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Der Autor als Sisyphus – Walter Kempowskis Tagebuchnotizen zum "Echolot".
Grandios, spektakulär, einzigartig: Welcher gewaltigen Lebensleistung das gefeierte Geschichtswerk "Das Echolot" zu verdanken ist, enthüllt Walter Kempowski in seinen Werknotizen. Diese werden ergänzt durch Kommentare seiner damaligen Mitarbeiterin Simone Neteler. In einem Nachwort beschreibt Walter Kempowskis langjähriger Lektor Karl Heinz Bittel das Entstehen des Projekts aus seiner Sicht.
Walter Kempowskis 1993 erschienener erster Teil vom "Echolot" wurde zu einem der spektakulärsten Bucherfolge der 90er Jahre.
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Produktbeschreibung
Der Autor als Sisyphus – Walter Kempowskis Tagebuchnotizen zum "Echolot".

Grandios, spektakulär, einzigartig: Welcher gewaltigen Lebensleistung das gefeierte Geschichtswerk "Das Echolot" zu verdanken ist, enthüllt Walter Kempowski in seinen Werknotizen. Diese werden ergänzt durch Kommentare seiner damaligen Mitarbeiterin Simone Neteler. In einem Nachwort beschreibt Walter Kempowskis langjähriger Lektor Karl Heinz Bittel das Entstehen des Projekts aus seiner Sicht.

Walter Kempowskis 1993 erschienener erster Teil vom "Echolot" wurde zu einem der spektakulärsten Bucherfolge der 90er Jahre. Kaum lässt sich beim Betrachten der vier gewichtigen Bände erahnen, welches gewaltige Ausmaß des Sammelns, des Archivierens und des Ringens um die richtige Form bis zum Erscheinen des Werks zu bewältigen waren. Walter Kempowski hat den Prozess der Entstehung von der ersten Idee an über vielerlei Anfechtungen und Krisen hinweg bis zur Publikation in seinen Tagebüchern genau protokolliert. Seine Aufzeichnungen gestatten einen intimen Einblick in die Werkstatt des Schriftstellers. "Culpa" verzeichnet jede einzelne Phase der sich wandelnden Konzeption, bis die endgültige Form der Komposition feststand. Ungeschönt und subjektiv berichtet das Buch von dem nicht immer reibungsfreien Verhältnis zwischen dem Autor und seinem Verlag, der die ökonomische Seite des Projekts nicht aus den Augen verlieren durfte.
Autorenporträt
Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten "Deutschen Chronik", deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman "Tadellöser & Wolff" eröffnete und 1984 mit "Herzlich Willkommen" beschloss. Kempowskis "Deutsche Chronik" ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der "Chronik" korrespondierende zehnbändige "Echolot", für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.

Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2005

Die Archive des Grauens
Schlußchor: Walter Kempowski beendet sein "Echolot" im Mai 1945 / Von Hannes Hintermeier

Die Frage ist: Warum stecke ich soviel Energie in das ,Echolot' und dessen Verwandte? Es ist ein Gefühl für Gerechtigkeit. Ich habe den Eindruck, daß man der Generation, die in diese Zeit hineingeboren ist, nicht gerecht geworden ist."

Als sich Walter Kempowski diese Frage im Oktober 1992 stellt, steht das Projekt eines kollektiven Tagebuchs schon in seinem fünfzehnten Jahr - und nur noch ein Jahr vor Veröffentlichung der ersten, hymnisch begrüßten Lieferung. Nun, zwölf Jahre und zehn Bände später, liegt mit dem "Abgesang '45" der Schlußstein der monumentalen Collage vor. Man kann das durchaus als Aufforderung nehmen; selbst Leser, die mit dem "Echolot" nicht vertraut sind, kämen mit diesem Band sofort zurecht. Denn hier, so scheint es, hat der Konzentrationsgrad seine höchste Verdichtung erfahren. Kempowski beschränkt sich in vier Kapiteln auf fünf Tage, die das Ende des "Dritten Reiches" und des Zweiten Weltkrieges markieren: der 20., 25. und 30. April, sowie die Tage des Kriegsendes, 8. und 9. Mai.

