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Produktdetails
  • Verlag: Eichborn
  • Originaltitel: Moi grand apartement
  • Seitenzahl: 205
  • Abmessung: 21mm x 131mm x 218mm
  • Gewicht: 345g
  • ISBN-13: 9783821806945
  • ISBN-10: 382180694X
  • Artikelnr.: 21835448
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2001

Heilige Familie im Schwimmbad
Leise Töne: Christian Oster erzählt aus der französischen Provinz

"Monter à Paris", nach Paris aufsteigen - das sieht der klassische Lebens- und Karriereplan in Frankreich vor. Jener junge Mann aber, der sich gleich im ersten Satz dieses Romans höflich mit "Ich heiße Gavarine" vorstellt, beschreitet den umgekehrten Weg: Er geht von der Kapitale in die Provinz, und er begreift es nicht als Abstieg.

Im klassischen französischen Roman kämpfen ehrgeizige Jünglinge mit Paris wie mit einem Drachen; sie siegen oder scheitern, und das ist immer eine große Sache. Für Luc Gavarine wäre Scheitern schon ein viel zu lautes Wort. Sagen wir lieber: Es hält ihn nichts mehr dort. Seine Arbeit hat er verloren - "Ich war Angestellter, beinahe wäre ich zum leitenden Angestellten aufgestiegen. Vor dem Aufstieg aber hatte ich gezögert, was mich meine Arbeit gekostet hat." Seine Freundin Anne, eine schweigsame Floristin, hat ihn verlassen, oder vielmehr ganz undramatisch: Sie ist einfach nicht mehr da.

Auch in seine Wohnung, "meine große Wohnung", wie er stets betont, kann er nicht mehr hinein: Er hat seine Mappe verloren, und in dieser Mappe waren die Schlüssel. Wobei er den Verlust der Mappe mehr bedauert. "Ohne Mappe fühle ich mich nackt", formuliert er nicht sehr originell; auch wenn er, außer den Schlüsseln, nie etwas darin getragen hat, brachte sie doch seine Angestelltenexistenz perfekt zum Ausdruck. Damit ist es nun vorbei; wie die Haustür ist diese Existenz verschlossen und ab sofort unzugängliche Vergangenheit, es ist Zeit für etwas Neues. Von diesem Neuen erzählt Christian Osters Roman. Schlüssel und Mappe sind dabei fast aufdringliche Zeichen an einer Figur, die sonst nur durch Unauffälligkeit auffällt.

Gavarine ist ein Charakter ohne charakteristische Züge. Ein Mann der Ordnung, der Rituale und der ewigen Wiederkehr, ein Zögerer und Leisetreter wie viele seines Schlages. Doch nun läßt er sich treiben, und erst einmal treibt er auf der Prosa Christian Osters dahin. Das ist eine Anknüpfungs- und Fortspinnungsprosa, die sich über Wortverwandtschaften und Nebenbedeutungen vorantastet, die sich aber auch mit aufwendigen syntaktischen Befestigungen gegen das drohende Chaos wappnet. Es ist ein Mauerwerk, gekrönt von den Wehrtürmchen des "Subjonctif II", einer heute preziös klingenden Verbform, die aber jedem Franzosen von der Schule her noch vertraut ist - und natürlich von den Klassikern. Im Deutschen nachbilden kann ein Übersetzer solche grammatikalischen Formen, solche kulturellen Konnotationen natürlich nicht; er kann sich nur mit auffälligen Konjunktiven und Umlauten ("hülfe") behelfen. Lis Künzli macht ihre Sache gut, nur gegen Ende erlahmt ihre Sorgfalt. "Und wenn wir unsere Gläser noch mal füllten, wir anderen" heißt auf gut deutsch (und hier der französischen Tonlage entsprechend) nichts anderes als "Kommt, laßt uns noch einen trinken".

