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Till hat alle Freiheiten: er geht auf "die freieste Waldorfschule der Welt", seine Eltern - ein anthroposophisch motivierter Schönheitschirurg und die Kuratorin eines innovativen SchauRaums - fördern ihn, wo sie nur können. Als er nicht zum Abitur zugelassen wird, ist er plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen und beginnt nachzudenken: Was soll aus mir werden, fragt er sich und beschließt so lange in seinem Zimmer auszuharren, bis er darauf eine Antwort weiß. Aus dem Zimmer wird ein Kokon, im Rückzug auf sich selbst glaubt er voranzukommen. Schließlich beginnt Till mit der Kreation einer…mehr

Produktbeschreibung
Till hat alle Freiheiten: er geht auf "die freieste Waldorfschule der Welt", seine Eltern - ein anthroposophisch motivierter Schönheitschirurg und die Kuratorin eines innovativen SchauRaums - fördern ihn, wo sie nur können. Als er nicht zum Abitur zugelassen wird, ist er plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen und beginnt nachzudenken:
Was soll aus mir werden, fragt er sich und beschließt so lange in seinem Zimmer auszuharren, bis er darauf eine Antwort weiß. Aus dem Zimmer wird ein Kokon, im Rückzug auf sich selbst glaubt er voranzukommen. Schließlich beginnt Till mit der Kreation einer autarken, nach seinen Regeln funktionierenden Separatwelt: Welt 0 - ein Zufluchtsort für alle, denen die reale Welt zu fordernd oder auch zu eingeschränkt ist. Und Till ist ihr Garant, denn er kämpft nicht nur für sich, sondern für eine ganze Generation, die in ihren Zimmern sitzt.
Ein Zimmer und ein Entschluss: die Tür zumachen, sich endlich ausklinken, für Tage, für Wochen, Monate, Jahre vielleicht. Kevin Kuhns Debütroman erzählt vom Erwachsenwerden ohne Geländer und verschränkt dabei Realität und Virtualität miteinander. Irgendwo zwischen diesen Grenzen beginnen wir, uns aufzulösen - und uns neu zu erfinden.
"Ein selten gutes Debüt: kraftvoll, entschieden, mutig ein wunderbarer Roman eines jungen Schriftstellers." Hanns-Josef Ortheil
"Eine krasse Geschichte von jenseits der verklebten Zimmertür, aus einer anderen Welt, einer anderen Realität. Kevin Kuhn braucht sich vor niemandem verstecken." Thomas Pletzinger
Autorenporträt
Kevin Kuhn, geb. 1981 in Göttingen, studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft. Aufenthalte in Alaska und Mexico-City, ab 2008 am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft in Hildesheim. 2009 Beginn der Promotion, seit 2010 zudem als Gastdozent tätig. Kevin Kuhn war mit Hikikomori, seinem ersten Roman, Stipendiat des textwerk-Romanautorenseminars des Literaturhauses München unter Leitung von Sibylle Lewitscharoff und Mathias Gatza.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2012

Der Eremit im Kinderzimmer

Die Phase am Ende der Schulzeit und zu Beginn des Erwachsenwerdens ist ein Balanceakt. Kevin Kuhns erster Roman "Hikikomori" erzählt, wie riskant das sein kann

In Luis Buñuels Klassiker "Der Würgeengel" sehen wir eine feine Abendgesellschaft, die sich nach dem Besuch einer Opernaufführung zu einem Souper einfindet, danach einen Salon betritt - und ihn nicht wieder verlässt. Sie laufen im Kreis, kratzen die Tapete ab, erleben alle möglichen klaustrophobischen Extremzustände, ein junges Paar geht gemeinsam in den Tod, aber sie verlassen das Zimmer nicht. Keine unsichtbare Wand hindert sie, keine Bombe, nichts, wovon der Zuschauer etwas erführe. Der Film studiert in aller Ruhe den Übergang von raffiniertester Zivilisation zum Endzustand einer naturwüchsigen Dystopie, nicht irgendwo im Dschungel oder auf der Insel des Robinson, sondern mitten in einer Wohnung. Das eigentliche Problem aber wird weder gezeigt noch gelöst, der Zuschauer bleibt mit seinem biederen Wunsch nach einer Antwort allein. Er erfährt nicht, warum diese Menschen das Zimmer nicht verlassen - und es dann eines Tages, ohne Begründung, ohne Reflexion, doch tun.