Das Montageverfahren aus bekannten und unbekannten Quellen, aus Tagebüchern, Dokumenten, Briefen, Memoiren ist gleichgeblieben, sein Effekt hat sich jedoch nicht abgenutzt. Man hat gegen ein solche Aufbereitung des Materials eingewendet, sie erkläre zu wenig, ordne und strukturiere nicht genug. Dahinter steht die falsche Annahme, Kempowski wolle irgend etwas beweisen. Er will aber nur zeigen, und dieses "nur" hat es in sich. Es ist die eigentliche Auswahlleistung des Sammlers, der als Schriftsteller agiert, der Textfunde so montiert, als seien sie unverrückbare Bausteines eines Bildes, dessen Komposition nur der Künstler kennt. Wir folgen keinem Historiker, sondern einem von der Sprache Besessenen, der die Stimmen der Toten hört und ihnen Raum gibt.

Kempowskis Suchscheinwerfer leuchtet zu Beginn den letzten Geburtstag des "Führers" aus: Hitler im Bunker zu Berlin, langsam, aber sicher in Agonie versinkend. Seiner Sekretärin erklärt er, er brauche sie gesund, weil er eine Widerstandsbewegung gründen wolle. Während Goebbels in seiner Geburtstagsrede noch ein letztes Mal den ganzen Irrsinn seiner Phraseologie vorführt - "Er soll uns bleiben, was er uns ist und immer war - unser Hitler!" - spielt jener mit einem Welpen namens "Wolf", während Reichsmarschall Göring ziemlich durchsichtig an seinem Abgang arbeitet.

Die Russen stehen vor der Tür, sie dringen mit jeder Stunde weiter auf Berlin vor. Im Hotel Adlon wird derweil noch Betrieb gespielt; der belgische Kommandeur der Waffen-SS Léon Degrelle, der nach dem Krieg als Geschäftsmann in Spanien lebte, notiert ungerührt über ein spätes Abendessen im Adlon: "Es war wirklich schön. Die Haltung der Deutschen, ihre Selbstbeherrschung und das Gefühl für Disziplin bis in die sonderlichsten Einzelheiten hinein und bis zum letzten Augenblick werden für alle, die das Ende des Dritten Reichs erlebt haben, eine großartige menschliche Erinnerung bleiben."

Mit der Selbstbeherrschung ist es aber in der Bevölkerung nicht mehr allzuweit her. Aus Angst vor der Roten Armee wählen Tausende den Freitod. Der einundzwanzigjährigen Friederike Grensemann sagt der Vater: "Es ist aus, mein Kind, verspreche mir, daß Du Dich erschießt, wenn die Russen kommen, sonst habe ich keine ruhige Minute mehr." Andere versuchen mit letzter Kraft, den Lebensfaden nicht abreißen zu lassen. Die Todesmärsche sind in vollem Gange, die Konzentrationslager werden befreit und das Grauen, das sich den Soldaten dort bietet, ist, wie der britische Lieutenant Michael Gow notiert, "der entsetzlichste Anblick, den ich je gesehen habe oder je sehen werde."

In Mailand schwadroniert zur gleichen Stunde Mussolini in einem Interview, daß ein "unbeirrbarer Junger" kommen und die Mission des Faschismus erfüllen werde - ganz ähnlich im Wortlaut wie Hitler, der wenige Tage später in seinem politischen Testament angeben wird, er habe wohl dem deutschen Volk zuviel zugemutet; es sei noch nicht reif gewesen.

Am 25. April treffen Amerikaner und Russen bei Torgau an der Elbe aufeinander. Wie ein zarter roter Faden zieht sich jetzt in vielen Aufzeichnungen der Anbruch des Frühlings durch, die Welt erneuert sich, während sie gleichzeitig untergeht. Der Obersalzberg zerstiebt im Bombenhagel, Thomas Mann notiert dazu reichlich onduliert im fernen Kalifornien: "Schwerstes Luft-Bombardement von Hitlers Siedelung bei Berchtesgaden, die zerstört wurde. War er dort, mag er tot sein."

