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Produktdetails
  • Veröffentlichung des Instituts für Sozialgeschichte Braunschweig, Bonn
  • Verlag: Dietz, Bonn
  • Seitenzahl: 456
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 874g
  • ISBN-13: 9783801241230
  • ISBN-10: 3801241238
  • Artikelnr.: 25020134
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2002

Grausame Schattenseiten zweier Diktaturen
Überlebende nationalsozialistischer Konzentrationslager und sowjetischer Nachkriegslager berichten

Friedhelm Boll: Sprechen als Last und Befreiung. Holocaust-Überlebende und politisch Verfolgte zweier Diktaturen. Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte Braunschweig-Bonn. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2001. 456 Seiten, 34,80 Euro.

"Hier in Deutschland kann die selbstkritische, distanzierende Auseinandersetzung mit den Totalitarismen unseres Jahrhunderts erfolgen" - bemerkte Jorge Semprún 1994 in seiner Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Wie könnte die doppelte, jedoch sehr unterschiedliche totalitäre Vergangenheit Deutschlands im "Zeitalter der Ideologien" deutlicher geklärt werden als durch das Erzählen und Vergleichen der Lebensgeschichten von Verfolgten des nationalsozialistischen wie des stalinistischen Gewaltregimes?

"Wir sind die Letzten. Fragt uns aus!" forderte der israelische Autor Hans Sahl 1973. Diesem Motto folgend, befragte Friedhelm Boll jeweils 55 Überlebende der nationalsozialistischen Konzentrationslager und der sowjetischen Nachkriegslager (beziehungsweise DDR-Zuchthäuser): Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und Nachkriegsinternierte. Die NS-Verfolgten kamen überwiegend aus den Lagern Sachsenhausen, Buchenwald und Auschwitz, die Stalinismus-Opfer aus Bautzen, Sachsenhausen und Buchenwald. Der Darstellung liegen lebensgeschichtliche Erzählungen zugrunde, die in mehrstündigen Interviews aufgezeichnet wurden - ergänzt durch Briefe, Urteile, Haftbegleitakten und Unterlagen der Staatssicherheitsorgane, so daß sich autobiographische Erfahrungen mit den jeweiligen politischen und sozialen Umständen zu einem zeitgeschichtlichen Netzwerk verdichten.

Der besondere, neuartige Zugriff besteht im Vergleich der lebensgeschichtlichen Erfahrungsberichte nationalsozialistischer und stalinistischer Opfer unter der übergreifenden Fragestellung, welche individuellen und gesellschaftlichen Umstände die sprachliche Bewältigung der Verfolgungserfahrung begünstigt oder behindert haben. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichem und privatem Erinnern beziehungsweise Schweigen in Ost- und in Westdeutschland. Haben NS-Opfer bis in die 1960er Jahre geschwiegen, weil sie niemand anhören wollte? Bedurfte es jüngerer, unbelasteter Generationen, um ein aufnahmebereites Klima für die Überlebenden des Holocaust zu schaffen?

Während in der DDR die Erinnerung an die Opfer des Stalinismus verdrängt oder umgedeutet wurde, dominierten diese in der öffentlichen Wahrnehmung der frühen Bundesrepublik ebenso wie die kommunistischen Widerstandskämpfer gegen den "Hitler-Faschismus" in der DDR. Ziel der Untersuchung war es, das in Ost und in West gegenläufige Verhältnis zu den Opfergruppen beider Diktaturen zwischen öffentlichem Interesse und weitgehendem Vergessen zu klären und die offensichtlichen Widersprüche in der deutsch-deutschen Erinnerungskultur aufzuhellen.

Die übergroße Mehrheit der befragten Personen, ob Überlebende von Auschwitz oder solche aus den sowjetischen Speziallagern, habe "zwar bereitwillig, aber nicht selten unter großen seelischen Schmerzen Auskunft gegeben". In vielen Interviews, "wenn es z. B. um die Ermordung eines Neugeborenen in Auschwitz, um den Massenmord an Gegnern der Nazis in Buchenwald . . . ging oder wenn Haß und Rache die Menschlichkeit der Verfolgten bedrohten, wenn politische Häftlinge des Stalinismus der Tortur der Einzelhaft erlagen oder wenn sie inmitten ihrer Exkremente, ihres Hungers und ihrer Hoffnungslosigkeit gefügig gemacht werden sollten", seien Dimensionen der nationalsozialistischen und der stalinistischen Verbrechen zur Sprache gekommen, die in älterer Literatur und insbesondere bei öffentlichen Veranstaltungen häufig fehlten.

Nicht wenigen Holocaust-Überlebenden sei es durch die Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland gelungen, neue Eindrücke eines gewandelten Landes zu erhalten und sich durch ihre Aussagen als Zeitzeugen vom Haß zu befreien. Daran werde deutlich, daß Holocaust-Überlebende und deutsche Zuhörerschaft aufs engste miteinander verbunden seien: "Die einen, indem sie ihre Erinnerungen in Worte fassen und sukzessive lernen, immer größere Teile ihrer Erinnerung sprachlich zu erschließen und deren bedrohlichen Charakter zu mildern. Die anderen . . ., indem sie sich der deutschen Geschichte stellen und die Wirkung des nationalsozialistischen Rassenhasses kennenlernen."

