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Reaktionär? Aber natürlich war Chesterton ein Reaktionär! -Mit zwölf Jahren Heide, mit sechzehn Agnostiker, mit dreißig Katholik-, und mit sechzig schwärmt er fürs Mittelalter. Die Erbsünde hält er für eine Selbstverständlichkeit, und den Menschen für das einzige Tier, das Dogmen herstellt. -Bäume-, behauptet er, -haben keine Dogmen. Steckrüben lassen alle Meinungen gelten.- Und -jede Wahrheit verwandelt sich in ein Dogma, sobald sie angegriffen wird. Und so definiert jeder Zweifler eine Religion. Aber was Chesterton an der Orthodoxie anzog, war keineswegs die Sicherheit, die sie bietet. Er…mehr

Produktbeschreibung
Reaktionär? Aber natürlich war Chesterton ein Reaktionär! -Mit zwölf Jahren Heide, mit sechzehn Agnostiker, mit dreißig Katholik-, und mit sechzig schwärmt er fürs Mittelalter. Die Erbsünde hält er für eine Selbstverständlichkeit, und den Menschen für das einzige Tier, das Dogmen herstellt. -Bäume-, behauptet er, -haben keine Dogmen. Steckrüben lassen alle Meinungen gelten.- Und -jede Wahrheit verwandelt sich in ein Dogma, sobald sie angegriffen wird. Und so definiert jeder Zweifler eine Religion. Aber was Chesterton an der Orthodoxie anzog, war keineswegs die Sicherheit, die sie bietet. Er witterte den Skandal, den sie, sobald man sie ernst nimmt, für den normalen Menschenverstand bedeutet. Damit verglichen wirken die meisten Ketzereien harmlos. Die materialistische Vernunft, vertreten durch seine Zeitgenossen H. G. Wells und Bernard Shaw, sieht tatsächlich ziemlich alt aus, wenn ein frommer Freigeist wie Chesterton gegen sie antritt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.1998

Möhren Föhren Röhren
Chestertons Reim auf die Welt / Von Jürgen Kaube

Die treffendste unter Hunderten von Anekdoten über Gilbert Keith Chesterton besteht nur aus einem einzigen Satz, den er einst von einem Bahnhof aus an seine Frau telegrafierte: "Bin in Market Harborough - wo sollte ich sein?" Chesterton, der dickste Mann der Fleet Street, war die vollendete Synthese aus physischer Präsenz und Geistesabwesenheit. Manchmal fragte er in seiner eigenen Straße in Battersea die Leute nach dem Weg. Mitunter sah man ihn in einem Buchladen Gedichte vor einer nicht vorhandenen Zuhörerschaft deklamieren. Einmal kam er dem entsetzten Hausmädchen mit dem Ausruf "Verdammt, ich hab' ja schon gebadet" unter einem Schwall Wassers aus der Wanne entgegen.

Solche Szenen belegen jedoch nicht die Zerstreutheit und Weltvergessenheit eines Gelehrten. Englands berühmtester Essayist der ersten Jahrhunderthälfte war in jeder Hinsicht weltzugewandt. Anders als der griechische Philosoph Karneades geschah es ihm nie, daß er es beim Essen vor lauter Gedanken unterließ, den Löffel zum Mund zu führen. Chesterton vergaß nicht das Bier über der Philosophie, sondern über der Philosophie des Biers jede andere. Seine Essays handelten stets vom Christentum, von Erkenntnistheorie, Politik und Ethik. Ihre Titel aber lauteten "Von Sandalen und Schlichtheit", "Vom Vorteil der Einbeinigkeit" oder "Wenn Weißwein rot ist".

Im Nächstgelegenen war für ihn das Allerallgemeinste aufgehoben, jeder Ort war ihm ein "Market Harborough". Ihm ähnelte durch Seltsamkeit jeder andere Flecken auf der Welt. Und ihrer Seltsamkeit halber war er sich niemals ganz sicher, ob er hier richtig sei. Selbst wenn die Welt nur eine Täuschung sein sollte, heißt es einmal, so sei es doch immerhin eine verblüffende Täuschung. Gerade das Verblüffende aber zeigte Chesterton, daß nicht alles selbstgemachte Einbildung sein kann. Denn worüber würden wir dann erstaunen? "Selbst wenn die Fakten nicht stimmen, bleiben sie doch allemal etwas Fremdes." Abwesend war Chestertons Geist, weil er sich stets auf das konzentrierte, was nicht auf der Hand liegt: die Wirklichkeit.

