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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.2001

Zeugnis der Zerbrechlichkeit
Julia Kristeva preist Hannah Arendt als Genie der Weiblichkeit

Wenn eine Frau von solch brandender Originalität wie Julia Kristeva ein Buch über das "weibliche Genie" vorlegt, so könnte dies Erwartungen auf ein indirektes Selbstporträt wecken. Nichts dergleichen findet sich in Kristevas Buch über Hannah Arendt. Die Autorin setzt nur wenige eigene Akzente und nimmt ihre Person und Theorie beinahe völlig zurück vor dem Werk und dem Schicksal der anderen. Den Zwischenraum wahren und so erst den Freiraum schaffen für einen Dialog, der nichts mehr von einem maskierten Monolog an sich hat: Dies leistet Kristevas Buch in einer Weise, die den Schluß nahelegt, das "weibliche Genie" bestehe nicht zuletzt hierin: jegliches Imponieren mit dem eigenen Geistesbesitz - der bei Kristeva ja reichhaltig genug wäre - zu vermeiden und statt dessen eine hypothetische "Erzählung" vorzulegen, in der an die Stelle einer zu erhärtenden These die Bereitschaft tritt, das Unterstellte fallenzulassen, sich jedenfalls nicht darauf zu versteifen, es zu beweisen.

Dieses "weibliche" Genie, das auch von Männern geübt werden könnte, trägt nun aber doch den besonderen Stempel Julia Kristevas. Denn erstens gehört das Zurücktretenkönnen bei möglichst totaler Rezeptivität für den anderen zu den Grundvoraussetzungen des psychoanalytischen Genies, das Kristeva zweifellos ist. Und zweitens ist es Ausdruck ihres aus dem Hohlraum der symbolischen Ordnung aufbrechenden, die "Thesis" unterminierenden Denkens.

"Das Leben" - "Der Wahn" - "Das Wort": Diesen Brennpunkten gilt Kristevas auf drei Bände angelegte Typologie der weiblichen, also atypischen Genialität. Während die geplanten Bände zu Melanie Klein und Sidonie-Gabrielle Colette das weibliche Genie der Psychoanalyse beziehungsweise der Literatur porträtieren sollen, steht Hannah Arendt für das Genie des "Lebens". Der erste Blick Kristevas gilt allerdings Arendts eigenem Leben, ihrer Vaterfixierung vor und während der masochistisch-unterwürfigen Beziehung zu Martin Heidegger. Erst dieser persönliche Hintergrund kann die spätere Autonomie-Erklärung Arendts im Werk einsichtig machen, in dem nicht umsonst Individuation und Singularität eine Schlüsselrolle spielen. Das eindringliche Nachdenken über das "Wer" hat aber auch seine historische Notwendigkeit: Es markiert die Gegenposition zum Totalitarismus und zeigt damit an, daß der Genie-Gedanke bei Arendt niemals per se, sondern allenfalls als Gegengedanke zur totalitären Massengesellschaft in den Blick rückt.

In den "Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft" (1955) hat Arendt eine scharfsichtige Analyse dieser Gesellschaft vorgelegt, deren beide Extreme Faschismus und Kommunismus auf einer Verabsolutierung der Aufklärungsideale Universalismus und Säkularisierung beruhen. Genau im Zwischenraum, auf der Leerstelle zwischen Säkularisierung und Universalismus verortet oder utopisiert Kristeva Arendts "hypothetische, gewagte, eher der Hoffnung gewidmete als auf eine unwahrscheinliche Feststellung gegründete" Aktualisierung eines "Wer", das sich aus dem anonymen "Was" seiner Gattung herausreißt und damit jenes von Duns Scotus sogenannte "principium individuationis" realisiert, das der totalitären Vermassung entgegenwirken soll.

