenössische Illustration zu Pierre Bourdieus „Die Regeln der Kunst“: Das Feld der deutschsprachigen kulturellen Produktion wird kommentiert aus der Position eines teils arrivierten Schriftstellers, Dramatikers und Filmemachers, der zwar Preise erhält, finanziell aber stets dem Totalbankrott nahe ist. Der um Lebensunterhalt und Lebensqualität und seine künstlerischen Projekte kämpft und bangt.
Es ist aber nicht etwa eine gehässige Abrechnung mit dem Betrieb, der ihn zu stiefmütterlich behandeln würde, dafür ist Zschokke viel zu wenig verbittert, viel zu lebenshungrig, viel zu humorvoll, viel zu klug. Es ist die Geschichte eines „armen Poeten“, der nicht anders kann und dies sehr überzeugend. Es ist ein Plädoyer für die reine Kunst im Zeitalter ihrer kommerziellen Verwertbarkeit, ihre Verteidigung gegen bloßes, trickreiches Handwerk, „Klassenprimus-Prosa“, intellektuelles „Wortgeklingel“, textvergessenes und videobesessenes Theater. Das klingt manchmal düster, manchmal boshaft, manchmal verzweifelt, niemals kalt, oft komisch und umso beglückender, wenn Zschokke Euphorie und Begeisterung befallen.
Über Thomas Mann regt er sich wunderbar auf, über die „Reich-Ranicki-Kultur“, Castorf, über das „Geschwurbel“ in Shakespeares Hamlet: „ ,Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedanken Blässe angekränkelt.‘ Wie bitte?“ Oder über eine Aufführung von Jonathan Meese: „Insgesamt hatte ich den Eindruck, Meeses Dramaturgie hatte es darauf abgesehen, seinen Tanten einen Schreck fürs Leben einzujagen. In der Aufregung hatte er aber nicht daran gedacht, dass seine Tanten in Oldenburg leben und dem Ereignis gar nicht beiwohnen konnten. So saßen da lauter Berliner, die sich zu Recht nicht gemeint fühlten, und warteten darauf, dass sich die Angelegenheit mit seinen Tanten erledigen würde. Irgendwie tat sie das aber nicht. Immer wieder zog er brüllend schreckliche Grimassen und tauchte hinter einer Ecke hervor.“ Bei allem Geschimpfe und aller Schärfe gegenüber Kollegen und Kolleginnen – er bleibt dabei immer nah an der Sache dran. Keine Häme, keine Missgunst, und um seinen Neid weiß Zschokke selbst.
Begeisterung zum Beispiel angesichts von Joaquin Phoenix: „Eine Jahrhundertsensation, dieser Mann; ein Marlon Brando, ein James Dean.“ Nach einem Abend in der Komischen Oper: „Händels Alcina, von einem Engländer fabelhaft dirigiert, mit einer Einspringerin aus England als Alcina, die so wunderschön gesungen hat, dass mir die Tränen in die Augen gestiegen sind. Ich saß da mit Gänsehaut und war glücklich. So traurig, so licht, so überirdisch. Wahrscheinlich habe ich einen zukünftigen Weltstar gehört. Vier Stunden lang, bis zuletzt, jeder Ton einfach da, wo er sein sollte, ganz selbstverständlich, uneitel.“
Zu Genazino: „Neben ihm zu lesen ist zum Verzweifeln. Er ist zur Zeit absolut auf der Höhe seines Könnens. Die Passagen, die er ausgewählt hatte (aus dem neuesten Buch), waren makellos. Die Pointendichte enorm. Er las brillant. Er sprach brillant (klug, druckreif, leicht verständlich, ernst).“ Aber auch Karl Lagerfeld, ein deutscher Schlager, ungarischer Wein, Krakau, Italien, die alten Museumswärterinnen in St. Petersburg oder die deutsche Fußballnationalmannschaft der WM 2006 und EM 2008, deren Gelingen Berlin in ein einziges freudiges Fest verwandelte, bringen Zschokke zum Schwärmen.
