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Ein Blinder und ein Sehender sitzen vor dem Fernseher und zeichnen gemeinsam, mit übereinander gelegten Händen, eine Kathedrale. Am Ende haben beide eine deutlichere Vorstellung davon, was eine Kathedrale ausmacht, als die gleichzeitig vor ihren Augen - respektive Ohren - ausgestrahlte kunstgeschichtliche Reportage ihnen jemals vermitteln könnte ... Das Personal der zwölf Geschichten, die Raymond Carver 1983 in seinem dritten Erzählungsband Kathedrale vereinigte, ist dasselbe wie in allen zuvor veröffentlichten: Paare, die sich nichts mehr zu sagen haben, Arbeitslose, Alkoholiker. Doch die…mehr

Produktbeschreibung
Ein Blinder und ein Sehender sitzen vor dem Fernseher und zeichnen gemeinsam, mit übereinander gelegten Händen, eine Kathedrale. Am Ende haben beide eine deutlichere Vorstellung davon, was eine Kathedrale ausmacht, als die gleichzeitig vor ihren Augen - respektive Ohren - ausgestrahlte kunstgeschichtliche Reportage ihnen jemals vermitteln könnte ...
Das Personal der zwölf Geschichten, die Raymond Carver 1983 in seinem dritten Erzählungsband Kathedrale vereinigte, ist dasselbe wie in allen zuvor veröffentlichten: Paare, die sich nichts mehr zu sagen haben, Arbeitslose, Alkoholiker. Doch die Perspektive, die der Erzähler zu ihnen einnimmt, hat sich auf signifikante Weise verändert. Um nichts weniger Anteil nehmend an ihrem Elend, gelingt es ihm jetzt, sich so weit davon zu lösen, dass er imstande scheint, Auswege anzudeuten, Fluchtmöglichkeiten zumindest ahnen zu lassen.
Zwölf Erzählungen wie aus einem Guss, Carvers eigener Aussage zufolge niedergeschrieben während achtzehn Monaten ho ch konzentrierter Arbeit. Die erstaunte Kritik stellte gleich nach dem Erscheinen begeistert fest, dass Carver sich damit zu einer Reife und Abgeklärtheit vorgearbeitet hatte, für die "klassisch" der einzig angemessene Ausdruck ist.
Deutsche Neuübersetzung, wiederum durch Helmut Frielinghaus. Mit einem Vorwort von Judith Hermann. Dies ist der dritte Band der Berliner Ausgabe von Raymond Carvers Erzählungen.
Autorenporträt
Raymond Carver, geb. 1938 in Clatskanie, Oregon, schlug sich zuerst mit Gelegenheitsjobs durch, war alkoholabhängig und konnte sich erst 1970 ganz dem Schreiben widmen. Sein erster Erzählungsband machte ihn 1976 schlagartig berühmt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001

Hartes Brötchen eines traurigen Bäckers
Raymond Carvers Geschichten über zerstörte Gewißheiten / Von Stephan Wackwitz

Sprachgebärden" hat der große Literaturwissenschaftler André Jolles 1929 in seinem Hauptwerk "Einfache Formen" jene merkwürdig unhintergehbaren, mit einer bestimmten "Geistesbeschäftigung" aufgeladenen, zugleich formalen und inhaltlichen Einheiten genannt, in denen die Sprache selbst zu dichten scheint und die Formen Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz hervorbringt: "unter der Herrschaft einer bestimmten Geistesbeschäftigung verdichten sich aus der Mannigfaltigkeit des Seins und des Geschehens gleichartige Erscheinungen; sie werden von der Sprache selbst zusammengewirbelt, zusammengerissen, zusammengepreßt und als Gestalt umgriffen". Die einzige Sprachgebärde, die in der Moderne eine einfache Form hervorgebracht hat, ist die Gebärde, der die Short story ihre so unverwechselbare wie schwer beschreibbare inhaltlich-formale Gestalt verdankt.