Die besondere Herausforderung dieses "Wer" besteht darin, über der Individuation den Anschluß an die Pluralität der Individuen zu wahren und nicht etwa jenem Führerprinzip Vorschub zu leisten, das Arendt in der Philosophie Martin Heideggers angedacht sieht. Für das weibliche "Wer" stellt sich das Problem, "die Singularität im Plural der Gruppe zu wahren", "unes femmes" zu werden (Kristeva), insofern verschärft, als der Status der Diskriminierung einerseits die Erweiterung des "Wer" zum solidarischen "Wir", andererseits die Vermeidung jeglicher Gleichschaltung erfordert. Folglich hat sich das weibliche Genie im Zwischenraum von Gleichschaltung und Solipsismus anzusiedeln, um dort eine Intersubjektivität zu stiften, die Zeugnis der "Zerbrechlichkeit der menschlichen Angelegenheiten" (Arendt) wäre und diese zugleich überwände in einer aus fremder Nähe geborenen Zwischenmenschlichkeit.

Diese Zwischenmenschlichkeit betrifft Arendt zufolge allerdings nicht erst das handelnde "Wir", sondern bereits das denkende "Wer", insofern dieses nämlich seit Sokrates als monologisches Zwiegespräch verstanden wird: als ein Denken der "Nahtstelle", das sich, so die Radikalisierung Kristevas, am Rande der Bewußtseinsspaltung, am Rande der Schizophrenie zu behaupten hat.

Hannah Arendt erfuhr die Verflüssigung des "Wer" zu einem "Subjekt im Prozeß" während des Eichmann-Prozesses. Der Prozeß gegen den Organisator der Judenvernichtung, über den Arendt 1961 im "New Yorker" berichtete, war in jeder Hinsicht danach geraten, die vorgefertigten Urteile seiner Zuschauer ins Wanken zu bringen. Präsentierte sich der indirekte Massenmörder Eichmann doch keineswegs als Verkörperung der Triebkräfte des Bösen, sondern als Repräsentant realitätsferner Gedankenlosigkeit und Urteilslosigkeit, kurz: als Repräsentant jener "furchtbaren Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert". Die Formel von der "Banalität des Bösen" stieß bekanntlich auf heftige Kritik - Arendt selbst hatte in "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" noch vom "radikal Bösen" gesprochen. Daß sie die Annahme eines "radikal Bösen" revidierte und an Eichmann zur Kenntnis nahm, was ihren ursprünglichen Erwartungen widersprach, zeugt für ihre Bereitschaft, die subjektive Position offenzuhalten, die eigenen Vorurteile zu verflüssigen und auf eine Neuordnung auszurichten.

Den Versuch einer solchen Neuordnung ihres "Denkens", "Wollens" und "Urteilens" stellt die Trilogie "Vom Leben des Geistes" dar. Motiviert ist dieses Werk durch das radikale "Ich will verstehen", mit dem Arendt sich selbst charakterisiert hat und das von Kristeva - eine der wenigen Passagen, in denen die Autorin sich selbst sprechen läßt - so ausgelegt wird: "Die Verstehende - Mit-Nehmende (com-/cum-prendre) wartet ab, akzeptiert, empfängt: Offener Raum, läßt sie sich bewohnen, berührt sie, geht sie mit (cum-, com-), Matrix des gelassenen ,Sich-gehen-lassens' . . ., das sich befruchten läßt." Nun bleibt das "Ich will verstehen" bei Arendt allerdings weder auf historische Hermeneutik noch auf Kritische Theorie beschränkt, sondern es realisiert sich als ein "Sinnstreben", aus dem Kristeva eine dreifache Manifestation von Arendts weiblichem Genie, seinem Entgrenzungsvermögen und seinen Grenzen herausliest.

Die erste Manifestation betrifft Arendts Denken über das Denken: Mit der pneumatologischen Metapher "der Wind des Denkens" drückt sie den springenden Punkt in "Vom Leben des Geistes" aus: daß Denken als "entmaterialisierte Quintessenz des Lebendigseins" und also nur prozessual, "im aktuellen Denkvorgang" vor sich gehen, nicht aber auf Ergebnisse fixiert werden kann. Die zweite Manifestation von Arendts Genie zielt ins Praktische: in die "Ethik eines uneingeschränkten Ja zum Leben", das sein Prinzip im "Wunder der Geburt" hat. Insofern die Geburt der wirkliche Anfang des Lebens ist, kann sie als Real-Prinzip gelten und von Kristeva als Kennzeichen einer "vorsubjektiven Determination menschlicher Freiheit" gewertet werden.