Es ist ein Buch, bei dem man keinen Tag überspringen möchte, auch wenn man ahnt, dass alles sich immer im etwa Gleichen fortbewegen wird, aber im Kleinen ist das Leben unberechenbar, es hält Dutzende Minigeschichten bereit, zum Beispiel die traurige des Herrn Möckli, Nachtportier im Hotel Limmathof in Zürich, oder jene vom Flusskrebs, der eines Tages im Hof von Zschokkes Ateliers in Wedding liegt, und für dessen Fleisch sich nicht einmal mehr die Vögel interessieren. Und irgendwie hofft man romantischerweise dennoch auf Großes, dass er das Filmprojekt „Die Unvollendeten“ durchbringen wird, die nötigen Gelder erhält, die Produzenten mitziehen.
Man will wissen, wie es dem Buch „Maurice mit Huhn“ ergeht, welches 2003 plötzlich fertig geschrieben ist – sozusagen zwischen den dokumentierten Tagen entstanden –, ob der Ammann-Verlag sich dafür engagieren wird, wie die Kritiker und Leser darauf reagieren werden, und nimmt gerne an jeder Lesung teil, die Zschokke mit einem lächelnden und einem zugekniffenen Auge zu halten nicht drumrum kommt. Es ist ein Reisebuch mit unzähligen Restaurants-, Hotel- und Ausflugstipps in Klein- und Großstädte und unbedeutende Gegenden, und man wird von diesem heftigen Reisefieber angesteckt. Sogar Zürich entdeckt man neu. Berlin sowieso. Aber auch Krakau, Amman, Budapest, die Ostsee, St. Petersburg oder die Côte d’Azur.
Wenn man nicht schon Zschokkes „Auf Reisen“ (2008) kennt, dann kann auch „Lieber Niels“ als Reiseführer und Inspiration dienen. Und nicht zuletzt bewundert man die Freundschaft dieser zwei Männer, die sich gegenseitig unermüdlich anregen und antreiben, aufmuntern und schelten, herausfordern, beraten und bisweilen heftigst streiten: über Moscheen in Köln, Obama, Handke, Arabien. Ein plastischer Dialog, obwohl die andere Stimme nur als Leerstelle da ist, reflektiert allein in Zschokkes auf den Freund bezogenen Antworten, Fragen und Kommentare.
Als „exzentrisch, egoman & extravagant“ führt Niels Höpfner dieses Buch ein. Man möchte es lieber elegant, eigenwillig und ehrlich nennen, mal saignant, mal à point, mal bien cuit, durchzogen von köstlicher Ironie und maliziösem Humor. Ein kunterbunter Schatz, eine Zeitkritik eines in vielerlei Hinsicht unzeitgemäßen, aber stets gegenwärtigen Dichters.
SUSANNE GMÜR
MATTHIAS ZSCHOKKE: Lieber Niels. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 764 Seiten, 29,90 Euro.
Matthias Zschokke ist ein umgekehrter Exhibitionist: Er zieht sich nicht aus, sondern an. In den rund 1500 E-Mails, die der 1954 geborene Autor zwischen 2002 und 2009 an seinen Freund Niels gesendet hat, kleidet er das, was er denkt und empfindet, in eine leichte und präzise Sprache, die perfekt sitzt.  
Foto: Philippe Matsas/Opale
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Nicole Henneberg ist süchtig nach den Briefen und Mails des Autors Matthias Zschokke an seinen treuen Freund Niels Höpfner. Allerdings sollte ihr der dicke Band auch genug Stoff geben. Voll mit höchst subjektiver Alltagsbeschreibung aus der Schriftstellerklause in Berlin Kreuzberg, scheint Zschokkes Brief-Tagebuch Henneberg nicht einen Moment zu langweilen. Im Gegenteil, das ungeschützte Drauflosreden, -theoretisieren, -schimpfen (auf den Literaturzirkus), -jammern (über Schaffenszweifel) und -um-Liebe-betteln des Autors regt sie auf und an. Die thematische Mischung aus Banalem und Literarischem gefällt ihr. Das Offenherzige der Texte zeigt ihr einen scharfsichtigen und zugleich blinden Menschen bei der Arbeit, im Leben.

© Perlentaucher Medien GmbH