An die Zustände im Kriegsgefangenenlager Bad Kreuznach, wo Tausende von deutschen Soldaten in einem Drahtkäfig ungeschützt Regen, Kälte und Ruhr ausgesetzt sind, erinnert sich der Theologe Gerhard von Rad, den man 1944 eingezogen hatte: "Es gehörte für mich zu den wichtigsten Erlebnissen der Lagerzeit, diese äußersten und letzten Möglichkeiten auf dem Wege des Menschen, von denen die Bibel zwar offen redet, die wir Theologen aber doch immer etwas umgangen haben, so als nackte Wirklichkeit bestätigt zu sehen." Im Führerbunker überreicht Hitler mit dem Ausduck des Bedauerns seiner Sekretärin Traudl Junge eine Kapsel Zyankali.

Alles immer zur gleichen Zeit und neben- und übereinander, und erst diese Gleichzeitigkeit von Untergang und Neuanfang, die Atempausen inmitten des Infernos, ergeben das Bild, von dem man sich kaum lösen kann. Schuld? Kollektivschuld? Grete Paquin in Geismar bei Göttingen beschreibt die politischen Metamorphosen, die in diesen Tagen nicht nur Nazi-Bonzen und hochrangige Offiziere durchlaufen, sondern auch der normale Volksdeutsche: "Ein dicker Bäckermeister, der mit lautem ,Heil Hitler!' anwortete, wenn ich ,Guten Morgen' sagte, erklärte neulich seiner Kundschaft: ,Endlich kann ich aufatmen. jahrelang stand die Gestapo mit dem Revolver hinter mir.'" Erich Kästner notiert im österreichischen Mayrhofen: "Die Unschuld grassiert wie die Pest."

Am 30. April verstößt Hitler Göring und Himmler aus der Partei und aus allen Ämtern. Er heiratet Eva Braun und begeht mit ihr am gleichen Tag Selbstmord. Seinem Kammerdiener Heinz Linge sagt er: "Linge, ich werde mich jetzt erschießen. Sie wissen, was Sie zu tun haben . . ." Linge wußte es, und der Oberwachtmeister Hermann Karnau beschreibt die Folgen - "da liegt Adolf Hitler jetzt. Er brennt. Ich habe diese Stelle verlassen (...) und traf an der Treppe den Sturmbannführer Stedle, der mir bestätigte, daß der Chef hinter dem Haus im Garten der Reichskanzlei brennt."

Es gibt neben diesen Momenten unfreiwilliger Komik auch Passagen, die ein Durchatmen ermöglichen. Bei den Siegesfeiern in London lobt etwa der Dichter John Masefield gegenüber Churchills Leibarzt Lord Moran die Ansprache des Premiers mit der Bemerkung: "Lloyd George wäre bestimmt pathetisch geworden." Und eine unbekannte Miss Fisher notiert zu den Siegesfeiern in Whitehall: "Ein außerordentlich schöner Abend, der nicht vergessen werden wird." Aber im Zentrum stehen die Flüchtlinge aus dem Osten, die Fremdarbeiter, die in den Osten zurückdrängen, die Kriegsgefangenen, die demoralisierten Armeen, die zerbombten Städte. Marodierende Russen, deren wichtigstes Beutegut Frauen, Schnaps und Uhren sind.

Ausführlich protokolliert Kempowski am Ende die Kapitulation: Generalfeldmarschall Wilhelm Keitels Auftritt gegenüber dem sowjetischen General Georgij Shukow wird aus allen verfügbaren Blickwinkeln geschildert. Ein gespenstisches letztes Aufflackern. Am 9. Mai um 0.43 Uhr ist die bedingungslose Kapitulation in Berlin unterschrieben. Für das "aus zahllosen Wunden blutende Vaterland", wie es im letzten Wehrmachtsbericht heißt, beginnt eine neue Geschichte.