Chestertons Werk, von dem hierzulande fast nur noch die Detektivgeschichten um Pater Brown bekannt sind, trägt die Überzeugung, daß Wirklichkeitserfahrung nur dem zufällt, der dogmatisch zu denken vermag. Die Befassung mit den letzten Dingen erschien ihm zur Erkenntnis der ersten und der nebensächlichsten ganz unentbehrlich. Als Detektiv tritt der Intellektuelle der Welt im Glauben daran gegenüber, daß jeder Fall, also auch der ihre, eine Lösung hat. Vor allem aber: daß alles auf eine solche Lösung ankommt. Wer nach letzter Gewißheit strebt, ist für Chesterton deshalb nicht der weltfremdeste, sondern der allerpraktischste Mensch.

Die 1905 erschienenen "Heretics", die jetzt erneut auf deutsch vorliegen, entfalten aus dieser Überzeugung eine Kritik der Moderne. Chesterton attackiert eine Welt, die ihm den Willen zu verlieren scheint, sich selbst zu begreifen. Alles sei mittlerweile wichtig, nur nicht das Ganze. Überall höre man Meinungen und Thesen, die, zu Ende gedacht, in den Irrsinn führten. Aber schlimmer noch: Niemand denke sie mehr zu Ende. Am wenigsten diejenigen, die sie äußern. Denn nichts werde mittlerweile weniger ernst genommen als Grundsätze und Dogmen. Dadurch aber werde die Welt konturenlos. Meinungsfreiheit und Indifferenz reichen sich die Hand.

Chesterton gibt zahllose Beispiele dafür, daß sich das beginnende Jahrhundert in seiner eigenen Ratlosigkeit eingerichtet hat. In der Literatur erscheint ihm Ibsen als ihr Genie. Warum die Helden seiner Dramen wahnsinnig werden oder sich töten, begreifen wir. Warum manche seiner Figuren dem Wahnsinn entgehen, begreifen wir nicht. An der "Göttlichen Komödie" ist uns nur noch die Hölle verständlich. Über das Gute ist Schweigen verhängt. Die Beantwortung der Frage, worin es bestehe, wird gern auf "kommende Generationen" vertagt. Das Zeitalter des Fortschritts ist deshalb zugleich dasjenige, dem am wenigsten klar ist, worin er bestünde. Entsprechend würden Ideale durch die Forderung nach "Effizienz", Tugenden durch "Disziplin", Postkutschen durch "Röhren" ersetzt. Anstatt sich über ihre Wünsche klarzuwerden, übe sich die Moderne in "Erfolgsorientierung".

Seinem Grundsatz gemäß, daß nichts wichtiger ist als Grundsätze, nimmt sich Chesterton die Ideologen dieser weltflüchtigen Haltung vor. Sie sind die "Häretiker" im englischen Titel der Abhandlung. Dabei geht es nicht um religiöse Abweichung als solche. Insofern ist für das theologisch beeindruckbare Gehör der deutsche Titel "Ketzer" leicht unstimmig. Was Chesterton am modernen Häretiker beschäftigt, ist, daß er auf den Besitz des rechten Glaubens, der Orthodoxie verzichtet und sich damit auch noch brüstet. Nicht Atheismus, sondern Desinteresse an den letzten Dingen ist das Problem. Freilich vertreten die Antiorthodoxen von heute auch ihre Freidenkerei dogmatisch, den Materialismus mit Traktaten und den Relativismus aus Prinzipien. So werden sie zu Belegstücken ihres Gegenteils: Mensch sein, so Chesterton, heiße nun einmal dogmatisch sein; und je dogmatischer, desto menschlicher. "Nur Möhren sind extrem weitherzig."

Chesterton entfaltet ein Panorama intellektueller Positionen des Fin de siècle, deren falschen Dogmen er entgegentritt. Skeptizismus, Imperialismus, Materialismus und Ästhetizismus heißen die Köpfe dieser häretischen Hydra. Er streitet gegen die Vision vom Übermenschen und gegen Carlyles komische Heldenverehrung, gegen die asketischen Ideale Tolstois und die anästhetische Ethik von Walter Pater und George Moore. In all diesen Positionen, deren Pendants in der Gegenwart sich unschwer finden lassen, erkennt er eine Gedankenlosigkeit, die sich als Stärke, Härte oder Nüchternheit maskiert. Jede von ihnen wird dem "common sense" ausgesetzt und scheitert an den allereinfachsten Befunden. Man kann die zeitgenössischen Ideologien nicht leben, ohne sich lächerlich zu machen.