Bei Christian Oster ist, dem berühmten Wort Buffons folgend, der Stil der ganze Mensch. Es ist der sich schon bei einfachsten Alltagshandlungen verzettelnde Umstandskrämer, dessen Elan bereits in der Entwurfsphase versickert. Also läßt der Autor auch die Sätze seines Ich-Erzählers stranden wie Schiffe, die es nicht einmal aus dem Hafen heraus schaffen, weil sie die Ebbe vergessen haben. Er setzt an "Während für mich natürlich" oder "Ich fragte mich, ob im Grunde", aber alles, was dann folgt, ist ein Punkt. Wie in Tschechows traurigen Komödien wird nicht zu Ende gesprochen, gedacht, gehandelt. Und doch geht es irgendwie weiter, nimmt die aller bürgerlichen Stützen beraubte, frei flottierende Angestelltenexistenz gerade am Nullpunkt eine neue Wendung - und gleich wird die Prosa schneller, flexibler, offener und spannender.

In einem Schwimmbad erblickt Gavarine eine Frau und beschließt: Das ist sie. Auf einen Schlag - coup de foudre sagen die Franzosen dazu - liebt er sie, obwohl sie, was selbst die hitzigste Leidenschaft abkühlen könnte, schwanger ist und offensichtlich kurz vor der Entbindung steht. Er spricht sie an, sie läßt es sich gefallen, sie verlassen das Schwimmbad gemeinsam, und schon am nächsten Tag begleitet er sie in ihre Heimat im Département Corrèze und, kaum am Bahnhof angekommen, ins Krankenhaus. Er hält die Hand der Frau, von der er gerade mal den Vornamen Flore kennt, hilft ihr, ein Mädchen zur Welt zu bringen, und bildet mit den beiden eine seltsame "heilige Familie", zu der sich am Rande des Bildes noch Flores Bruder Jean gesellt, der in einer prähistorischen Höhle Führungen veranstaltet, und ein Onkel, der etwas vage als "Überlebender" gekennzeichnet wird. Gavarine ist der geborene und entschlossene Verlierer. Immer nimmt er Niederlagen vorweg. Auch Flore, darauf wartet er regelrecht, wird ihn wegschicken. Aber es kommt anders, und genau das ist "unerhörte Begebenheit", die sich hier ereignet. Ich liebe dich nicht, aber du kannst bleiben, gibt ihm die junge Mutter zu verstehen. Am Schluß hält er wieder einen Bund Schlüssel in der Hand; sie führen in die Höhle, durch die Gavarine nun selbst Besuchergruppen führen kann.

Dieses Symbol setzt einen fast zu lauten Schlußpunkt in einem ansonsten leisen Buch. Christian Osters siebter Roman ist der erste, der auf deutsch vorliegt. Er bringt einen neuen Ton aus Frankreich herüber, einen diskreten Ton, der sich gerade durch diese Qualität im Ohr festsetzt. Wäre es ein deutscher Autor, dächte man unweigerlich an die Verlierer-Gestalten von Robert Walser; da er aber ein Franzose ist, kommt man um den großen, ebenfalls spät entdeckten Emmanuel Bove nicht herum. Aber Oster ist ein Bove, der in Dur komponiert; er hüllt die prekären Existenzen seines Buches mit Nachsicht, Ironie und Humor ein. Osters Humor ist dabei so zart, daß man immer Gefahr läuft, ihn zu überhören. "Bis morgen" sagt Gavarine zu Flore nach der Geburt und fügt hinzu: "Ich hatte nur selten in einer solchen Situation so viel zu einer Frau gesagt." Eine andere Szene, Jean zeigt Gavarine die Höhle. "Gefällt es dir? fragte er. Das ist nicht das Wort, sagte ich. Ich finde es. Du müßtest etwas deutlicher werden, sagte er." Der Leser wird sagen: Das war deutlich genug.