Sich mit dieser Gebärde zu beschäftigen scheint um so lohnender, seit die Sprach- und Denkform der Short story verspricht (oder droht), so etwas wie ein Leitmedium des neuen deutschen Literaturbooms zu werden. Einer anbetenden Stifterfigur gleich bevorwortet nun schon zum zweiten Mal, nach Ingo Schulze, eine Heldengestalt dieses Booms - diesmal ist es Judith Hermann - einen Band der vom Berlin-Verlag in einer Neuübersetzung vorgelegten Kurzgeschichten Raymond Carvers. Anzuzeigen ist die aktuelle Übersetzung des letzten großen Buchs Raymond Carvers ins Deutsche, eine philologisch gediegene und stilistisch sehr deutsch klingende Übertragung der wundervollen Sammlung "Kathedrale" durch Helmut Frielinghaus. Worin aber besteht die Sprachgebärde der short story?

In seinem Essay "On Writing" beschreibt Raymond Carver den Moment, auf den es ihm mit seiner Schriftstellerei ankommt, als eine profane Erleuchtung. Angesichts des Unscheinbaren und Alltäglichen werden Schriftsteller und Leser ergriffen von blitzartig und geheimnisvoll erworbenem Wissen über den Grund und Zusammenhang nicht nur der Geschichte, die sie gerade schreiben oder lesen, sondern der ganzen Welt: "An meiner Wand hängt eine drei mal fünf Inches große Pappkarte mit dem Satzfragment aus einer Geschichte Tschechows: ,. . . und plötzlich wurde ihm alles klar.' Ich finde, dieser Satz ist voller Wunder und Möglichkeiten. Ich liebe seine einfache Klarheit, den Hinweis auf Offenbarung, den er enthält. Und auch auf das Geheimnis. Was war zuvor unklar? Was ist geschehen, und vor allem: Was jetzt? Solche plötzlichen Erweckungen ziehen Konsequenzen nach sich."

Die mystische Sprachgebärde der Short story liegt darin beschlossen, daß die Dinge und Situationen für den Leser immer mehr sind als für die in der Erzählung auftretenden Personen. Der Leser, im Gegensatz zum Personal der Geschichten, sieht über ihnen den ihnen selbst unsichtbaren Heiligenschein nicht auslotbarer Bedeutung, der die Literatur von der Wirklichkeit unterscheidet. "Jedenfalls müssen wir irgendwas versuchen" sagt eine der Carverschen Figuren in einer der ausweglosen Situationen, in die diese Figuren immerfort geraten. "Und das werden wir als erstes versuchen. Wenn es nicht geht, versuchen wir was anderes. So ist das Leben nun mal, oder?" Ihr Gegenüber fragt: "Hat das eine versteckte Bedeutung oder dergleichen?" und erhält eine Antwort, die für Carvers sozusagen ruppig mystische, säkular-amerikanisch inspirierte Denkform definitiv ist: "Es bedeutet genau das, was ich gesagt habe. Aber du kannst dir dabei denken, was dir gefällt. Ich mein, dies ist ein freies Land." Und Judith Hermanns Vorwort zu "Kathedrale" endet in der Phantasie wahrscheinlich jedes Carver-Lesers, nämlich "daß ,under the broken and unsettled surface of things' auch unser Leben eine Geschichte sein kann".