Für Chesterton zeigt sich in ihnen darüber hinaus vor allem eins: Der moderne Mensch hat schwache Nerven. Deshalb genießt er nicht, sondern benutzt den Genuß zu Vergessenszwecken. Als Militarist kämpft er nicht, sondern trainiert lieber. Als Imperialist benötigt er für seinen Patriotismus die Größe der Nation; und deshalb liebt er sie nicht, weil Liebe ohne Grund auskäme. Als Tourist reist er nicht, sondern flüchtet und starrt seinesgleichen lieber an, als mit ihnen zu leben. Der moderne Mensch wolle aus der Straße, in der er lebt, herauskommen. Dabei sei es nur vordergründig die Enge und Langeweile von Familie, Dorf und Tradition, die er flieht. Vielmehr verstört ihn alles, was er nicht in der Hand hat. Ihn schreckt die Familie als etwas Willkürliches. Ihn stößt die Vergangenheit als etwas Unwiderrufliches ab. Er will nicht - zu Lust und Qual - ausgewählt werden, sondern selber auswählen.

Wenn er die Großstadt gegenüber dem Dorf, die Technik der Religion oder die Zukunft der Vergangenheit vorzieht, liegt das nicht an seinem Verlangen nach etwas Bestimmtem. Vielmehr liebt er das Vorziehen selbst. Er behauptet seine indifferente Freiheit nicht, damit er so stark ist wie das Universum, sondern damit dieses so schwach wird wie er selbst. Am Ende wird er freilich das Sonnensystem nur erobert haben, "um festzustellen, daß die Sonne berlinert und die Sterne Spießer sind". Chestertons Kritik des zivilisatorischen Größenwahns läuft darauf hinaus, daß auch der Kosmos nur ein "Market Harborough" ist und seine Bewohner nie etwas anderes sein werden als Provinzler.

Neben diese Kritik moderner Gigantomachie tritt die der Arbeitsteilung. Überall erscheint Chesterton das Spezialistentum auf dem Vormarsch. Man läßt singen, denken, streiten - anstatt es selbst zu tun. "Wenn es so weitergeht", heißt es, "dann wird irgendwann nur noch einer lachen, weil er besser als alle lachen kann."

Gegen alles drei, die schwachen Nerven, den Größenwahn und das Spezialistentum, setzt Chesterton die Erinnerung an die Religion. Ihre Rituale und Dogmen beweisen mehr Sinn für die Wirklichkeit, als es sich die säkulare Selbstgenügsamkeit träumen läßt. Denn sie bewahren den Sinn dafür, daß nur die Geisteskranken für alles einen Grund beibringen können. Die Religion lehrt, daß die Welt aus Sinn und Unsinn zusammengesetzt ist. Als christliche lehrt sie deshalb vor allem Demut und Geduld. Für Chesterton gibt es nichts Verständigeres, denn der Stolz macht den Menschen kraftlos. Wenn sein einziges Kriterium der diesseitige Erfolg ist, dann hält er nie lange genug durch, um irgendwo zu triumphieren. Die Wirklichkeit fällt nur denen zu, die sie nicht anbeten.

Diese Verteidigung der Orthodoxie scheint in das Zeitalter vor den Weltbürgerkriegen und Fundamentalismen zu gehören. Wurde Chestertons Lob der umfassenden Ideen und Passionen nicht vom Jahrhundert der Extreme diskreditiert? Er selbst jedenfalls meint, gerade die Relativisten neigten zum politischen Furor. Gerade der Mensch ohne Ideale werde leicht zum Fanatiker, weil er haltlos in jedes Erlebnis hineingetrieben werde. Menschen ohne Ideen steige gleich die erste, die sie bekommen, zu Kopf. Gegen die Gefahr der Ideen gibt es nur ein Mittel: von Ideen durchdrungen zu sein. Und dabei gelte: "Das ideale Ideal benebelt am wenigsten." Denn auf je entferntere Wünsche man zielt, desto weniger täuscht man sich, sie erreicht zu haben.

Hinter allen Argumenten zugunsten der Religion als eigentlicher Kraft, in der Moderne den Verstand nicht zu verlieren, steht zuletzt eine romantische Erfahrung: Die Welt ist nicht entzaubert. Eine der wenigen Möglichkeiten, die Trauer darüber zu besänftigen, daß sich trotzdem viele so verhalten, als sei sie es, wurde von Chesterton ergriffen. Ohne Unterlaß behauptete er den Glauben an die Existenz Gottes als das einzige Mittel, um an entscheidender Stelle nicht zu verdummen. Nicht der geringste Reiz dieser Behauptung ist es - wie einmal über Franz Blei gesagt wurde -, daß sie seine Leugner ärgert und damit die Idee der Religion auf dem Umweg der Polemik und des Lachens am Leben erhält. Man könnte Chesterton deshalb auch in diesem Buch, das er lange vor seiner Konversion zur römischen Kirche schrieb, einen religiösen Schriftsteller nennen. Insofern er sich darauf spezialisiert hat, über alles zu schreiben, ist das wohl auch nicht falsch. Das Dogma, bemerkte er, sei nicht die Abwesenheit des Denkens, sondern das Ziel des Denkens.