Auch für Walter Kempowski ist mit der Vollendung des "Echolot" eine Geschichte zu Ende gegangen. Daß erst dieses Mammutunternehmen ihm jene Anerkennung brachte, die man ihm lange Jahre aus zweifelhaften ideologischen Unterströmungen heraus versagt hatte, mag ihn nur teilweise entschädigen. Seine "Culpa"-Notizen zeigen ihn als konsequenten Verwirklicher seines großen Werkplans. Gewohnt gewitzt dokumentiert er hier die Schinderei der Archiv- und Sammelarbeit; die Querelen mit dem Verlag, die Selbstzweifel. Es liegt in der Natur der Sache, daß sich dies weniger vergnüglich liest als die Tagebücher "Sirius" (1990) und "Alkor" (2001). Lob gebührt auch der Beharrlichkeit des Verlages, der half, das "Echolot" zu einem guten Ende zu bringen. Wie schwierig das beizeiten war, deutet das Nachwort des langjährigen Kempowski-Lektors Karl Heinz Bittel an. Daß sich die Mühe gelohnt hat, steht außer Frage.

Walter Kempowski: "Das Echolot". Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch. Albrecht Knaus Verlag, München 2005. 485 S., geb., 49,90 [Euro];

Ders.: "Culpa". Notizen zum Echolot. Albrecht Knaus Verlag, München 2005. 384 S., br., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Kempowski-Tagebücher "Sirius" (1990) und "Alkor" (2001) vergnüglicher lesen als "Culpa", sinniert Hannes Hintermeier, ohne nun genauer darzulegen, worin denn nun dieses Vergnügen bestanden hat. "Culpa" sei jedenfalls ein Arbeitstagebuch, das seinen Verfasser als umtriebigen Verfolger eines großen Werkplans bestätige. Mit all den dazugehörigen Querelen (zum Beispiel mit dem Verlag), so Hintermeier, mit all der dazugehörigen Plackerei und Mühsal, die trockene Archiv- und Sammelarbeit mit sich bringt. Aber auch Kempowskis Selbstzweifel tauchten darin auf, denn schließlich wurde der Mann jahrelang auch aus dubiosen ideologischen Unterströmungen heraus, so Hintermeier, belächelt oder gar angefeindet. Erst jetzt erhalte Kempowski die verdiente Anerkennung und insofern verdiene unbedingt auch sein Verlag ein Lob, der schließlich über lange Jahre seinem Autor die Treue gehalten habe. Dass dieses Treuebündnis auch auf die Probe gestellt wurde, entnimmt Hintermeier dem Nachwort von Kempwoskis langjährigem Lektor Karl Heinz Bittel.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015

