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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Fühlt an meinen Liedern, daß ich eins und doppelt bin
Offizieller Begleiter seiner selbst: Sascha Anderson mimt das Delphische Orakel / Von Jörg Magenau

Sascha Anderson ist ein Name, den man ab sofort in Anführungszeichen setzen muß. "Sascha Anderson" heißt ein Buch, das auf den Autor verweist und doch zugleich eine Leerstelle schafft. Ist "Sascha Anderson" der Titel, dann fehlt der Autor, ist es der Autor, dann fehlt der Titel. Auf dem ansonsten leeren Umschlag ist der Name deshalb in der Mitte zerbrochen und in zwei Teile zerlegt. Er ist Funktion und Person, vielleicht aber auch nur eine Erfindung seiner selbst. "Sascha Anderson" hat sich gut versteckt, indem er sich öffentlich macht. Er ist nicht zu greifen.

Damit ist über dieses rätselhafte, merkwürdige Buch, das Autobiographie nicht sein will und Roman nicht sein darf, fast schon alles gesagt. "Sascha Anderson" hat sein Leben so aufgeschrieben, wie es ihm möglich war: als "Geschichte, die ich mir selbst erzähle". So lautet der Schlußsatz seines Buches. Über andere hat er in seiner fast zwanzigjährigen Tätigkeit als Stasispitzel ausführlich genug Bericht erstattet. Seine Führungsoffiziere waren sein Publikum und seine Leser. Seine über tausend Seiten Stasiprotokolle werden Andersons Hauptwerk bleiben, neben dem die Lyrikbände, die er in den achtziger Jahren als Szene-Zampano des Prenzlauer Bergs veröffentlichte, nur noch als Marginalien erscheinen. Heute spricht "Sascha Anderson" nur noch über sich und vor sich selbst. Er tut das nicht, um sich zu rechtfertigen. Dazu ist er zu klug und die Sachlage zu klar. Seine Schuld steht für ihn außer Zweifel. Doch sie hat nicht viel zu bedeuten.

In seiner eigenen, schwer verständlichen Sprache klingt das so, als spräche das Delphische Orakel: "Der ich mir einbilde zu sein, der ich nicht bin, schreibt den, der sich findet in dem, was geschrieben steht. Wie denn sonst. Die Literatur, in der ich nicht vorhanden bin, weil ich mich nicht verstehe, muß ich selbst schreiben." Das Publikum, das es für "Sascha Anderson" zweifellos gibt, ein Publikum, das auf Geständnisse, Sensationen, Abgründe rechnet, wird enttäuscht sein. Man muß schon ein dezidiertes Interesse an psychopathologischen Strukturen mitbringen, um diesem spätexpressionistischen Wortgeklingel etwas abgewinnen zu können. Mit herkömmlichen Kriterien der Literaturkritik ist nicht viel auszurichten. Es geht nicht um eine Geschichte, sondern um einen Fall. Es geht nicht um eine Formfindung, sondern um ihre Auflösung. "Sascha Anderson" ist der Versuch, eine Identität zu gewinnen oder vielmehr zu vermeiden, was in seinem Fall dasselbe ist. Es ist der Entwurf einer Identität als multipler Gestalt.

