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Ein Hund, der sich in einem Provinzbistro mit seinem Tischnachbarn unterhält? Ein Pferd, eindeutig trojanischer Herkunft, das sich in einer Luxusbar einen Drink genehmigt? Nichts Besonderes dabei. In diesen Prosastücken finden die Gepflogenheiten der Wirklichkeit sowieso nur relative Berücksichtigung. Genaues Hinsehen allerdings empfiehlt sich: Ob zwei und zwei vier sind, hängt von der Windgeschwindigkeit ab. Und was wären der bestimmte und der unbestimmte Artikel ohne Haushaltsartikel und Exportartikel? Raymond Queneau, Surrealist, Gründungsmitglied der legendären Gruppe OuLiPo und mit…mehr

Produktbeschreibung
Ein Hund, der sich in einem Provinzbistro mit seinem Tischnachbarn unterhält? Ein Pferd, eindeutig trojanischer Herkunft, das sich in einer Luxusbar einen Drink genehmigt? Nichts Besonderes dabei. In diesen Prosastücken finden die Gepflogenheiten der Wirklichkeit sowieso nur relative Berücksichtigung. Genaues Hinsehen allerdings empfiehlt sich: Ob zwei und zwei vier sind, hängt von der Windgeschwindigkeit ab. Und was wären der bestimmte und der unbestimmte Artikel ohne Haushaltsartikel und Exportartikel?
Raymond Queneau, Surrealist, Gründungsmitglied der legendären Gruppe OuLiPo und mit "Stilübungen" und "Zazie in der Metro" zum Klassiker geworden, hatte diese Prosaminiaturen zur gesammelten Veröffentlichung bestimmt. Sie erschienen aber erst nach seinem Tod. Sie entzücken alle, die mit dem zärtlichen Witz vertraut sind, mit dem Queneau seine Figuren verwöhnt und seine Sprache geölt hat.
Autorenporträt
Raymond Queneau wurde 1903 in Le Havre geboren und lebte ab 1920 in Paris, wo er Philosophie und Literaturwissenschaft studierte. Dort lernte er auch den surrealistischen Kreis um Andre Breton kennen, aus dem er 1929, nach dem Bruch mit Breton, ausgeschlossen wurde. Queneau arbeitete später als Bankbeamter und Handelsvertreter, als Lektor und Übersetzer und war Secretaire generale des französischen Verlags Gallimard. 1960 begründete der Romancier und Poet, der sich auch als Cineast und Mathematiker betätigte, die internationale Sprachwerkstatt Ouvroir de Litterature potentielle (Werkstatt für potentielle Literatur), OuLiPo. Queneau starb 1976 in Paris.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2002

Vom Nicht-Unendlichen
Hegels Hit: Raymond Queneau entwirft Muster des Absichtlichen

Das Erzählbändchen "Vom Nutzen und Nachteil der Beruhigungsmittel" bietet überwiegend auf deutsch bislang unveröffentlichte, für deutsche Leser also gleichsam nachgelassene Erzählungen Raymond Queneaus. Sie wollen eigentlich allesamt nichts anderes, als den von ihnen geschilderten Sachverhalten beim augenblicksweisen, kausalen Herumtorkeln sprachliche Grenzen ziehen. Schon die einleitende Miniatur "Schicksal" von 1922, die zu den frühesten Texten gehört, inszeniert mit kurzen Textblöcken, die laterale Einschnitte in die Biographie des Helden darstellen, die vollkommen kurzangebundene Gleichgültigkeit des Erzählers gegen den ereignisreichen Lebenslauf des Helden.

Der damit beherzt angeschlagene Ton eines Wortes, das sich stets traut, zur menschlichen Tat zu sagen "Wie siehst du denn aus?" bleibt durch alles Folgende hindurch erhalten - ob nun aus arbiträren, urzuständlich blödsinnigen Aussagen wie "Die Welt ist eine Tablette, die in ein Glas Wasser gefallen ist" mittels rigider Ableitungen überflüssig prunkvolle Weltgesetze gewonnen werden, ob ein Gespenst einen Wissenschaftsarchäologen behelligt, um wenigstens als Fußnote fortzuleben, ob ein Hund einen Gast in einem Hotel am Waldrand mit kaltschnäuzigem Gemaule zu beeindrucken versucht oder eine realistische Straßenszene des frühen Nachkriegsfrankreich Prostituierte vorführt wie antike Sehenswürdigkeiten: immer traut sich das in schlaue und scheinschlaue Puzzlespiele verhakte, seine eigene Autonomie durch Schielen und Nasedrehen feiernde Gestaltungsmoment, den Menschen, Hunden und Pferden, die da irgend etwas tun, eiskalt vorzuhalten, daß da ja wohl jeder kommen könnte. Das einzelne Bravourstück, die konkrete Verzweiflung oder Schlaflosigkeit, Ruhmgier oder Langeweile beweisen oder bedeuten für sich genommen hier soviel wie in der Welt: exakt nichts, die dichterische Sprache aber ist sich mit Recht zu fein dazu, das Würzmittel Sinn ohne Gegenleistung zuzuschießen.

