Produktdetails
  • Verlag: Eichborn
  • Seitenzahl: 218
  • Abmessung: 23mm x 130mm x 219mm
  • Gewicht: 359g
  • ISBN-13: 9783821806938
  • ISBN-10: 3821806931
  • Artikelnr.: 08857520
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Glücklicher, du Maßstab der Verblödung
Bodenhaftung im Wartheland: Thomas Harlans Roman des Schreckens und der geknoteten Taschentücher / Von Lothar Müller

Eine der einfachsten Techniken, dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, ist die, sich einen Knoten ins Taschentuch zu machen. Das geschieht in diesem Buch schon nach wenigen Seiten. Józef Najman, polnischer Armeeschneider, ein einfacher Mensch und Mörder, will sichergehen, daß er nicht vergißt, dem Pferd Franz Heu zu geben. Józef lebt nach dem Krieg mit Rosa in einem Erdhaus auf einer Lichtung in der Nähe von Chelmno, das die Deutschen, die dort im Jahr 1941 das erste Massenvernichtungslager errichteten, Kulmhof nannten. Weil der Knoten im Taschentuch Józef an das Pferd Franz erinnert, erinnert er ihn zugleich an den Mann, dessen Namen die Stute trägt, weil es Rosa so gefällt. Franz Maderholz hieß der Deutsche, mit dem sie sich im Februar 1942 verlobte und der ihr noch schrieb, als er längst nach Triest abkommandiert war. Franz Maderholz war der Zahlmeister von Kulmhof und hatte für seine Geliebte Geschmeide und Eheringe der Toten beiseite geschafft. Nach dem Krieg hat Józef, der im Verdacht steht, seine erste Ehefrau ermordet zu haben, Rosa geheiratet. Doch Rosa vergißt Franz nicht, auch ohne sich einen Knoten ins Taschentuch zu machen.

Thomas Harlan, geboren 1929 in Berlin, ist der Sohn des im Nationalsozialismus erfolgreichen Regisseurs Veit Harlan und der Schauspielerin Hilde Körber. Im Jahr 1941 wurde er Führer der Marine-Hitlerjugend, nach dem Krieg Theaterautor und Filmemacher. Den erstaunlichen, faszinierenden und enervierenden Roman "Rosa" hat er im Alter von siebzig Jahren geschrieben. Das wohltemperierte, gelassen zurückblickende Erzählen hat darin keine Chance: Es werden zahllose Lebensknoten ineinander verschlungen. Die Geschichte um die polnische Kollaborateurin Rosa, den unheimlich treuen Józef und den deutschen Todesverwalter Franz entläßt aus sich einen ganzen Schwarm von Figuren, die aus den historischen Archiven zur Geschichte der Vernichtungslager in Polen stammen. Sobald der Leser das Buch aufschlägt, hat er paßfotogroße, mit Namen versehene historische Porträts vor Augen: Zeugen, Lagerkommandanten, Untersuchungsrichter. Józef, Rosa und Franz Maderholz sind nicht dabei. Aber ein weißes Pferd: "Franz".

Unter dem Bild der jungen, schwarzhaarigen Frau in der gestreiften Bluse steht "Helena M.". Sie hat, so wird im Buch zu lesen sein, im Jahre 1956 als Redakteurin einer Zeitschrift im Archiv des Kreisgerichts Kolo, des ehemaligen Warthbrücken, die Akte "Rosa Peham" gefunden. Darin ist ein Familienzwist dokumentiert: wie nach dem Krieg Malgorzata Peham ihrer Schwester Rosa das Auge ausschlug. Hinter dem Schwesternstreit öffnen die Akten den Blick auf das Schloß- und Waldlager Kulmhof, auf die Massentötungen zwischen Dezember 1941 und 1943, auf die Einrichtung von Feldöfen auf der Lichtung des Jagen 77, auf die anschließende Aufforstung des gesamten Geländes.

In der Mimikry mit Untersuchungsprotokollen, in der Montage stockender Zeugenaussagen von Fahrern und Dienstmägden, Förstern und Beamten sucht der Roman Bodenhaftung im Wartheland, am Flüßchen Netze, wo Rosa und Józef hausen: "52 Grad 7 Sekunden nördlicher Breite, 18 Grad 45 Sekunden östlicher Länge". Manche Figuren sind aus den Büchern über die Massentötungen von Eugen Kogon über Lucy S. Dawidowicz bis Ernst Klee bekannt, etwa der SS-Sturmbannführer Rolf-Heinz Höppner, der in einem Schreiben an Adolf Eichmann vom Juli 1941 als "humanste Lösung" vorschlug, die nicht mehr arbeitsfähigen Juden aus Litzmannstadt "durch irgendein schnellwirksames Mittel zu erledigen".