Ohne Unterbrechung Alarm
Vor zwanzig Jahren schufen Walter Adler und Walter Kempowski ein Hörstück über
die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs – In dieser Form wird die Geschichtserzählung zum Denkmal
VON JENS BISKY
Vernünftig wäre es, wenn man endlich Walter Kempowski folgen und dieses Hörstück ununterbrochen in der Neuen Wache, Unter den Linden, spielen würde: „und wenn es einmal zu Ende ist, von vorne wieder beginnen, jahre-, jahrzehntelang, bis eines Tages sowieso alles vergeht . . . Die Menschen würden kommen, es regnet vielleicht, und sie hören einen Fetzen aus einer ganz anderen Zeit herüberwehen, sie gehen weg, andere kommen wieder. Ein Kommen und Gehen, und es wird gesprochen, die Zeugnisse dieser Zeit werden weiterverkündet.“ Das Gespräch, in dem er dies vorschlug, steht im Beiheft zur Neuveröffentlichung von „Der Krieg geht zu Ende“.
  Das akustische Denkmal – „wie eine Rauchsäule, die gen Himmel steigt“ – könnte den Missgriff Helmut Kohls ungeschehen machen, der an dieser Stelle 1993 zum Gedenken an die „Opfer für Krieg und Gewaltherrschaft“ eine willkürlich vergrößerte Skulptur von Käthe Kollwitz aufstellen ließ, „Mutter mit Sohn“.
  Ob die ehrwürdige Form der Pietà zusammen mit der unbestimmten Inschrift nicht alle Unterscheide verwischen würde, ist in den Neunzigerjahren, in der Hochzeit erinnerungspolitischen Streits, viel diskutiert worden. Der Historiker Reinhart Koselleck, seit 1941 Soldat der Wehrmacht, seit Mai 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, kritisierte damals, die Pieta schließe die Juden und die Frauen aus, „die beiden größten Gruppen der unschuldig Umgebrachten und Umgekommenen des Zweiten Weltkrieges“.
  Das Hörstück beruht auf dem Riesenwerk „Echolot“, der Collage aus Erinnerungen, Briefen, Berichten, für die Walter Kempowski über Jahre Tausende Nachlässe gesammelt hatte. Das Jahr 1945 galt ihm dabei als Zentrum des Werks. Zu Wort kommen Prominente und Namenlose, Täter und Opfer, Verblendete und Desillusionierte. Die Auswahl aus dem Textmaterial, die der Regisseur Walter Adler traf, ergibt kein Panorama, sie sollte nicht mit einem abgeschlossenen, alles umfassenden Bild verwechselt werden. Dieser Chor ist auf Ergänzung angelegt, auf weitere Stimmen, andere Erfahrungen.
  Ein „kollektives Tagebuch“ der letzten Kriegsmonate ist eine Zumutung, denn das „Kollektiv“ umschließt absichtsvoll Gemordete – das Töten in den Konzentrationslagern geht weiter –, Soldaten in Uniform, Zivilisten im Luftschutzbunker oder auf der Flucht. Dieser Stimmenchor vergegenwärtigt eine Gemeinschaft der Zeitgenossen, die Geschichtsschreibung voneinander unterscheiden muss: nach Positionen und Interessen, Lebensläufen, Überlebenschancen. Indem sie hier nebeneinander stehen, wird allerdings eine verbreitete Unsitte unterlaufen: die häppchenweise, Zusammenhänge vernebelnde Betrachtung erst des Schicksals der verfolgten und ermordeten Juden, dann des der deutschen Vertriebenen, daneben des Bombenkriegs und – wiederum als Einzelfall – des NS-Terrors gegen die Männer und Frauen des 20. Juli oder gegen Deserteure – eines Terrors, der wesentlich dazu beitrug, den Krieg zu verlängern.
  Kempowski und Adler bieten selbstredend keine analytische Geschichtsschreibung, aber ihr Chor der Zeitgenossen, der Mitlebenden provoziert Fragen, statt Antworten zu inszenieren oder, schlimmer noch, zu sentimentalen Abwehrgesten einzuladen. Wer es genauer wissen will, kann – anders als Kempowski während der Arbeit an „Echolot“ zu Ian Kershaws großer Studie „Das Ende. Kampf bis in den Untergang – NS-Deutschland 1944/45“ greifen, die auf Deutsch 2011 erschien.