Das Buch ist in einem atemlosen Stakkato gehalten, ein Hetzgang durch ein Leben, das sich der Leser aus Einzelbildern und Andeutungen selbst zusammenreimen muß. Über die Kindheit von "Sascha Anderson" kursierten früher am Prenzlauer Berg so viele verschiedene Geschichten wie es Zuhörer gab. Jeder bekam eine andere Erzählung, und so kann "Sascha Anderson" nichts anderes sein als eine weitere Variante dieser Geschichten. Kurz gesagt, ist es die Geschichte eines verlassenen Kindes, das vergeblich um die Liebe seiner Eltern buhlt, unter Verlassenheitsgefühlen leidet und schließlich in familiärer Eintracht mit Vater Staat und Mutter Kunst ein neues Zuhause für sich entwirft. Weil der Vater als Schauspieler am Theater arbeitete, sind dem Protagonisten Rollenspiele von klein auf vertraut. Vor anderen Kindern spielt er den Stummen, der seine Botschaften auf Zettelchen schreiben muß, ganz so, als habe er da schon für später geübt. Doch seine Traumrolle findet er erst in reiferen Jahren: "ich als Begleiter meiner selbst". Die Karriere vom Schriftsetzer zum Lyriker, Ausstellungsmacher und großen Organisator, der die Szene, die er bespitzelte, selbst hervorbrachte, lief wie in Trance als Fluchtbewegung vor sich selbst. "Sascha Anderson" relativiert die Bedeutung der DDR-Avantgarde mit Blick auf die westlichen Medien, die in den Ost-Berliner Ateliers Schlange standen und mit ihren Kameras eine Oppositionsbewegung aus dem ziellosen Aktivismus heraus vergrößerten. "Sascha Anderson" relativiert aber auch die eigenen Zuträgerdienste, die sich von seinen anderen Aktivitäten kaum unterscheiden. Systematisch verwischt er die Grenzen zwischen Kollaboration und Autonomie.

Die Ausflüchte in die Selbstvervielfachung funktionieren nur mit stilistischer Indifferenz. "Sascha Anderson" ist so geschrieben, daß niemand den Text restlos verstehen kann, vermutlich nicht einmal der Autor selbst. Viele Sätze sind unvollständig und schieben sich verblos wie Inventurlisten hintereinander. Namen werden wie Begriffe benutzt und atemlos aneinandergereiht, so daß die zugehörigen Personen kein Eigenleben gewinnen können. "Sascha Anderson" hantiert mit leblosen Schablonen. Viele Freunde, Freundinnen und Kollegen tauchen auf, ohne daß man jemals erfährt, wie es für einen Spitzel möglich ist, Beziehungen unter der Allgegenwart der Lüge überhaupt zu führen. Die Künstlerfreunde sind nicht mehr als Moleküle einer Stoffmasse, die irgendwie so zu ordnen wäre, daß sich daraus "Sascha Anderson" ergibt. Die Erinnerung funktioniert so bruchstückhaft, als handle es sich um eine Scherbensammlung, die sich nicht mehr zusammensetzen, sondern nur noch ausschütten läßt.

Um das disparate Material zu formen, hat "Sascha Anderson" den Text in Kapitel und Unterkapitel durchnumeriert wie eine Magisterarbeit und mit Fußnoten versehen, die das Einfache erklären, ohne das Dunkel des gesamten Textes zu erhellen. Man erfährt, daß es sich bei der Defa um die "Deutsche Film-Aktiengesellschaft" handelt, oder daß man sich unter einem "strammen Max" doch bitte präzise "eine Scheibe Schwarzbrot mit Schinken unter einem Spiegelei" vorzustellen hat. So erschöpft sich "Sascha Anderson" in einem leerlaufenden Gestus des Verdeutlichens, der zur Parodie mißrät.

"Sascha Anderson" ist nicht in Erklärungen zu finden, und nicht in der Erzählung, sondern allenfalls in der zersplitterten Form selbst. Glück definiert er als jenen Augenblick, der ihn "aus der Form zurückwirft. Zurück in eine frühe Gestaltvielfalt". So ergibt sich das Bild eines Menschen, der spürt, daß in ihm nichts als Leere ist. Warten, Empfindungslosigkeit oder "aktive Passivität" sind die bestimmenden existentiellen Kategorien. "Sascha Anderson" bezeichnet sich als "Herdentier mit Angst vor Einsamkeit und vor Berührung". Damit ist er an der Stelle angelangt, in der er für die Stasi brauchbar wurde. Seine Führungsoffiziere schienen ihm beide Ängste gleichzeitig mildern zu können und trieben ihn mit ihren Gesprächsangeboten doch nur in die Abhängigkeit wie Dealer einen Drogensüchtigen.

