Produktdetails
  • Verlag: Philo
  • ISBN-13: 9783825702212
  • ISBN-10: 3825702219
  • Artikelnr.: 24100691
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2002

Jung-Berlin und seine Opfer
Fritz Mauthners "Tendenz-Roman" gegen Preußens Antisemitismus

Natürlich ist das verdächtig: eine Liebesgeschichte, in der alle Hindernisse überwindbar scheinen und das gute Ende zum Greifen nah. Doktor Heinrich Wolf, ein junger, aufstrebender Arzt in der Reichshauptstadt Berlin, die sich im Besitz der nämlichen Eigenschaften dünkt, verliebt sich im Hause eines adligen Gönners in dessen Tochter. Den schärfsten Rivalen um die Gunst der schönen Clemence von Auenheim hat Doktor Wolf in seinem besten Freunde, Leutnant Victor von Laskow. Ein gutes Jahrzehnt zuvor hatten die beiden einen halb scherzhaften Liebeshändel im Duell ausgefochten, als Laskow 1866 mit den siegreichen preußischen Truppen in Wolfs Heimatstadt Prag eingerückt war. Im Krieg gegen Frankreich trafen die Streithähne einander wieder, wurden zeitgleich verwundet und gemeinsam in der vornehmen Berliner Villa der Auenheims zur weiteren Genesung aufgenommen.

Unter den Linden zieht schon das stürmisch gefeierte, abermals siegreiche Preußenheer vorbei, dieweil beide Rekonvaleszenten noch strenge Bettruhe halten müssen. Allein Clemence hat im allgemeinen Trubel die lädierten Helden nicht vergessen. Sie bringt zwei Rosen ins Krankenzimmer, womit sie dem patriotischen Tatendrang der Leidensgenossen neue Wege eröffnet. Während Victor die Reize der zweiten Tochter des Hauses zu schätzen beginnt, erwidert Clemence die endlich offenbarte Neigung Heinrichs. Noch auf dem Sterbebett hatte Clemence's Mutter diese Verbindung vorausgesehen und gebilligt, trotz des Standesunterschieds. "Wieder einmal hatte die Liebe gesiegt", freut sich der Held auf Seite 182.

Einem happy ending mit allfälliger Doppelhochzeit steht nichts im Wege außer zwei allerdings bemerkenswerten Begleitumständen. Erstens der Tatsache, daß bei diesem freundlichen Stand der Dinge erst die Hälfte des Romans absolviert ist. Und sein Autor Fritz Mauthner, hauptamtlich Theaterkritiker beim "Berliner Tageblatt", verstand genug vom dramaturgischen Handwerk, um das halbe Glück noch in ein ganzes Fiasko umschlagen zu lassen. Mauthners Geschichte vom "Neuen Ahasver", die 1881 zuerst als Fortsetzungsroman erschien, bleibt spannend bis zum Ende.

Und zweitens - der Titel posaunt es ja heraus - wäre da noch die Kleinigkeit, daß Doktor Wolf Jude ist, seine Braut Clemence hingegen nicht. Schon in der Schulzeit hatte Heinrich die jüdische Herkunft als Makel und Quell ausgesuchter Peinigungen zu spüren bekommen. Ihn drängt es heraus aus der Enge der Prager Judenstadt in die vermeintliche Toleranz der Metropole. Heinrich Wolfs Niederlassung in Berlin und der nationale Aufschwung der Reichshauptstadt laufen im Gleichschritt, aber nicht aufs gleiche Ziel.

In Fritz Mauthners "Jung-Berlin" liegen Romanze und Tragödie dicht beieinander. Daß deutsche Gründerzeiten einer manisch-depressiven Stimmungskurve unterliegen, dünkt heutigen Lesern nicht unvertraut. Der Euphorie von 1870/71 folgte wenige Jahre später der große Zusammenbruch. Die Empörung gegen das Spekulationsfieber nährte Verschwörungstheorien und antijüdische Ressentiments. In Heinrich Wolfs Umgebung sieht man das Börsengeschäft und die Zinswucherei fest in jüdischer Hand. Wolfs einstige Prager Jugendfreundin ist inzwischen ebenfalls nach Berlin aufgerückt. Als frivole Gattin des "Wucherers Feigelbaum" gibt sie verschwenderische Salons, die zum Nährboden eines antisemitischen Komplotts werden. Ihr Liebhaber, ein unehrenhaft entlassener Offizier und enterbter Landjunker, wird zur Schlüsselfigur der Intrige. Er will Ruf und Besitz durch eine Heirat mit Clemence von Auenheim sanieren; also muß Heinrich Wolf verdrängt werden, mit allen Mitteln.