Daß Carvers Lakonie, sein "Minimalismus, sein Weglassen und Abbrechen" (Judith Hermann) ihren Grund eher im "Nu" der mystischen Erfahrung hat als in den Rezepturen, Vorschriften, Tricks und Lehrbuchsätzen des "creative writing", kann einem über der Lektüre von "Kathedrale" womöglich noch deutlicher einleuchten als in den Bänden "Würdest Du bitte endlich still sein, bitte" und "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden". Denn "Kathedrale" ist das erste Buch in Carvers kurzem Schriftstellerleben gewesen, mit dem der Autor sich von dem bis zu einer verschwiegenen Mitautorenschaft gehenden Einfluß seines Lektors Gordon Lish freigemacht hat. In "Kathedrale" zeigt sich uns, wie Günter Ohnemus formuliert hat, "Carver unlished". Sein Entdecker und Betreuer bei Alfred A. Knopf ist, wie es scheint, verantwortlich gewesen für einen gewissen konfektionierten Short-story-Klassizismus in Carvers früheren Büchern. Mit den zwanghaft pointierten Schlüssen, markig-lakonischen Verkürzungen, mit den ungebremsten Amputationen und Hinzufügungen der Überarbeitung durch Gordon Lish, so scheint es, ist ein im Vergleich zum nicht überarbeiteten Original (das in einigen Fällen erhalten und sogar publiziert ist) hemingwayhaft gipserner und lehrbuchartig vorschriftsmäßiger Creative-writing-Ton in Carvers Frühwerk eingedrungen, der wohl für den "Durchbruch" und die ersten Verkaufserfolge dieses Autors verantwortlich war, aber auch für eine gewisse Glätte und Konventionalität seiner ersten Bücher, die Carver zum leicht kopierbaren Säulenheiligen macht.

Kathedrale" dagegen ist das komplexeste, aber auch riskanteste Buch Carvers. Nirgends wird das deutlicher als in der Geschichte "Eine kleine, gute Sache". Das Stück ist eine nachträglich veröffentlichte "unlished"-Version von "Das Bad", einer Story aus dem Band "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden". Ein Ehepaar, das seinen Sohn an dessen achtem Geburtstag in einem Autounfall verloren hat, fährt wutentbrannt zu dem Bäcker, der in den kritischen Tagen und Stunden, während im Krankenhaus noch Hoffnung für den jetzt toten Jungen bestand, immer wieder anrief und darauf bestand, daß die inzwischen ohne sein Wissen so tragisch nutzlos gewordene Geburtstagstorte abgeholt werde. Das Ehepaar will den Bäcker zur Rede stellen, beleidigen, vielleicht sogar umbringen. Aber als er vor ihnen steht, fällt allen dreien nichts Schlechteres ein, als einander ihr Unglück zu erzählen und so etwas wie Freunde zu werden. In einer der riskantesten Sprachgebärden des Buches brechen sie das Brot des Bäckers, das in diesem Moment nicht nur sich selbst, sondern die ganze Welt minus den Tod bedeutet: die Freundschaft, das Verzeihen, daß das Leben weitergeht, die Eucharistie, den amerikanischen Traum. Darin, daß von all dem nur in den subliminalsten stilistischen Färbungen eine Andeutung zu spüren ist, besteht die mystische Sprachgebärde der Short-story-Kunst Raymond Carvers, die nicht nur mit den Schlußsätzen dieser Geschichte gerade noch mal, mit einem hauchdünnen Abstand, am Kitsch vorbeibalanciert ist: "Sie verzehrten das dunkle Brot. Es war hell wie am Tag unter den Neonröhren. Sie redeten weiter, bis in den frühen Morgen hinein, der hohe, fahle Lichtschimmer stand in den Fenstern, und sie dachten nicht daran zu gehen."

So kam der durch, so ging es allenfalls", schrieb Goethe über solche Lebens- und Kunstlagen, "machs einer nach und breche nicht den Hals." Der Torero Carver arbeitet nun einmal nah am Stier Kitsch. Aber wahrscheinlich gehört es so zur Sprachgebärde der Short story, die eben anders als Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen oder Witz keine naive, ursprüngliche einfache Form ist, sondern den Sonderfall einer Second-order-Naivität darstellt, einer Einfachheit, die der sentimentalischen Komplexität des modernen Lebens - und dem Kitsch, der diese Komplexität einfach ignoriert - auf eine ebenso verzwickte Weise abgerungen werden muß. Daß Carver in "Kathedrale" den Mut beweist, ohne die formale Eleganz und Glätte der eingeschliffenen Short-story-Konventionalität auszukommen, macht den Band vielleicht wirklich, wie Günter Ohnemus geschrieben hat, zu seinem größten Buch.