"Sascha Anderson" betreibt Aufklärung als Verdunkelung. Er ist zum informellen Mitarbeiter seiner selbst geworden, bei dem Information und Desinformation, Konstruktion und Dekonstruktion zusammenfallen. Seine Prosa ist die Fortsetzung seiner Aufklärungsarbeit mit anderen Mitteln. Man könnte auch von der Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge sprechen, wenn das nicht ein viel zu moralischer Begriff wäre für einen, der keine Moral einer halben Moral vorzieht. Ihm Lügen vorzuhalten hieße, den mathematischen Beweis für die Falschheit eines Kunstwerkes antreten zu wollen. Wahrheit oder Lüge ist nicht mehr das Problem, wenn die größte Bedrohung für "Sascha Anderson" darin besteht, die "Distanz zu sich selbst zu verlieren". Er hat den Raum der Moral konsequent verlassen und dafür den der Ästhetik betreten. Sein Leben möchte er als Kunst betrachtet wissen. Seine Schuld ist dann ein Phänomen, aus dem sich erzählerisches Kapital schlagen läßt. Das macht diese Autobiographievermeidungsunternehmung so unangenehm.

"Sascha Anderson" erzählt die Geschichte des Verrats als faustischen Stoff. Er beginnt als Prolog im Himmel mit Heiner Müller und Novalis, den beiden Schutzheiligen. "Eine sichere Ordnung, eine feste Form ist etwas für das Ende des Lebens", läßt "Sascha Anderson" Heiner Müller sagen. Und Novalis, der Romantiker, hat den Vorzug, vielleicht sogar noch ein bißchen dunkler zu sein als "Sascha Anderson" selbst, der sich sicher ist, "daß Novalis mich geschrieben hat". Es klingt wie ein schlechter Scherz, doch der Stasioffizier, der den jungen Mann 1973 in Dresden "zur Klärung eines Sachverhalts" vorlud, hieß ausgerechnet "Herr Faust". "Sacha Anderson" nannte ihn "Mephisto", denn Faust war ja er selbst. Er hatte alles im Griff und glaubte in jugendlicher Arroganz, auch mit der Stasi locker fertig zu werden. Er würde reden und reden und reden, aber seine Seele würden sie nicht bekommen. Er würde sie kontrollieren und ihnen in die Kunst hinein entkommen. Die ersten Gedichte und die ersten Stasiberichte entstanden zur selben Zeit. "Sascha Anderson" hatte im Pakt mit dem Teufel die Kreativität entdeckt.

Oder war es doch umgekehrt? Am Anfang des Buches heißt es: "Wenn er jung ist und kräftig ohne Ende und geboren zum Agitator und Propagandisten und ideologisch geschult, glaubt auch der sozialistische Künstler, Mephisto sei die Urgestalt des Faust und das Glück auf der Seite dessen, der die Gebärden seiner Rolle beherrscht." Doch "Sascha Anderson" war weder Ideologe noch Propagandist, und Mephisto war im Sozialismus offiziell nicht vorgesehen. Schon Walter Ulbrichts Planvorgabe an die Schriftsteller der DDR, doch endlich den "sozialistischen Faust" zu schreiben, war an der Mephistofrage gescheitert. 1995 aber erhielt "Sascha Anderson", wie er unlängst auf einer Pressekonferenz in Berlin erzählte, Post von seinem einstigen Führungsoffizier Reuter. Reuter hatte den Ruhestand nach der Wende genutzt, um einen Spionageroman zu schreiben, in dem er "Sascha Anderson" die Hauptrolle zugedacht hatte. Reuter war Faust, und "Sascha Anderson" war Mephisto. Doch diese Rolle des Spitzels als Verführer des Führungsoffiziers akzeptierte "Sascha Anderson" nicht: sie sei die Umkehrung der realen Verhältnisse. "Sascha Anderson" möchte sich lieber als Verführten oder zumindest als Opfer der Verhältnisse sehen.