Das heißt aber auch - es ist niemals sein Anfang. Deshalb tritt das apologetische Argument in seinen Essays immer wieder beiseite und läßt ein Bild durch. Chesterton spricht von der Geburt als dem willkürlichsten und insofern romantischsten Moment im Leben: "Bei der Geburt sehen wir etwas, was wir uns vorher nicht hatten träumen lassen. Vater und Mutter liegen auf der Lauer und fallen über uns her wie Räuber aus dem Gebüsch. Der Onkel ist eine Überraschung. Die Tante kommt wie ein Blitz aus heiterem Himmel." Oder "Das gesamte Universum durchzieht eine gespannte und heimliche Feststimmung - wie die Vorbereitung zum Guy Fawkes Day. Ewigkeit ist der Vorabend von etwas und die Sterne am Himmel erstarrte Funken der Silvesterrakete eines Buben."

Das sind Kinderbuchbilder, die einen so schnell nicht wieder loslassen. Der Spannungsbogen zwischen ihnen und dem paradoxen "common sense" bestimmt Chestertons Werk. Auf die Frage, welches Buch er auf eine einsame Insel mitnehmen würde, hat er einmal geantwortet: "Mr. Robertsons Einführung in den Schiffsbau." Chesterton hat etwa siebzig Bücher geschrieben. Nicht alle sind ihm gelungen. Aber das beste Dutzend enthält Anleitungen zur Selbsthilfe nach metaphysischer Seenot. Dies hier ist eins von ihnen. 1912 ist es erstmals ins Deutsche übersetzt worden. Chesterton starb 1930. Die deutschen Verleger haben uns bald siebzig Jahre hingehalten. Sie sollten diese praktischsten aller Ratgeber endlich unters Lesevolk bringen.

Gilbert Keith Chesterton: "Ketzer". Eine Verteidigung der Orthodoxie gegen ihre Verächter. Aus dem Englischen von Monika Noll und Ulrich Enderwitz, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1998, 296 S., geb., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Seit dem 11. September läuft die Debatte über das friedliche Miteinander der Religionen auf Hochtouren. Es ist aber nicht damit Genüge getan, schreibt Ulrich Greiner, wenn man sich allein mit dem Anderen beschäftigt, ohne sich selbst, die eigene Kultur zu kennen. Und die fußt, ist der Rezensent überzeugt, auf dem Christentum, viel mehr als Vielen recht sein dürfte. Zur Nachhilfe über das, was denn christliche Kultur nun ist, empfiehlt Greiner zwei Bücher des als Autor von Detektivgeschichten ("Pater Brown") bekannt gewordenen Gilbert Keith Chesterton (1874-1936), der vor mehr als siebzig Jahren treffliche Betrachtungen über die "widersprüchliche Vielfalt des Christentums" abgefasst und den Rezensenten damit beeindruckt hat. Zwei dieser Essays, "Ketzer", bereits 1998 erschienen, und "Orthodoxie", liegen "hervorragend übersetzt" auf Deutsch vor.
Beiden widmet Greiner eine lange Besprechung, in der er dem Leser aber scheinbar nicht verraten mag, worin das jeweils Eigene der Bücher liegt. Beide jedenfalls beinhalteten drei Aspekte des Christentums: den der christlichen Haltung, den der demokratischen Grundannahme und schließlich den Konservatismus, dass einzig das Christentum menschenfreundlich und Demokratie ein Grundbedürfnis sei. Den Leser erwartet, verspricht Greiner, ein "seltenes intellektuelles Vergnügen", und doch muss er mit Entspannung und Beunruhigung zugleich rechnen. Es beruhigt, meint der Rezensent, zu wissen, wie klar die Ursprünge der christlichen Kultur sind, und es beunruhigt, fährt Greiner fort, dass ihre Lebenskraft ein Spektrum zeigt, das von Aggressivität zur Defensivität, von Souveränität zur Servilität, vom Erlöschen bis zur Unbesiegbarkeit reicht.

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