MARTIN EBEL

Christian Oster: "Meine große Wohnung". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Lis Künzli. Eichborn Berlin Verlag, Berlin 2001. 208 S., geb., 36,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.02.2001

Literatur
Mappe mit Klappe
Lasst Blumen sprechen: Christian
Osters „Meine große Wohnung”
Die 205 Seiten mit großem Durchschuss sind schnell gelesen. Es geht um einen jungen Mann mit großer Wohnung. Luc Gavarine verliert seinen Hausschlüssel – und damit die Wohnung und seine Freundin. Dafür findet er das Glück. Größer als der Durchschuss ist der Ausschuss. Christian Osters Prosa ist manieriert und tritt erzählerisch auf der Stelle. Trotzdem: „Meine große Wohnung” (Eichborn Verlag, Frankfurt/M. , 36 Mark) wurde in Frankreich mit dem Prix Médicis ausgezeichnet. Die eigentliche Heldin des Buches aber ist die Übersetzung. Sie ist von trauriger Gestalt. Die Französische Botschaft in Berlin hat sie gefördert. Weiß sie, was sie sich (und uns) damit angetan hat?
Unser Held hat seine Mappe verloren, in der auch der Schlüssel lag. Die Mappe war sein ständiger Begleiter, sogar auf dem kurzen Weg zum Bäcker: „Ich schob das Brot schräg hinein, so dass das Ende wie eine Galionsfigur aus der Öffnung herausragte, die bei diesem Modell von der Klappe in Verschlussposition ausgespart blieb. ” Seltsam, diese Variante mit Klappe, deren „Öffnung” in „Verschlussposition” – wie heißt es? – „ausgespart” bleibt. Die Übersetzerin verwendet zwar irgendwie die deutsche Syntax und auch deutsche Wörter, aber es kommt kein Deutsch dabei heraus: „Lieber als bis Ladenschluss zu warten, kaufte ich Blumen, die ich ihr nicht schenkte, denn wiederzukommen, um Blumen zu kaufen, ja, schließlich konnte ich gut Blumen kaufen, ohne dass Anne es mir übelnahm. ”
Der Satz „Lasst Blumen sprechen” hat in solchen Verbalattacken auf uns Leser seinen Ursprung. Schlechte Übersetzungen kommen vor, darüber muss man sich nicht groß aufregen. Aussichtslose Fälle wie dieser sind schon seltener. Jedes Lektorat wäre hier Strafarbeit gewesen. Der Punkt ist ein anderer: Mit einer Spur von Verlagskultur würde sich der Verlag ein Buch nicht fördern lassen, ohne für ein würdiges Erscheinen Sorge zu tragen.
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SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Einen neuen Ton, der sich gerade durch seine Diskretion im Ohr festsetze, hört Rezensent Martin Ebel aus diesem Roman klingen. Sein Protagonist sei der "geborene und entschlossene Verlierer". Wäre Oster ein deutscher Autor, dann würde man vielleicht an "die Verlierergestalten von Robert Walser" denken. So aber muss Ebel unweigerlich den Vergleich mit Emmanuel Bove suchen: Oster sei ein Bove, der in Dur komponiere. Die "prekären Existenzen" seines Buches hülle er "mit Nachsicht, Ironie und Humor" ein. Besonders den Protagonisten Luc Gavarine hat Ebel mit inniger Anteilnahme begleitet, wie er auf Osters "Anknüpfungs- und Fortspinnungsprosa" seinem Scheitern entgegen trieb. Christian Osters siebter Roman, erfahren wir auch, ist der erste, der nun auf deutsch vorliege. Der diskrete, und daher umso eindringlichere Enthusiasmus, mit dem Ebel das Buch bespricht, legt nahe, sich weitere Oster-Bücher auf Deutsch zu wünschen. Der Übersetzerin Lis Künzli bescheinigt Ebel, ihre Sache gut gemacht zu haben. Selbst "die preziös klingende Verbform 'Subjonctif II '" habe sie im Deutschen sinnfällig nachgebildet. Lediglich gegen Ende sei ihre Sorgfalt allgemein ein wenig erlahmt.

© Perlentaucher Medien GmbH"