So war es früher, so ist es heute. Die vakante Rolle der Führungsoffiziere hat "Sascha Anderson" nun der Öffentlichkeit zugewiesen. Sie ist es, die ihm Erklärung und Bericht zumutet, sie erzeugt seine Bedeutung und wird von ihm dafür geliebt und gehaßt. Wie sonst wäre es zu erklären, daß "Sascha Anderson" die Öffentlichkeit zugleich sucht und vermeidet, daß er Aufmerksamkeit mindestens ebensosehr benötigt, wie er sie fürchtet, und daß er Freiheit immer noch als etwas empfindet, was von anderen zugeteilt wird? Seine Strategie, vor der Öffentlichkeit Rechenschaft über sich selbst abzulegen, ohne etwas mitzuteilen, gleicht der des Informanten, der niemandem geschadet haben will. Der Text ist sein Schutz: Hier ist er geborgen. Deshalb muß der Text als Dichtung immer dichter werden. Der Text ist "Sascha Anderson", ihm ist nichts anzuhaben. Der Text ist, wie er ist. Die Absicht ist, "etwas so zu erzählen, daß es sich im Schutz der Erzählung aufhebt". Fragt sich nur, warum man diesen Prozeß, der sich im Schreiben selbst erfüllt, lesend nachvollziehen soll.

Sascha Anderson: "Sascha Anderson". DuMont Literaturverlag, Köln 2002. 280 S., 20 Fotos, geb., 19,90 .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.03.2002