Der 1976 verstorbene ehemalige Surrealist und langjährige Präsident der literarischen Arbeitsgruppe "Oulipo" (Ouvrier de la littérature potentielle) erweist sich in diesen kurzen Stücken nicht nur als ein Avantgardist jener glücklichen historischen Sekunde nach dem Zweiten Weltkrieg, als Avantgarde einmal Klassik sein durfte - etwa als amerikanisch-englischer new criticism, kontinentales absurdes Theater oder "streng experimentell verspielter" Roman von Leuten wie Nabokov und Queneau selbst -, sondern auch als anhaltend von Mathematik als Methodenarsenal und Quasimathematik als Anschauungsweise faszinierter Intellektueller. Er hat eben nicht nur 1934 Kojève über Hegel lesen gehört, das später transkribiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, nicht nur einen Text geschrieben ("Si tu t'imagines"), der, von Juliette Gréco gesungen, zum Hit wurde, sondern auch das Gemeinsame von Hegel und Hit verstanden, nämlich die Eigenbewegung von zwischen Sein und Werden ausgestreckten formalen Systemen aller Art, die man von der Peano-Arithmetik aufwärts bis zur algebraischen Topologie als "die Mathematik" kennt, auf Künstlerseite aber normalerweise eher fürchtet. Dieser Furcht eins zu lachen ist die königlichste unter den Witzabsichten von Oulipo.

Quasi-axiomatische "Textikel" und eine kombinatorisch-serielle "Erzählung nach Ihrem Geschmack", die man in diesem Bändchen findet, sind Oulipo-Übungen von dauerhafter Beispielwirkung. Zu ihrer Entstehungszeit erlebte die wechselseitige Befruchtung von Klassik und Avantgarde wie die von Mathematik und Poetik in Frankreich einen Aufschwung, stand in jenem Land doch nicht nur die Wiege von Oulipo, sondern auch die Kinderstube des Mathematikerzirkels "Bourbaki", dessen Queneau-Analogon der unermüdlich rechnende, argumentierende und essayistisch gegen das Alte und Wirre zu Felde ziehende Jean Dieudonné war. Die Verbindung zwischen der weltenbaumeisterlichen Systematik des Klassikers und der Freiheit des "Potentiellen" hat Dieudonné mit Worten verdeutlicht, die Queneau gewiß gebilligt hätte: "Bei dem Versuch, neue Ideen und Methoden in klarere und leichter faßliche Form zu bringen, ist man auf jeden Fall gezwungen, sich mit möglichen Alternativen auseinanderzusetzen. Dadurch werden zuweilen Denkansätze und Forschungsmöglichkeiten eröffnet, an die der Urheber der Theorie gar nicht dachte."

Die offensichtlichere Seite dieses Gedankens ist die der Rezeption und der Einordnung von Resultaten: jede der kleinen Erzählungen Queneaus könnte in einem Band stehen, der wie sein berühmtestes Experiment mit den Modi des Erzählens "Stilübungen" heißen dürfte. Damit wäre noch nicht viel gewonnen: Welche Leistung eines Stilisten ist keine Stilübung und keine Erkundung des Potentiellen? Weniger offensichtlich, auf den Produzenten von Mathematik oder Dichtung zurückgerechnet nämlich, ist Dieudonnés Einsicht aber alles andere als banal: Wenn er weiß, daß das, was er tut, Dinge auslösen wird, von denen er wiederum nichts weiß und auch nichts wissen kann, dann wird die Ereignis-Welt, der er die Grenzen zeigen muß, gleichzeitig größer und angreifbarer, und das heißt es erst einmal aushalten. Hier kann der Avantgardist sich erst so recht als Klassiker bewähren. Oder wie Queneau in einem dieser absichtsvoll fragmentarischen Textchen bemerkt: "Die, wie es scheint, unberechenbare Zahl der Sterne hat nichts zu tun mit der Unendlichkeit."

DIETMAR DATH

Raymond Queneau: "Vom Nutzen und Nachteil der Beruhigungsmittel". Aus dem Französischen übersetzt von Hans Thill. Wagenbach Verlag, Berlin 2002. 128 S., geb., 17,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2002