  „Wenn der Krieg aus ist, dann ist alles sicher schnell wieder vergessen.“ – „Wenn der Krieg vorbei ist, ist von alter deutscher Kultur wahrscheinlich nur noch in kleineren Städten etwas zu finden.“ – „Wenn wir den Krieg verlieren, sind wir nach allgemeiner Überzeugung selbst daran schuld, und zwar nicht der kleine Mann, sondern die Führung.“ – „Hiermit fängt nun ein neues Jahr an und ich drück’ uns beide Daumen, dass es ein gutes Jahr wird, dass uns wieder nach Hause bringt und uns Kurt wiedergibt.“ – „Wie das alte Jahr endete, so beginnt das neue, denn heute war von neun Uhr morgens bis fast 17 Uhr nachmittags ohne Unterbrechung Alarm.“ – „Ziemlich gleichgültig das neue Jahr begrüßt.“ – „Um 12 Uhr Vollalarm, das ist das neue Jahr.“
  Mit diesen Sätzen beginnt das Hörstück. Keine Ansage informiert, wer da spricht, in welcher Situation so gedacht und geschrieben wurde. So ist man zur Aufmerksamkeit gezwungen, muss genau zuhören, will man die Berichte, Meinungen. Wünsche verstehen, sich zu ihnen verhalten. Dieses Hörbuch ist eine Herausforderung vor allem dank seiner akustischen Kargheit. Weder Musik noch Geräusche schaffen Vertrautheit oder Stimmung. Die Schauspielerinnen und Schauspieler verleihen den Hunderten Figuren Individualität, ohne dabei die Sympathien des Hörers zu steuern. Es sind viele der besten Sprecher des Landes dabei, einige – etwa Ulrich Mühe, Otto Sander, Rolf Boysen – sind inzwischen gestorben. Gerade weil es keine Dialoge, höchstens berichtete Gespräche gibt, weil jeder für sich von sich erzählt, überzeugt das Hörbuch als Ensembleleistung. Über knapp neun Stunden hinweg wird der richtige Ton getroffen.
  Die Flucht vor der Roten Armee, die so viele zivile Opfer kostete, weil man bis zum letzten Augenblick ausharrte und dann unvorbereitet ins Chaos des Rückzugs geriet, der Bombenangriff auf Dresden, Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten nehmen großen Raum ein. Man hört von Erschießungen in den KZs, vom Grimm der Volksgenossen auf Nazibonzen, „Goldfasane“, die sich um jeden Preis zu retten versuchten, man lauscht abfälligen Urteilen über jene, die auf die Soldaten der Alliierten zugingen, mit ihnen sprachen.
  Der Hörer mag fragen, ob die Proportionen stimmen, aber das gesamte Vorhaben richtet sich gegen den Geist einer Aufrechnung und einer Opferkonkurrenz. Die dichte Folge von Gewaltszenen, von Hunger, Elend, Tod und Mord, die unaufhaltsame Eskalation der Schrecken, scheint dem Recht zu geben, der gegen Ende sagt, er habe in diesem Krieg nie etwas anderes gesehen als eine „nihilistische Großkundgebung“.
  Einer geht wieder pflichteifrig ins Werk; einer erinnert, wie die Rote Armee ins Lager kam, die SS entwaffnet; eine andere mustert gemeinsam mit NKWD-Leuten Denunziationslisten, widerwillig, aber doch froh, dass hundertprozentige Nazis ihre Strafe finden; andere fühlen sich dumpf, freudlos oder erleichtert, unsicher. Es wird – dies zeigt die Zusammenstellung der Zeugnisse für die Tage nach der bedingungslosen Kapitulation – Zeit brauchen, bis das Ende des Dritten Reichs als Befreiung verstanden wird und bis die unterschiedlichen Geschichten von Kriegsende erzählt werden können. 
Walter Kempowski: Das Echolot. Der Krieg geht zu Ende. Regie: Walter Adler. Gelesen von Rolf Boysen, Rosemarie Fendel, Burghart Klaußner, Ulrich Noethen, Friedhelm Ptok u.v.a. Der Hörverlag, München 2015. 7 CD, 536 Minuten, 29,99 Euro.
„Wenn der Krieg aus ist,
dann ist alles sicher
schnell wieder vergessen.“
 
Die erfolgreiche
Familienchronik von „Tadellöser & Wolff“
bis hin zu „Herzlich
Willkommen“ ergänzte Walter Kempowski (1929–2007) durch das kollektive Tagebuch „Echolot“. Foto: dpa
„Der Krieg ist zu Ende. Seit fünf Jahren,
acht Monaten und acht Tagen haben wir sehnsüchtig auf diese Meldung gewartet.“
– Berlin, 1945.
Foto: Ursula Röhnert
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"Walter Kempowski ist ein Bibliothekar der Erinnerung." Süddeutsche Zeitung
"Wenn die Welt noch Augen hat zu sehen, wird sie im 'Echolot' eine der größten Leistungen der Literatur unseres Jahrhunderts erblicken." Frankfurter Allgemeine Zeitung