Ich ist ein Anderson
Hinter mir gibt es kein Mysterium, es steht alles in den Akten: Wie Sascha A. in seiner Autobiografie verschwindet
1996 erhält Sascha Anderson einen Anruf von Oberst Reuter, einem seiner beiden früheren Führungsoffiziere. Reuter möchte seinen langjährigen Inoffiziellen Mitarbeiter treffen. Dem ist das sehr recht. Er erhofft sich Antworten auf die Frage, was die Staatssicherheit, die er fast zwei Jahrzehnte überaus eifrig und materialreich mit Berichten über die Künstlerszene der DDR versorgte, mit ihm vorhatte, ob es einen Plan gab und seine Verpflichtung als IM Teil einer durchdachten Konzeption war. Man trifft sich in einem der neu hochgezogenen Einkaufszentren an der Peripherie Berlins. Oberst Reuter trägt einen Stapel Papier unterm Arm. Akten? Nein, ein Manuskript. Er habe, erzählt der Oberst freudig, an einem „creative writing”- Kurs teilgenommen, dies hier sei eine Spionagegeschichte, von ihm selbst verfasst, über einen jungen Mann, der in den Westen geht und von dort für die Stasi spioniert. Anderson spielt darin die Hauptfigur. Es ist alles ziemlich trivial, geschönt und vom Tenor eher romantisch-heroisch.
Andersons Fragen über Sinn und Zweck der geheimdienstlichen Kooperation prallen an Reuters ab, er hat nur eines im Kopf: Er möchte mit Andersons Unterstützung für seinen Thriller einen Verlag finden. Vermutlich ist es sträflich naiv, sich ausgerechnet von seinem früheren Führungsoffizier Aufschluss über das eigene Lebensdebakel zu erhoffen. Doch mag hinter dieser Erwartungshaltung auch ein letztes Nachwehen von Führungsgläubigkeit stecken: Wer einen zum Spitzel machen konnte, der muss doch die Regeln kennen, nach denen sich Menschen manipulieren lassen. Aber der Verräter bleibt mit seinem Verrat allein. Nicht der ihn benutzte, hat seine Freunde betrogen, sondern allein er selbst. So schreibt der Oberst seinen Thriller, und Sascha Anderson muss seine eigene Geschichte schreiben.
Labyrinth der Selbsterforschung
Das hat er getan. Das Buch, das heute bei Dumont erscheint, heißt „Sascha Anderson” (Sascha Anderson, Dumont, Köln 2002. 303 Seiten, 19, 90 Euro). Ungefähr 1750 Mal kommt darin das Wort „Ich” vor. Anderson hat in seinem Leben andere Menschen zu Opfern gemacht, er hat sie ständig in Gefahr und manchmal, wie im Falle von Rüdiger Rosenthal, sogar bis in die U- Haft gebracht. Sollte so jemand nicht von seinem Ich absehen, nicht seine Geschichte, statt dessen die seiner Opfer erzählen? Oder ganz einfach den Mund halten?
Als Sascha Anderson im Herbst 1991 als IM der Stasi enttarnt wurde, wollten alle von ihm eins: Ein Bekenntnis seiner Schuld. Unerträglicher als seine Spitzeltätigkeit fand man sein hartnäckig-kindisches Leugnen, an dem er sich noch festklammerte, als die Parallellektüren der Opferakten (seine Täterakte galt damals als vernichtet) längst keinen Zweifel mehr zuließen, dass nur er die Quelle sein konnte. Jetzt hat er ein Buch geschrieben, das seine Schuld nirgends klein redet, das sich mit keinem Satz aus der Verantwortung stiehlt und das dennoch beim Leser einen merkwürdigen Beigeschmack hinterlässt – einfach deshalb, weil er es geschrieben hat, weil jedes Schreiben ein Triumph über die Vergangenheit ist. Hätte er also 1991 mehr und jetzt dafür weniger sagen sollen?
Vielleicht ist es Andersons Glück, dass sein autobiografisches Buch ästhetisch gescheitert ist. Der Dumont Verlag erklärt im Klappentext, dies sei „kein Buch der Rechtfertigung”. Das ist richtig. Dann folgt der verquaste Satz: „Die Wahrheit des Sascha Anderson will an der Wahrheit seiner Literatur gemessen werden.” O je. Man kann vieles aus diesem sehr besonderen Buch lernen: Vor allem darüber, dass es im Labyrinth der Selbsterforschungen auch beim besten Willen nur notwendige Sackgassen gibt. Dass Anderson aber eine Darstellung seiner Geschichte gelungen wäre, die seinem moralischen Versagen eine ästhetisch überzeugende Form gibt, ist gewiss nicht der Fall. Nur weil es keine verlogene Literatur ist, ist es noch lange keine gute Literatur.
Als wir Sascha Anderson in Frankfurt treffen, wo er seit einigen Jahren – neben Berlin – wohnt, hat er sein Buch unterm Arm, frisch aus der Druckerpresse. „Das hat mit Kunst nichts zu tun”, sagt er, „ich habe einen Text geschrieben, mehr nicht.” Dafür, dass es mit Kunst nichts zu tun haben soll, hat sich der Text allerdings von protokollartig-eindeutiger Prosa erheblich entfernt. Es ist, als würde, wo immer sich der Mensch Anderson ein Rätsel bleibt, der Autor Anderson ihm ein Bild, eine Metapher soufflieren: Der Text wimmelt nur so von Stein-, Schlaf-, Traum- und Theatermetaphern, enigmatischen Paraphrasen des deutschen Idealismus, in denen der Texttheoretiker Anderson die Fichte’sche Relation zwischen Ich und Nicht-Ich stark strapaziert. Das nährt den Verdacht, hier wolle einer die Wahrheit in einem metaphorischen Ungefähr auflösen. Aber das trifft es nicht. Der Mensch Anderson ist nun einmal ein Autor, und wenn ein solcher nach Erklärungen für seinen ihm selbst unerklärlichen moralischen Bankrott sucht, stellen sich eben Bilder ein. Eine Flucht, ein Ausweichen ist diese Bildsprache nicht schon darum, weil sie den Leser ästhetisch nervt.