Dieser Hund ist ein Rassist
Raymond Queneau verschreibt Beruhigungsmittel
Die frühen Avantgardisten liebten das Gruppenphoto als Dokument, auf dem, handelt es sich nicht um die seinerzeit beliebte Kirmesjux- Photographie, bei der man den Kopf durch gemalte Kulissen steckte, um als Motoradfahrer oder beschwingter Aviatiker zu erscheinen – auf dem also noch die größten Abfahrer in bürgerlicher Turnvereins-Aufstellung posieren, mehrreihig stehend, sitzend und im Vordergrund, noch in Ermangelung des Weitwinkel-Objektivs, gern auch liegend, damit alle mit draufpassen. Ein Foto für die Nachwelt ist eine ernste Angelegenheit. So auch das aus dem Jahr 1924, als die Pariser Surrealisten, zwölf Mann hoch, dazu zwei dekorative Gattinnen, sich ablichten ließen. Fast verdeckt, so dass er das Kinn recken muss, steht der manifeste Wortführer, das Alphatier des Surrealismus, André Breton, und – komisch, keiner will so recht neben ihm stehen – links einer der Gruppenjüngsten: der einundzwanzigjährige Raymond Queneau. Man nennt das wohl: Sicherheitsabstand.
Szene gut und schön; irgendwoher aber muss auch die Bohème sich alimentieren. Queneau, bevor er von 1933 an mit Büchern – Romanen und Lyrik, darunter das fulminante Großgedicht „Taschenkosmogonie” (1950) – an die Öffentlichkeit trat, verdiente sein Geld als Vertreter für Papiertaschentücher und vorübergehend als Bankangestellter, ein Job, den der Normanne aus Le Havre übrigens mit dem ihm auch sonst nicht unverwandten Wiener Konrad Bayer gemeinsam hatte.Beide Autoren liebten mathematikgestützte Schreib-Konzepte sowie den (sprachkritisch hinterfragten) Einsatz von Argot, Slang, der ironischen, mitunter drastischen umgangssprachlichen Wendung – und hiermit sind bei weitem nicht alle Berührungspunkte zwischen dem französischen Surrealismus und der österreichischen Nachkriegs-Avantgarde benannt. Die verschmitzte Blackout-Serie „Textikel” etwa liest sich wie von H.C. Artmann erdacht.
Wagenbach bringt nun, nachdem der Verlag in den vergangenen Jahren schon einige Queneau-Titel herausgebracht hat, „Vom Nutzen und Nachteil der Beruhigungsmittel”, einen kleinen Auswahlband mit kurzen, chronologisch angeordneten Prosastücken, der vor zwanzig Jahren bei Gallimard erschienen ist.
Zwar betont der Herausgeber in seiner Nachbemerkung, dass der von ihm übersetzte Autor auffallend oft vor dem Etikett des Spaßvogels in Schutz genommen werden musste – um dann doch wieder in die unselige Kerbe zu hauen, indem er „Kabinettstücke” avisiert. Allerdings handelt es sich hier keineswegs um urgemütliche Unterhaltung à la, sagen wir, Roda Roda, obwohl man sich immer wieder wie Bolle amüsieren kann. Es sind nicht die sprechenden Hunde oder Pferde, die dafür bürgen; es ist das lässige Über-die-Bande-Spielen, die Wiedergabe deprimierender Alltagsdialoge. Die banalen Szenen finden in trostlosen Landgasthöfen oder Bistros statt – eine Reminiszenz an die Vertreter-Reisetätigkeit des jungen Queneau, die ihm zu genauer Milieukenntnis verhalf.
Die Pudel-Kerne stecken noch woanders. Dass ein Nachwuchspolitiker als kleiner, mieser Feigling geoutet wird, der es nicht wagt, sich mit der jungen Hausangestellten, die in seinem Pensionsbett auf ihn wartet, eine hübsche Nacht zu machen, weil das eventuell seine Karriere beschädigen könnte – geschenkt; wenn aber, en passant, der Hund sich im Gespräch als gemütvoller Rassist zu erkennen gibt – das hat was und steht zu lesen in der Geschichte „Am Waldrand”. Zu deren Personal auch ein liebenswert-bescheuerter Alter gehört, der sich als nordischer Kriegsgott Odin entpuppt – die zeitgeschichtliche Figur des französischen Kollaborateurs? Sie haben es ganz schön in sich, die „Beruhigungsmittel” des Raymond Queneau. Nicht alle auf einmal nehmen!
THOMAS KLING
RAYMOND QUENEAU: Vom Nutzen und Nachteil der Beruhigungsmittel. Aus dem Französischen von Hans Thill. Wagenbach Verlag, Berlin 2002. 128 Seiten, 15,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Das Wort, so Dietmar Dath, stellt der menschlichen Tat bei Queneau gerne die Frage "Wie siehst du denn aus?" Und viel Selbstverständliches bleibt nicht übrig, wenn Queneau schreibt, über die Welt, die als Tablette in einem Glas Wasser aufgelöst wird, etwa. Der Dichter war lange Präsident von "Oulipo", der Gesellschaft für potenzielle Literatur, in der es "streng experimentell verspielt" zuging. So sind auch die Texte, die hier versammelt sind und größtenteils erstmals ins Deutsche übertragen wurden. Queneau bewegte sich zwischen Hegel und Juliette Gréco (der er einen Hit schrieb), vor allem auch behende zwischen logischen und mathematischen Fallstricken. Dazu erlaubt sich Dath einen Schlenker zur Mathematikergruppe "Bourbaki", der gleichfalls der Sinn nach dem Potenziellen stand. Queneaus Literatur, zeitgenössisch und experimentell, war, so Daths Fazit, "Avantgarde" als "Klassik".

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