Thomas Harlan, schon im Berlin der fünfziger Jahre Autor eines Theaterstücks über das Warschauer Ghetto, hat in den frühen sechziger Jahren in Polen über die Kriegsverbrechen und Vernichtungslager recherchiert. In kurzen, datierten, aber nicht chronologischen Kapiteln blättert nun der Roman die Archive auf, rekonstruiert von 1941 bis 1992 die Schnittpunkte von Dienstwegen und Lebenswegen, zitiert Ausweise und Postsparbücher, Maße und Zahlen, technische Gutachten und bürokratische Vermerke. In dem Filmteam, das er im Dezember 1981, zur Zeit der Ausrufung des Kriegsrechtes, an dem Projekt "Die Reise nach Kulmhof" arbeiten und scheitern läßt, porträtiert der Autor sich selbst und damalige Freunde, darunter, kaum chiffriert, den Regisseur Einar Schleef und die Schauspielerin Libgart Schwarz. Das Filmprojekt scheiterte, so erklärt im Roman der daran beteiligte Theologe Richard F., weil es die Wahrheit der Kunst an die Perspektive der Justiz und die verläßliche Opposition von Tätern und Opfern verriet. Der Ich-Erzähler, der nun das Erbe des gescheiterten Films aufnimmt, entfernt sich von beidem. Mit Wolfgang Staudtes "Die Mörder sind unter uns" ist Harlan großgeworden. Sein Roman kennt noch die wohlsituierten Beamten und Geschäftsleute, in denen sich die Täter verbergen. In einem Lungensanatorium am Montblanc läßt er den Theologen Richard auf den SS-Mann Höppner und einen Kumpanen treffen. Aber er ist auf die Täter nicht mehr fixiert. Die heruntergekommene Kollaborateurin Rosa, ihr Józef und ihr Franz sind ihm wichtiger.

Der Romanautor Harlan ist der Rivale des Dokumentarfilmers und Täterentlarvers, aus dem er hervorging. Im Zentrum seines Erzählens stehen nicht das Archiv und das Gericht, dem es zuarbeitet, sondern die Landschaft und die darin enthaltenen Toten. Das ist sehr wörtlich zu verstehen. Der Theologe Richard F. verfaßt eine Schrift über "Wechselbeziehungen von Verstörungen in der Pflanzen- und Tierwelt und deren genmutativen Ursachen". Er untersucht darin die "Tuchfühlung", die das Netze-Warthe-Becken "mit bald dreihunderttausend Körpern im Augenblicke ihrer Auflösung in Luft" aufnimmt.

In Paul Celans Lyrik war die Asche nicht nur eine Metapher, und sie verflog auch nicht nur in den Lüften. Sie ging in die Erde ein, vermischte sich mit ihr oder dem Wasser der Weichsel bei Auschwitz. In Celans Gedichte sind Lehrbücher der Geologie eingeschmolzen. Die Naturgeschichte war in seinen Zeilen die letzte Zuflucht der Toten. Denn die Vernichtung hatte nicht nur die Lebenden betroffen, sondern auch, was von ihnen blieb. In Chelmno, wo im Sommer 1942 Leichengase aus den Massengräbern drangen, gab es das "Enterdungskommando 1005". Es war für das Ausgraben der Leichen, ihre Verbrennung und das Zermahlen der Knochen zuständig. Die eindringlichsten Passagen in Harlans Roman sind diesem Vorgang gewidmet: darin wird die Landschaft zum organischen, lebendigen Archiv. Die "Hartzerkleinerungsmaschine" mahlt die Knochen. Der Oberförster Heinrich May ist Kronzeuge für die "Kreuzung von Kapitalverbrechen und Gartenbaukunst". Er verweist nicht ohne Stolz auf die Vorzüge des Düngens mit Überresten von Toten. So läßt der Roman aus der dokumentarischen eine phantastische, monströse Landschaft hervortreten, mit übergroßen Birken, Flügelginster, mutierten Insekten und Kletterpflanzen des Südens.