Einen ähnlichen Prozess schildert Kevin Kuhn, 30, in seinem ersten Roman "Hikikomori". Der Titel bezeichnet ein modernes japanisches Gesellschaftsphänomen. Junge, intelligente Männer verlassen monate- oder jahrelang nicht ihr ehemaliges Kinderzimmer; von gütigen und geduldigen Eltern weiter verpflegt, führen sie eine Existenz in einer besonderen, nur ihnen zugänglichen Welt, spielen Computerspiele oder auch nicht. Es ist schon eine schwere Störung, die zugleich zum Sinnbild taugt, denn jede Zeit bringt ja ihre eigenen psychischen Deformationen hervor. Seelische Krankheiten sind auch Epochenphänomene. In den siebziger Jahren gab es kein Burnout, und heute diagnostiziert niemand mehr eine ausgewachsene Neurasthenie, eine schwere Melancholie oder eine angehende Hysterie. Der seelische und soziale Rückzug zunächst in eine digitale Welt, dann in eine psychische Krankheit, das ist wahrhaft eine typische Krankheit des beginnenden Jahrtausends.

Mehr noch, der Rückzug von Jungen aus sogenanntem guten Hause in eben dieses gute Haus ist ein Zeichen der Zeit. Es ist ja auch keine leichte Zeit, um groß rauszukommen. Amerikanische Studien haben ermittelt, dass nur eine Minderheit der Collegeabsolventen des Jahres 2006 unterdessen eine unbefristete Stelle gefunden hat. Kettenverträge, freie Mitarbeit, Honorarzeitverträge sind die Regel, heroische Karrieren sind für junge Männer nicht planbar, zu wechselhaft sind alle Branchen. Und trotz der kommenden demographischen Veränderungen ist heute noch die Konkurrenz beachtlich. Und dank der digitalen Revolution kann man ja heute auch einiges anstellen, ohne das elterliche Parkett verlassen zu müssen. Die Bretter, die die Welt bedeuten - das kann eben auch der Teppichboden im Kinderzimmer sein.

Kevin Kuhn beschreibt den Einstieg in den Ausstieg mit einem präzisen Gespür für den Reiz der Reduktion. Till möchte nicht immer mehr Zeug haben oder ein größeres und tolleres Zuhause, er möchte immer weniger, und das Wenige soll wesentlich sein. Zunächst ist sein Vorhaben ganz sympathisch und auch verständlich. Er wurde auf seiner künstlerisch wertvollen, soften Schule nicht zum Gymnasium zugelassen, statt der frenetischen Anstrengung der Prüfungen und der Euphorie der Zeit danach blickt er auf ein Abstellgleis. Seine kunstsinnige und zugewandte Mutter nennt den Rückzug des Sohnes dessen neues "Projekt" und nimmt seine Bestellungen auf Zetteln entgegen, die er unter der Tür durchschiebt. Bei einem schlechteren Buch wäre die verständnisvolle Akademikerfamilie zu einem leichten Spottobjekt herunterkarikiert worden, hätten Vater, Mutter und Schwester die stadtneurotischen, nützlichen Idioten des egomanischen Tills gespielt.

Doch dieser Roman ist überaus ambitioniert. Er liefert weder einfache Erklärungen, noch folgt er den Mustern, die der Leser erwartet. Sehr gelungen sind auch die Porträts der Schwester und des Vaters des Eingeschlossenen, die bald klarsichtig-entnervt, bald humorvoll mit dem Phänomen umgehen. Zunächst erweist sich die repressive Toleranz der Eltern, die dem abdriftenden Sohn beste Versorgung angedeihen lassen, als begünstigend für ein Syndrom, dessen bedrohliche Ausmaße von den Eltern erst gar nicht erkannt werden können. Denn natürlich hat jeder junge Mensch mal so seine Phasen, gibt es Tage voller Blues und kontemplative Wochen, da will man dem Jungen nicht gleich mit Geld und Rente kommen. Aber im Falle von Till, da schwenkt das Pendel eben nicht zurück, ein Gleichgewicht stellt sich nicht ein. Wer je einen schweren Fall von Anorexie oder jugendlicher Depression aus der Nähe verfolgt hat, wird diese Unsicherheiten im Umgang mit einem sich entfaltenden Krankheitsbild in diesem Buch exzellent wiedergegeben finden.

