Produktdetails
  • Verlag: Berlin Verlag / Bloomsbury
  • Seitenzahl: 340
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 483g
  • ISBN-13: 9783827005601
  • ISBN-10: 3827005604
  • Artikelnr.: 12932416
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.11.2004

Wortschlachten und Traumrealitäten
Im Schutz des Pseudonyms: Nelly Glimm schreibt mit „Das Wasserjahr” ein meisterhaftes Melodram
Dieser Roman ist ein gedruckter Film. Schmerzhaft deutlich sieht man die Personen, eindrucksvoll breiten sich die Schauplätze vor dem Leser aus, hoch dramatisch ist er inszeniert. Fragt man nach dem Genre, fällt die Antwort leicht: Ein Melodram liegt vor, zweifelsohne. Doch keine Gefühlsschmonzette, wie man erwartet, sondern ein meisterhaftes Rühr-Stück, das die Möglichkeiten der Gattung mit Lust und Gewinn ausschöpft, um weiter zu gehen als erlaubt.
Nelly Glimm - das Pseudonym einer Berliner Autorin - kennt das Geheimnis vieler Hollywood-Erfolge: „Make them wait!” Die Zuschauer werden zu Beginn mit starken Reizen geködert, um sie danach auf Abwegen, Umwegen und Irrwegen in Hochspannung zu halten, bis eine Lösung völlig überraschend eintritt.
Schon auf den ersten Seite des Romans erfährt man von einer unbestimmten familiären Katastrophe: „all das, was mein Leben in die Luft gejagt hat”, sagt Afra Bardt am Neujahrstag 2003. Sie hat ihr Kind verloren. Es lebt - offenbar gegen seinen Willen - in den USA. Viele Spuren lassen Vermutungen zu, doch wie sich dann Szene für Szene, quasi in Zeitlupe, ein „big bang” mit seinen gewaltigen Schockwellen ausweitet, ist schon umwerfend.
Wer auch immer Nelly Glimm wirklich sein mag, sie beweist mit der klugen Komposition, dass sie virtuos auf der Gefühlsklaviatur zu spielen vermag. Melodramatisches, Theatralisches und sogar Wunderbares setzt sie kalkuliert ein, ohne dass ein Gefühl kühlen Kalküls entstünde. Einwände, dass manches zu konstruiert, zu sehr auf die Spitze getrieben, zu unglaubwürdig sei, verhindert der Roman mit seiner Dynamik, seiner Intensität und seiner Stimmigkeit.
Wie in der Oper oder eben in den Melodramen eines Douglas Sirk, eines Aki Kaurismäki oder eines Lars von Trier geht es nicht um Wahrscheinlichkeit, sondern um Evidenz, um potenzierte Passion und - warum nicht! - um Pathos.
Mit großem Wagemut, den ihr vielleicht das Pseudonym erst erlaubte, wirft Nelly Glimm den Leser hinein in die dramatische Geschichte von Afra Bardt, deren Leben im „Wasserjahr” einem Tohuwabohu gleicht, obwohl sie nur sieben Monate zuvor noch eine arrogante, gut aussehende, 42-jährige, erfolgreiche Miteigentümerin einer Werbeagentur und zufriedene alleinerziehende Mutter eines Siebenjährigen war. Ihr Kampf um Halt im Leben führt sie zurück in die eitle, notgeile, überdrehte Welt der Werbung, wo sich verzweifelt originelle Künstler und arrogante Auftraggeber herumtreiben. Zu ihrem Erstaunen findet sie gerade hier Ansatzpunkte, den Kampf um ihren Sohn wieder aufzunehmen, der inzwischen in Los Angeles bei seiner biologischen Mutter lebt; er wurde nämlich bei der Geburt vertauscht.
Das reichte für ein gewöhnliches Melodram, doch Nelly Glimm geht wesentlich weiter, indem sie ihre Heldin quälende Wahrträume träumen lässt: Darin ist sie eine Jüdin, die 1943 auf der Flucht verraten und erschossen wird. In der aktuellen Notsituation nimmt die Macht dieser Träume in einem Maße zu, dass sich Afra Bardt - wenn auch skeptisch und widerwillig - einer Wahrsagerin anvertraut, die sie auf eine unglaubliche, dann aber doch reale Lösung bringt.
Ohne dass man an Reinkarnation glauben müsste, trägt die Buchrealität so zwingend, so verführerisch in diesen Bereich des Übernatürlichen hinein, dass man ihn als gegeben annimmt. Wieder lohnt es sich, an Filme zu denken: „Rosmary’s Baby” oder „Das Blair Witch Projekt” entfalten ihre Wirkung, indem sie langsam aus dem Realistischen ins Unglaubliche führen.
Mittels ausgeprägter Motivketten wie Wasser, Eis, Marmor, Schock, Farben, Gott verstärkt Nelly Glimm die Geschlossenheit ihres Roman-Kosmos. Bildreich und dialogfreudig schießen in ihm die Worte über Handlungsstromschnellen hinweg: Extrem peinliche Situationen wechseln sich ab mit verzweifelten Telefonaten, lähmende Rededuelle voll unterkühlter Aggression mit Albträumen, lächerliche Werbe-Events mit eindringlichen Sex-Szenen, in denen Hingabe, Manipulation, Komik, Machtkämpfe und Verzweiflung eine oft bedrohliche Stimmung heraufbeschwören.
Zuletzt hat man den Eindruck, Nelly Glimm nutzt das Melodramatische und Übersinnliche wie Friedrich Schiller - mit dem sie übrigens auch die Lust an Sentenz, Definition, Pointe teilt - das Ritterstück, die Geister-Erscheinung und das Wunder bei „Johanna von Orleans”. Beide schätzen den starken Effekt auf Leser wie Zuschauer, beide wollen erschüttern, beide greifen zu populären Genres, weil sie es ermöglichen, Gedanken und Denken sinnlich zu verbreiten. Und beide wissen, dass es vielleicht nur auf diese Weise gelingt, in sonst unerreichbare Tiefen der Psyche zu gelangen.
ROLF-BERNHARD ESSIG
NELLY GLIMM: Das Wasserjahr. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2004. 341 Seiten, 19 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die unter dem Pseudonym Nelly Glimm schreibende Autorin hat mit "Das Wasserjahr" ein "meisterhaftes Melodram" vorgelegt, versichert ein geradezu überwältigter Rolf-Bernhard Essig. Keine "Gefühlsschmonzette" aber dennoch ein äußerst gelungenes "Rührstück", das in ausgesprochen filmischer Intensität von der Miteigentümerin einer Werbeagentur erzählt, die verzweifelt um ihr Kind kämpft, das bei der Geburt vertauscht wird und nun bei der biologischen Mutter lebt, erklärt der Rezensent. Gleichzeitig enthält das Buch in Traumsequenzen und übernatürlichen Begebenheiten die Geschichte einer "Reinkarnation", die durch die packende Darstellungsweise "langsam aus dem Realistischen ins Unglaubliche" führt und die man als "gegeben annimmt", ohne dass die Leser Anhänger dieser Lehre sein müssten, betont Essig. Er preist mitgerissen die "umwerfenden" Kapriolen der Handlung und schwärmt von der "klugen Komposition" und der Virtuosität, mit der Glimm auf der "Gefühlsklaviatur zu spielen vermag". Er bescheinigt dem Roman "Dynamik", "Intensität" und "Stimmigkeit" und ist vom Bilderreichtum und den gelungenen Dialogen schlechterdings begeistert.

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