Mit der Landschaft gleiten die Figuren ins Allegorische, sie lösen sich von den dokumentarischen Fotografien und vom Papier des Archivs. Dabei unterliegen sie der Verformung ihrer Körper durch die erzählte Geschichte. Nicht Paßbilder, sondern Gemälde, etwa von Francis Bacon, ruft der Roman herauf. Die zerschossenen Kiefer des Franz Maderholz und des Józef erinnern an Brechts "Kriegsfibel" und an ihr Vorbild, die emblematischen Bilder des Barock. Das Kamerateam hat zeitweilig in Mittenwalde bei Berlin sein Hauptquartier, wo der Barockdichter Paul Gerhardt Propst war und sein von Fontane gerühmtes "großes Trost- und Vertrauenslied" schrieb: "Befiehl du deine Wege".

Rosa, Józef und Franz sind rohe, in die Geschichte verstrickte Kreaturen, nicht Protagonisten eines historischen Romans. Eine realistische Psychologie ist für sie nicht zuständig. Wie die Kinder, die bei Agota Kristof in "Das große Heft" ungerührt durch die Lager gehen, leben sie fraglos in ihrer Landschaft. Harlan schreibt den Roman als Legende im Doppelsinn von Volksüberlieferung und erklärender Bildunterschrift um sie herum. So in den Gutachten eines Mediziners aus Görz über die Verstörung des Franz Maderholz, dessen Leben in zusammenhanglose Fragmente zerfällt, bis ihn nach einem biederen Nachkriegsleben in Westdeutschland die Unruhe zurück nach Polen treibt, in den Tod. Visionen, Verstörungen, Ekstasen, denen der christliche Rahmen abhanden gekommen ist, nimmt Harlan in seinen Roman auf. Zugleich treibt ihn ein großer Haß auf alle Metaphysik, auf die "christliche Kitschversion des schuldigen Menschen" voran. An der Hölle aber hält er fest. Ossip Mandelstam mit seinem Kommentar zu Dante gehört zu den Gewährsmännern. Aus dem Archiv nimmt Harlan den exakt datierten Stoff, die Bildphantasien aber von den Schilderern der verzerrten Natur, von Matthias Grünewald bis Francis Bacon. Sein Gegengift gegen den Kitsch ist der Ekel. In den Körperöffnungen, Ausdünstungen, Ausscheidungen und Verrenkungen versteckt er die Seele der Figuren.

Ebenso bezieht die Sprache des Romans aus dem Dokumentarischen zwar ihr Material, aber nicht ihren Satzbau. Sie ist, trotz Detail-Litaneien, Zitatmontagen und Faktengestöber, auf den Bau großer Perioden aus, die sie mit Nervosität und Abschweifungen durchdringt. Schräg türmt sie die Nebensätze und Appositionen aufeinander. Weit entfernt ist die ruhige Prosa, in der bei W. G. Sebald die Erinnerungslandschaften daliegen. Ebenso weit ist es zu Agota Kristofs lakonischen Satzstummeln. Metaphern sind Harlan so wenig geheuer wie Metaphysik. Aber die ungeformte Alltagssprache auch. Schroff heben sich seine dicht gefügten Sätze von ihr ab. Leider verliert er sich auch im Gestrüpp loser Enden, im Dickicht allzu kryptischer Anspielungen auf eine allzu kryptische Privatmythologie. Eher fahrig zitiert er Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin in den Roman hinein, allzu eilig fertigt er die westlichen Nutznießer der deutschen Wiedervereinigung ab.

Wie ein Schatten folgt die Frage nach Veit Harlan dem Sohn, Thomas Harlan. Zwei Romanen lassen diesen Sohn in leicht durchschaubarer Maskierung auftreten: Hans Habes "Christoph und sein Vater" (1966) und Liane Dierks' "Und die Liebe? frag ich" (1998). Vor gut zwanzig Jahren erschienen Bernward Vespers verstörtes, verstörendes Buch "Die Reise" (1977), in dem sich die Herkunftswelt im nationalsozialistischen Schriftsteller Will Vesper verkörpert, und Christoph Meckels ebenso verstörtes, aber in beherrschter Prosa verfaßtes "Suchbild. Über meinen Vater" (1980). Einen Nachtrag zu diesen Büchern seiner etwas jüngeren Generationsgenossen hat Thomas Harlan nicht schreiben wollen. Lapidar heißt es in seinem Roman: "Ich schüttele. Der Vater ist ab."