"Hikikomori" vermittelt keine Moral. Till verlagert seine künstlerischen und sozialen Ambitionen in eine neue digitale Umgebung, die er rund um die Uhr betreut. Zuvor hatte er die Kameraderie und den starken Reiz von kollektiven Schießspielen erkundet, was hier sehr angenehm kenntnisreich und ohne onkelhaften Zeigefinger geschildert wird. Man versteht sofort, worin der Reiz solcher komplexen Anlagen und digital vermittelten Freundschaften besteht. Gegen die sinnliche Deprivation und für die Gesellschaft bestellt sich Till dann einen Gefährten aus Übersee, einen grünen Leguan. Über das Tier kommt dann wieder die innerfamiliäre Kommunikation in Gang, der härtere Kurs der Eltern besteht unter anderem darin, die Heizung im Kinderzimmer abzustellen, was zu einer Art Winterstarre bei dem Reptil führt, die Till für den Tod selbst hält.

Doch Oskar, der Vater, ist Arzt und kann die Echse wieder hochpäppeln, was aber nicht zu einer kitschigen und an diesem Punkt unangebrachten Rückkehr des eingeschlossenen Sohnes führt. Wie seinerzeit bei Buñuel wird die Frage nach dem, was den Sohn im Zimmer hält, nicht beantwortet; ebenso wenig, weshalb die anderen Mitglieder der Familie nicht hineingehen. Mit der Zeit mutiert der Eremit im Herzen des Bildungsbürgertums. Genau wird beschrieben, wie die Haut durchsichtig wird, wie sich der gesamte Metabolismus umstellt und wie der Alltag eines entschlossenen Eingeschlossenen so aussieht. Dabei ist die Welt auch zu Gast in der Klause, denn Till ist permanent auf Sendung. Die Netzgemeinde der Freunde ist bestens informiert über die Vorgänge in der Familie und die Gewohnheiten ihrer Mitglieder. Und Till muss das Gefühl der Enge nicht fürchten, an seinem Rechner entwirft und betreut er pausenlos weite, helle, utopische Gemeinden.

Kevin Kuhn ist ein sehr gut komponiertes, scharfsichtiges Buch gelungen, das jedem Klischee aus dem Weg geht und dabei doch Themen behandelt, die in allen Familien aktuell sind. Er schildert diese riskante Phase am Ende der Schulzeit und des beginnenden Erwachsenwerdens als lebensgefährlichen Balanceakt, und damit trifft er es wirklich. Wer die Phase hinter sich hat, weiß, dass nicht alle unbeschadet hindurchkommen, dass hier ganz spezifische Gefahren lauern, für die das erwachende Liebesleben oder die Verlockungen der Computerspiele lediglich Portale bilden. "Hikikomori" ist kein tröstlicher oder erklärender Roman, er schildert präzise die unlösbaren Fragen und lotet die Abgründe aus, die sich mitten in einer deutschen Wohnung unter wohlversorgten, gebildeten und sich liebenden Bürgern auftun können. Es ist große Kunst.

NILS MINKMAR

Kevin Kuhn: "Hikikomori". Roman. Berlin-Verlag, 240 Seiten, 14,99 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Vor allem gefällt Nico Bleutge die Distanz zum Romanhelden, die der Autor in den Text einzieht. So kann Bleutge das Ganze betrachten wie in einem Aquarium, als Experiment mit offener Ursache und offenem Ausgang, auch weil Kevin Kuhn in seinem Debütroman keine Thesen aufstellt. Bleutge also taucht ein in die Welt eines "Hikikomori", der den Einfluss der Außenwelt auf ein Minimum zu reduzieren sucht, "dockt" sich an an Gadgets und Computerspielwelten, an eine Parallelwelt, in die der Held immer weiter verschwindet. Das geht so weit, dass der Rezensent die dicke Luft im Teenagerzimmer zu atmen meint. Kuhns reduzierte Sprache, meint Bleutge, passt ganz gut dazu.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Natürlich lassen sich Gründe für Tills Rückzug in dem Buch finden. So wie auch bei Wikipedia für die japanischen Hikikomori Erklärungen angeführt werden, der grosse Erwartungsdruck der Gesellschaft etwa oder die Angst zu versagen. Kevin Kuhn deutet solche Gründe aber nur an. Oder besser: Er zeigt sie uns, faltet sie erzählerisch aus. Und er hält sich angenehm fern von allen Thesen. So entsteht eine sehr sympathische Offenheit. Wir sind als Leser gewissermassen frei, uns Tills Experiment anzusehen, und vor allem: es lesend zu erleben. Das ist sehr viel. Oder mit einem von Tills Bloggern gesprochen: «Reeeeaaaally hot»." Nico Bleutge NZZ 20130212