Aus einer Handvoll niederträchtiger Typen setzt Mauthner sein Erklärungsmodell für den aggressiven Antisemitismus um 1880 zusammen, holzschnittartig, aber effektvoll. Er zeigt beispielsweise einen notorischen Hungerleider und Möchtegern-Philosophen, der zum Hetzjournalisten mutiert, weil es ihm nicht gelingt, die Frau seines jüdischen Zimmerwirts zu verführen. Aus ähnlich durchsichtigen Gründen handelt der Finanzier der antisemitischen Kampagne, denn er ist Feigelbaums Teilhaber und Neider. Solche Zeitgenossen möchte man gerne für Zerrbilder halten, doch hat Mauthner mit ihnen ins wahre Leben gegriffen, wie Ludger Lütkehaus in seinem informativen Nachwort klarstellt. Neben Treitschke und Eugen Dühring ist es vor allem Wilhelm Marr, Verfasser des berüchtigten "Judenspiegels", nach dessen Bilde im Roman das Hetzblatt "Arminius" und seine Betreiber gemodelt sind.

Irritierend bleibt die klischeehafte Anlage des Personals gleichwohl. Gewiß ist Mauthner kaum vorzuwerfen, daß er als Romancier nicht in die Meisterklasse vorstößt, eher Marlitt als Fontane. Doch stellt sich die Frage, ob er auf einer bildhaften, subthematischen Ebene nicht selbst dem Antisemitismus kräftig Vorschub leistet, wenn die Wucherer blutrünstig sind wie Shakespeares Shylock, die Ostjuden als mauschelnde Krummnasen vorgeführt werden und das Scheunenviertel als Kleingauner-Brutstätte, in der Schnorrer und Denunzianten gedeihen. Derlei reproduziert das kulturelle "Wissen" eines physiognomischen Rassismus, verquickt mit dem Milieu-Determinismus des naturalistischen Zeitalters. Herkunft und Prägung bedeuten etwas unbedingt zu Überwindendes, denn sie stecken voller häßlicher Züge und niedriger Beweggründe.

Mauthner wollte mit dem "Neuen Ahasver" einen "Tendenz-Roman" schreiben. Für tendenziös kann man Figurenzeichnung und melodramatische Zuspitzung befinden, nicht aber Mauthners ausdrückliche Position. Sein Roman gibt eine differenzierte Antwort auf Theodor Mommsens Flugschrift "Über unser Judenthum". Als Liberaler hatte Mommsen 1879 gegen die antisemitische Kampagne der Treitschkes und Marrs beherzt Stellung bezogen, den Juden aber gleichzeitig als unumgängliche Anpassungsleistung die Konversion nahegelegt. Jedoch: War die Taufe für prinzipienfeste Juden eine Unvorstellbarkeit, so wäre sie für aufgeklärte eine Heuchelei gewesen, gibt Mauthner zu bedenken, seinerseits einem säkularisierten jüdischen Elternhaus entstammend.

Die Konzeption des Romans zielt darauf ab, Heinrich Wolf als einen selbst zwischen die Fronten geratenen mittleren Helden vorzuführen, der dem orthodoxen und zumal dem östlichen Judentum die Emanzipationsideale Lessings entgegensetzt. Für diese bildungshumanistische Option wird der Spielraum zunehmend enger. Auf einmal diktiert der Antisemitismus die "Tagesfrage". Sein Erfolg liegt nicht zuletzt in der Polarisierung, die auch Freisinnige wie Mauthners Doktor Wolf aus begreiflicher Solidarität ins Lager des überkommenen Väterglaubens zurücktreibt. Zur Dialektik des Rassismus und der politischen Instrumentalisierung kultureller Differenz liefert der "Neue Ahasver" Anschauungsmaterial von deprimierender Aktualität.

Der wohlmeinende Freund des Helden bemerkt, die Juden seien "wie die Fremdworte in der deutschen Sprache" - eine Denkfigur, auf die sich Adorno berief. Der als Sprachphilosoph bekannt gewordene Mauthner treibt die Analogie zu jenem Punkt, wo sie hoffnungslos wird. "Es gibt einzelne darunter, die gar keine Existenzberechtigung haben - andere, die sich noch ein wenig anpassen müssen - viele aber, die so vollständig mit dem Stamm der Sprache verwachsen sind, daß sie ohne Schaden garnicht entfernt werden könnten." Es muß, ungeachtet aller feuilletonistischen Routine, ein gerüttelt Maß an Verzweiflung gewesen sein, das dem Autor die Feder führte.

ALEXANDER HONOLD

Fritz Mauthner: "Der neue Ahasver". Roman aus Jung-Berlin. Hrsg. und mit einem Nachwort von Ludger Lütkehaus. Philo Verlag, Berlin 2001. 387 S., br., 25,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Als "literarische Entdeckung" bezeichnet der mit "sab." zeichnende Rezensent den wiederaufgelegten "Roman aus Jung-Berlin" des Journalisten und Romanciers Fritz Mauthner (1849-1923). Eingebunden in eine Liebesgeschichte zwischen einer jungen Adligen und einem jüdischen Arzt beschreibe Mauthner auf der Basis des Berliner "Antisemitismusstreits" von 1879 die Entwicklung des Antisemitismus um die Jahrhundertwende, wobei er - unheimlich genug - bis in die Sprachgewohnheiten hinein die 30er Jahre vorwegnehme. Auch sprachlich gefällt "sab." der Roman, er findet ihn "elegant gestaltet".

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