Zumal in "Vita activa" wird die "nackte Tatsache des Geborenseins" zum Paradigma des politischen Handelns und der politischen Initiative. Andererseits wird sie von Arendt durchaus nicht auf die nackte Tatsache des Geborenhabens zurückgeführt, also darauf, daß es die Frau ist, durch die das Tor zum Leben aufgestoßen wird: Arendt denkt Natalität, aber sie denkt nicht Mutterschaft. "Mütter können Genies nicht nur der Liebe, des Feingefühls, der Selbstlosigkeit, der Ausdauer oder selbst der Hexerei und des Zaubers sein, sondern auch einer bestimmten Art und Weise, das Leben des Geistes zu leben", schreibt dagegen Kristeva, und sie schreibt dies vermutlich auch auf der Erfahrungsgrundlage ihrer eigenen Mutterschaft, eine Grundlage, die Arendt fehlte. Arendt denkt Geburt unter Absehung von dem nie ganz berechenbaren Vorfall der Schwangerschaft ebenso wie vom ,Abfall', der Nach-Geburt, der Plazenta - und diese Abstraktion von Zufall und Sterblichkeit macht die Grenze ihres Natalitätsprinzips aus.

Die dritte Manifestation von Arendts weiblichem Genie sieht Kristeva in der Reflexion auf "Verzeihen" und "Versprechen" als den einzigen Mitteln, sich der "Zerbrechlichkeit der menschlichen Dinge" zwischen-menschlich und nicht gegenmenschlich zu stellen, also nicht im Ressentiment und im Rachedurst, wie sie von der "Unumkehrbarkeit" und der "Unvorhersehbarkeit" des zeitlichen Lebens hervorgerufen werden. Gemäß ihrer Dissertation über den "Liebesbegriff bei Augustin" denkt Arendt den transzendenten Grund von Versprechen und Verzeihen als Liebe - in der Formel Augustins: "volo ut sis". Uneingeschränkt kann diese Bejahung des Seins eines anderen vielleicht nur bei der Geburt ausgesprochen werden, und am uneingeschränktesten wohl von der Mutter.

In den Augen von Kristeva ist es daher die Mutterliebe, die gerade die "Frauen der kommenden Jahrhunderte" dazu geeignet macht, "Wächterinnen der Möglichkeit" des Lebens zu werden. Denn Mutterliebe, das ist die "Liebe für den Beliebigen, den Nächsten, der ebenso zerbrechlich ist wie ich angesichts des Todes und der durch meine Liebe als Frau und Mutter ständig den unerschöpflichen Sinn der vielfältigen Lebensweisen erfindet, die er mir als Gegenleistung zum Geschenk macht". Dieses Geschenk ist gefährdet, "wenn es der Menschheit gelingt, Geburten zu programmieren und das genetische Erbe zu modifizieren und dadurch das Risiko des Neuen in einen Automatismus zu verwandeln". Es scheint des weiblichen Genies zu bedürfen, um die geschlechtliche Geburt, die "mitunter Gefahr läuft, ein mittelmäßiges oder unglückliches Ereignis zu sein", dennoch als "die letzte - die einzige? - Wiederbelebung des Fragens nach dem Sinn eines jeden Lebens" zu erkennen.

SANDRA KLUWE

Julia Kristeva: "Das weibliche Genie". Das Leben, der Wahn, die Wörter. Bd. 1: Hannah Arendt. Aus dem Französischen von Vincent von Wroblesky. Philo Verlag, Berlin/Wien 2001. 388 S., br., 48,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Der mit upj. zeichnende Rezensent zeigt sich in seiner Kurzkritik sehr angetan von dieser Biografie Hannah Arendts. In dem ersten der auf drei Bände angelegten Versuche über weibliche Genies, werde der Begriff des Genies von der französischen Autorin - Psychoanalytikerin und Literaturwissenschaftlerin - zum Glück dann doch in ziemlich menschlichen Dimensionen angesiedelt, so der Rezensent beruhigt. Er lobt auch die Übersetzung des 1999 in Frankreich erschienenen Buches als "lesbar" und scheint damit rundum zufrieden.

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