Sein Thema sind, wie in den Bänden zuvor, die kleinen Tragödien eines durchschnittlich verunglückten Lebens in der lower middle class: Wohnungskündigung, Armut, miese Jobs, schlechte Ehen, Hauskreuz, Krankheit, häßliche Babys, Arbeitslosigkeit, Scheidungselend, Einsamkeit und, fast in jeder Geschichte und immer wieder: der Alkoholismus, das Saufen, der Filmriß, der Entzug, das Verhängnis, daß es nach dem ersten Glas auf eine unerklärliche Weise dann nur immer weiter geht, bis zur Zerstörung aller Beziehungen, Chancen, Gewißheiten und Ordnungen. "Anfangs hatte er wirklich geglaubt, er könne weiterhin trinken, wenn er sich auf Champagner beschränkte. Aber sehr schnell stellte er fest, daß er drei oder vier Flaschen am Tag trank. Er wußte, daß er sich ziemlich bald damit auseinandersetzen mußte."

Michael Rutschky war es, meiner Erinnerung nach anläßlich einer Rezension von James Agees "Preisen will ich die großen Männer", der zuerst darauf aufmerksam gemacht hat, daß Alkohol und Alkoholismus in der amerikanischen Literatur vorzugsweise in religiösen Kategorien bearbeitet werden. So ist auch das Saufen bei Carver mehr als einfach der Suff, die Sünde nämlich, das Zuschandenwerden aller menschlichen Pläne und Hoffahrten, eine säkulare Höllenfahrt, aus der nur die Umkehr herausführt, die Buße, die Erlösung, die Bekehrung, die Gnade. "Er wußte, daß er sich ziemlich bald damit auseinandersetzen mußte."

"Die Macht, die der Alkohol über die Menschheit ausübt", schrieb William James in seinem Klassiker "The varieties of religious experience", "verdankt sich unzweifelhaft seiner Eigenschaft, die mystischen Fähigkeiten der menschlichen Natur zu stimulieren, die gewöhnlich durch die kalten Tatsachen und die trockene Kritik der nüchternen Stunden niedergehalten werden. Die Nüchternheit verringert, unterscheidet, verneint; die Trunkenheit erweitert, vereinigt und sagt ja." Raymond Carver ist ein Klassiker des mystischen Alkoholismus und es hat viel intuitiv erfaßte Richtigkeit, wenn Judith Hermann in ihrem Vorwort zu "Kathedrale" ihre endgültige Einsicht über seine poetisch-mystische "Geistesbeschäftigung" als Erinnerung an ein Gespräch im Vollrausch ausspricht: "Ich erinnere mich, wie wir rätselten und tranken und sagten, daß Carver nur deshalb habe so schreiben können, weil er trockener Alkoholiker war mit Geschichten, die sich in der Nüchternheit an der Sehnsucht berauschten." Die Sprachgebärde der heilignüchternen Geschichten Raymond Carvers erzählt von der Sehnsucht nach unendlich viel mehr als dem nächsten Schnaps.

Raymond Carver: "Kathedrale". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helmut Frielinghaus. Mit einem Vorwort von Judith Hermann. Berlin Verlag, Berlin 2001. 267 S., geb., 39,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Die Kunst Raymond Carvers ist, so der Rezensent Ulrich Sonnenschein, die "Kunst der Auslassung", durch die das Erzählen in den Kurzgeschichten des Autors auf seinen "Zellkern" zurückgeführt wird. Lakonisch, nie psychologisierend, mit Augenmerk aufs "Elementare" erreicht Carver doch eine "besondere Intensität", entwickeln seine Geschichten den "unheimlichen Sog", den der Rezensent an ihnen bewundert. Besonders erwähnt werden die Erzählungen "Von wo ich anrufe" und "Chefs Haus", zu denen Sonnenschein paradox anmerkt, dass "die absolute Negation (selten) so vielversprechend" gewesen sei.

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