Weder der Name Veit Harlans noch der Titel seines bekanntesten Films, "Jud Süß", findet Eingang in das späte Romandebüt des Sohnes. Und doch ist der Sohn darin anwesend. Doch nicht als Sohn, sondern als Kind. Und an die Stelle des Vaters tritt ein böser guter Onkel. In dem Anlauf, mit dem der Erzähler sich an dieses Kind heranschreibt, geraten die Ichs, in die er sich aufgespalten hat, einander in die Quere und verlangen vom "Hitlerkind" Aufklärung über ihren Ursprung. In der Szene, in der dies wenig später geschieht, verdichten sich die Ekelreize, die den Roman wie Schwaden durchziehen. Ihr Schauplatz ist ein Abort, eine polnische Latrine des Jahres 1981. In ihr tritt aus dem Dokumentarfilmer, während er sich erleichtert, das Hitlerkind heraus, das in Berlin-Grunewald, in der Villa der Mutter, der Schauspielerin, mit dem bösen guten Onkel Joseph Goebbels, der häufig mit seiner Geliebten zu Gast ist und gern die Eroica pfeift, auf vertrautem Fuß steht. So vertraut, daß aus der Latrine der Geruch des Rasierwassers von Goebbels auftaucht und die Erinnerung an eine nächtliche Fahrt ins Kaufhaus Wertheim in der Leipziger Straße, wo sich das Kind eine Märklin-Miniatureisenbahn aussuchen darf: "Drei Lokomotiven. Fünf Schlafwagen. Zwanzig Viehwagen." Die Eisenbahn ist in dieser atemlos erzählten Geschichte einer Verführung nicht das inzwischen zum Klischee erstarrte Vernichtungssymbol. Sie ist lediglich das Inventar einer glücklichen Kindheit, wie die Miniatur-Schlachtschiffe, mit denen das Kind an der Oder bei Küstrin spielt.

Thomas Harlan war deutscher Jugendmeister im Schürzen von Seemannsknoten. Im Roman des Siebzigjährigen macht der Erzähler, der "Champion", dem Jungen an der Oder einen Knoten ins Papiertaschentuch: "um nicht zu vergessen, dich nicht, Glücklicher, du Maßstab der Verblödung". Mit dem Bannwort "Verblödung" ist aber der Knoten nicht aufgelöst, sondern geschürzt. Am Grunde des Roman über Chlemno, Rosa, Józef und Franz ruht die Geschichte der glücklichen Kindheit mit dem anderen Josef, mit Goebbels.

Thomas Harlan: "Rosa". Roman. Verlag Eichborn Berlin, Berlin 2000. 256 S., geb., 38,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Charlotte Brombach sieht sich gezwungen, nicht das Anliegen wohl aber die Art der Darstellung in Thomas Harlans Roman einer Spurensuche der Vernichtung von mehr als 100.000 Juden von 1941 bis 1942 im polnischen Chelmo zu kritisieren. Dass Harlan, Sohn des Nazi-Regisseurs Veit Harlan, ein integrer Autor ist, dessen Recherchen über 2000 Anklagen gegen Kriegsverbrecher zu verdanken sind, daran lässt die Rezensentin keinen Zweifel. Die fehlende Chronologie und die Fülle an Beweismaterial aber, die Harlan zusammengetragen hat, verbinde der Autor auch noch mit einer Vielzahl von Handlungssträngen, wirklichen und erfundenen Personen, hinter denen nicht nur die Hauptfigur Rosa - eine durch Gewalt entstellte SS-Geliebte - sondern auch die eigentliche Katastrophe verschütt gehe. `Die Geschichte ufert aus`, schreibt Brombach. Letztlich verschwänden die Verbrechen fast hinter dem aufwändigen Versuch ihrer Rekonstruktion. Brombach zitiert Saul Friedländers Studie zu `Kitsch und Tod`, nach dem die Brillanz der Darstellung trotz einer eindeutigen Haltung des Autors ein Gefühl in falscher Tonart hervorbringt. Zwar werde bei Harlan `der Ekel an der eigenen Zeitzeugenschaft` deutlich, doch zeigt die Rezensentin, wie der Autor am Beispiel eines verwesten Frauenkörpers in eine geradezu Bennsche Diktion verfällt, die in diesem Fall ihr Thema auf höchstem Niveau verfehlt.

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