Der Fall Anderson ist ja deshalb so attraktiv, weil in seinem Fall die Schuld so eindeutig ist. Ist sonst die Welt des Moralischen eine der Zwischentöne, sind Schuldverhältnisse sonst stets diffus (weshalb eben keiner den ersten Stein werfen soll), so gibt es bei Anderson ausnahmsweise die zweifelsfreie Schuld. Er selbst redet sich in seinem Buch auch nicht auf irgendeinen Druck durch die Stasi hinaus, er räumt ein, dass er – hätte er die Kraft gehabt – jederzeit hätte aussteigen können. Wo die Schuld so klar ist, müssten Reue und Bekenntnis – so meint man – ebenso klar sein. Aber es ist genau umgekehrt; gerade wegen der Monstrosität der Schuld, muss jeder Versuch eindeutiger Selbstklärung scheitern: Wie sollte denn eine Erklärung aussehen, handlich, fest umrissen, logisch transparent – wie eine physikalisch identifizierbare Ursache? ,Ich war ein Denunziant, weil ich ein Opportunist war‘? Das wäre eine klare Erklärung, aber auch sie führt zur nächsten Frage: Wie konnte ich zum Opportunisten werden?
Über den Moment, in dem er zum ersten Mal auf die Aufforderung der Stasi zur Zusammenarbeit „Ja” sagte, schreibt Anderson jetzt: „Wenn das ein Auftrag ist, dann weiß ich nicht, was kein Auftrag ist.” Dem folgt, kursiviert wie alle Novalis-Zitate in diesem Buch: „Der Anfang des Ich ist bloß idealisch. – Wenn es angefangen hätte, so hätte es anfangen müssen. Der Anfang ist schon ein späterer Begriff.” Und an anderer Stelle heißt es: „Dass Novalis mich geschrieben hat, ist mir sicher.”
Die Sprache des Spitzels
Nicht, dass Sascha Anderson Novalis zu seiner Selbstdeutung heranzieht, sondern dass die vielen Novalis-Zitate sich für den Leser überhaupt nicht als erkenntnisleitende Folie erschließen, ist das Problem des Buches. Der große Literaturwissenschaftler und Doyen der amerikanischen Dekonstruktion, Paul de Man, wurde nach seinem Tod als Kollaborateur während der deutschen Besatzung Belgiens entlarvt. Damals stellte sich die Frage, ob sein Text- und damit Weltmodell, das den Zusammenhang zwischen Sprache und Welt offensiv auflöste und den Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff aus der universellen Zeichenwelt verbannte, auch ein unbewusster Reflex auf seine verheimlichte Kollaboration war. Die Dichter vom Prenzlauer Berg waren faszinierte Leser der poststrukturalistischen Texte (deren beim Merve Verlag erschienen Bücher Thomas Brasch in den 80er Jahren in die DDR schmuggelte). Auch hier hat man, als die Szene als Stasi-gesteuert erschien, auf jene Lektüren verwiesen. Aber hätte die Szene deshalb ästhetisch auf der Ebene von Wolf Biermann verharren sollen, dessen beherzte Art, seine Gitarre zu traktieren, keinen Zweifel ließ, was Sache ist, und in dessen Texten es keinen Bruch gab zwischen Wort und Welt?
In Andersons Buch spukt der poststrukturalistische Diskurs immer noch, und er macht die Lektüre nicht gerade leichter. Die Sprache seiner Täter-Akte ist klarer. Über seine sehr engen Freunde, die Maler Ralf Kerbach und Cornelia Schleime, vermerkt seine Akte am 18. August 1982: „Wie vereinbart habe ich mit Kerbach und Schleime vereinbart, dass wir uns während des Pioniertreffens in Dresden nach Berlin verziehen. Meine Bemühungen dahingehend sind erfolgreich . .. Bei der Gelegenheit kam ich in Besitz des Schlüsselbundes von den Objekten Atelier Schleime, Atelier Kerbach und Wohnung Kerbach, den ich übergebe für Kontrolle/Dokumentationsmaßnahmen, da ich die Vielfalt des Materials in den Räumen nicht mitbringen kann.”
Wenn man heute mit Anderson spricht, ist seine Sprache fest, suchend, aber nicht schwammig. Mit 17 Jahren hatte er zum ersten Mal Kontakt mit der Stasi, und er erzählt, wie er dieses heimliche zweite Leben in jede Freundschaft und Liebe immer schon mit hineinbrachte. Freundschaft bedeutet ihm pikanter Weise viel, und er hatte Freunde, denen er sich hätte erklären können, ohne dass sie ihn verstoßen hätten. Stattdessen entfaltete er einen Hyperaktivismus, der keine Minute der Selbstbesinnung erlaubte. War er allein, lief der Fernseher, und so wenig er in diesen Jahren im Schlaf träumte, so wenig träumte er von einem Leben ohne Stasi: Dies war das Leben, und es gab keine Alternativen. Deshalb brach er auch 1986 nach seiner Übersiedlung in den Westen die Zusammenarbeit mit der Stasi nicht ab. Und als 1989 die Mauer fiel, freute er sich wie alle – nicht einmal die Angst vor Enttarnung kam ihm in den Sinn.
Erstaunlich ist, dass viele seiner Freunde, auch der skrupellos ausspionierten, ihm nach der Enttarnung die Freundschaft hielten. Bert Papenfuß zum Beispiel, mit dem er gestern im „Kaffee Burger” in Berlin sein Buch vorstellte. Nicht seine Agententätigkeit war für seine Freunde das Schlimmste, sondern sein hartnäckiges Leugnen noch durch die ganzen 90er Jahre: „Du hast echt einen an der Waffel”, sagten sie ihm, aber ließen ihn nicht fallen. Anderson stellt schnell Nähe her. Er hat einen ausgeprägten Sinn für seine Mitmenschen, ein hohes Einfühlungsvermögen und viel Hilfsbereitschaft. Das ist keine Taktik, keine Fassade, er selbst nennt es „passiv Baggern”. Vielleicht wurde ihm genau das zum Verhängnis – sachlicher gesagt: lag darin die Disposition zum IM.
Das romantische „Wir” war in der Zeit, als er rastlos die Künstlerszene Berlins zur Produktivität anhielt, Andersons Ideal. Hinter diesem Wir verschwand sein Denunzianten-Ich auch für ihn selbst. Jetzt hat er 1750 Mal „ich” geschrieben, die ganze Wahrheit wird das nicht sein. Wolfgang Hilbig schrieb 1993 den Roman „Ich” (gewiss eines der bedeutendsten Werke der 90er Jahre). Er erzählt vom Dichter als Spitzel und der doppelten Textproduktion: der poetischen und der konspirativen. Der Dritte, der da schreibt, erhellt uns mehr über Andersons „Ich” als dieser selbst.
IJOMA
MANGOLD
Darf der das, so kindlich ausgelassen in die Luft springen? Unser Lieblings-Verräter Sascha Anderson in seiner Frankfurter Wohnung.
MC> Foto: Therese Humboldt
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

In der Kunst-, Musik- und Literaturszene der DDR als schillernder, rastloser Dichter, Rockmusiker, Büchermacher, Kunstorganisator etabliert, war Anderson seit 1973 auch als Stasi-Informant unterwegs, der den DDR-Geheimdienst die verlangten Informationen über Freunde und Bekannte zusteckte. Nach seiner Enttarnung leugnete er zunächst hartnäckig, bis die Beweislast erdrückend wurde. Beatrix Langner zeichnet in ihrer Rezension die Stationen von Andersons Karriere nach, einer Karriere die "von Anfang an nicht den Unterschied kannte, kennen wollte zwischen Kunstwelt und Wirklichkeit, Lüge und ästhetischer Illusion", wie die Rezensentin festhält. Andersons Autobiografie ist für Langer im Kern nichts anderes als die "Fortsetzung des Verrats mit anderen Mitteln, der Selbstverrat". Aber nicht das stört die Rezensentin am meisten, sondern Andersons Sprache. Diese erscheint der Rezensentin zuweilen "kryptisch bis zur Unverständlichkeit", zumeist aber paraphrasiere sie nur wortsüchtig, "was in einfacheren Worten unerträglich verlogen wäre". Darin erblickt die Rezensentin das eigentliche Manko des Buches. Anderson habe sich vielleicht als Spitzel erklärt, urteilt Langer, "als Dichter hat er sich überflüssig geschrieben."

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