Die vorgestellten Lebensgeschichten der Verfolgten sollen dazu beitragen, "die Wahrnehmung nicht nur einer, sondern bewußt beider Diktaturen in ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden zu schärfen". Nur wer die grausamen Schattenseiten beider Diktaturen kenne, könne über sie urteilen und einer Verharmlosung entgehen. Fast alle befragten Personen hätten "lange Phasen des gesellschaftlichen Desinteresses, der Ignoranz und der Umdeutung ihrer Erfahrungen erlebt. Mal wollte man von ihnen nichts hören, weil das Zeugnis der Widerständler und Verfolgten das eigene opportunistische Verhalten in der Diktatur in Zweifel gezogen hätte; mal wollte man die von ihnen erzählten Ungeheuerlichkeiten einfach nicht glauben, weil das eigene relative Wohlbefinden während der Diktatur zu sehr gestört und nachträglich entwertet worden wäre. Manchmal wurde ihr Schicksal auch einfach beiseite geschoben, weil man glaubte, viele von ihnen seien nicht zu Unrecht in Haft gekommen."

Lange Zeit wurde es auch als gerechtfertigt angesehen, daß das "Dritte Reich" kommunistische Gegner ausschaltete oder daß die sowjetische Besatzungsmacht ehemalige Nazis, auch wenn sie keine Kriegsverbrecher waren, hinter Gitter brachte. Deren weiteres Schicksal sei vielen Zeitgenossen gleichgültig gewesen. Heute sei jedoch festzustellen, daß das zunehmende öffentliche Interesse tief in die persönliche Verfolgungsverarbeitung hineinreiche und die sprachliche Bewältigung erleichtere. Einige Verfolgte betonten zum Beispiel, daß öffentliche Veranstaltungen ihnen weit mehr geholfen hätten als Therapien; andere erzählten immer wieder, daß Veranstaltungen in Schulen einen wichtigen Teil ihrer individuellen Aufarbeitung darstellten. In dem seit den achtziger Jahren entwickelten, empathiegeprägten Kontext hätten viele Verfolgte des Nationalsozialismus durch ihr öffentliches Auftreten "eine Art Selbsterhellung und Selbstvergewisserung sowie die Befreiung von starken Haß- und Schuldgefühlen" erfahren. Besonders "die Begegnungen mit jungen Deutschen boten den jüdischen Zeitzeugen entscheidende Hilfen, mit dem durch die Nazis ausgelösten Haß fertig zu werden". Unabdingbar für diese befreiende Wirkung sei stets die bereitwillig aufnehmende Zuhörerschaft gewesen. Trotz der publizistischen Wirkung, die Veranstaltungen mit Zeitzeugen in den neuen Bundesländern hatten, mußte manch Verfolgter indes feststellen, "daß junge Menschen dort fast vollständig fehlten". Viele der in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR Verfolgten würden sich gern der Verpflichtung stellen, "Wahrheit zu verbreiten, öffentlichkeitswirksam zu werden, Menschen aufzurütteln", wenn es dafür ein entsprechendes Publikum gäbe.

Der Verfasser und seine Mitarbeiter sind nur selten Personen begegnet, die sich für die Aufarbeitung beider Repressionssysteme interessierten. Noch immer aktuell sei daher das Monitum, das Jürgen Habermas mit den Worten umschrieb: "Wo die Rechten zu Angleichungen neigen, wollen die Linken vor allem Unterschiede sehen. Die Linken dürfen sich über spezifische Gemeinsamkeiten totalitärer Regime nicht wegtäuschen und müssen auf beiden Seiten den gleichen Maßstab anlegen, die Rechten dürfen wiederum Unterschiede nicht nivellieren oder herunterspielen."

Trotz gravierender Unterschiede in den Verfolgungssystemen, in der Zusammensetzung der Opfer und in den lebensgeschichtlichen Erfahrungen bleibe die wichtige Erkenntnis, daß sich Leid und Tod der verschiedenen Opfergruppen einer Hierarchisierung entzögen. Auch in den sowjetischen Nachkriegslagern hätten viele Menschen, darunter ehemalige Nationalsozialisten, Systemoppositionelle wie politische Widerständler, vielfältiges Leid erfahren, über Monate und Jahre Todesängste ausgestanden; Tausende seien an Seuchen und Krankheiten verstorben, obwohl auch sie in der übergroßen Mehrheit nicht im strafrechtlichen Sinne schuldig waren. Dies gelte auch für die politischen Gegner der SBZ/DDR, insbesondere für die lange vergessenen Widerständler der ersten Nachkriegsjahre, die für Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie kämpften und dafür unsägliches Leid erdulden mußten.

Der methodische Ansatz, lebensgeschichtliche Erfahrungen mit zeitgeschichtlichen Quellen zu vergleichen, erweist sich als wegweisend und ertragreich. Bolls Studien belegen, "daß Erinnerung zwar Last, aber gerade dann auch Befreiung bedeutet, wenn die Umwelt sich ernsthaft auf das lebensgeschichtliche Erzählen der Verfolgten einläßt". Sie sind ein herausragender Beitrag zur Geschichte der deutsch-deutschen Erinnerungskultur und des Umgangs mit den Diktaturen.

HANS-JÜRGEN DÖSCHER

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Hans-Jürgen Döscher zeigt sich sehr angetan von Friedhelm Bolls Studie "Sprechen als Last und Befreiung". In einer eingehenden Rezension würdigt er insbesondere den außergewöhnlichen Weg, den Boll bei seiner Untersuchung der Umstände sprachlicher Verarbeitung von Verfolgungserfahrungen wählt: den Vergleich von individuellen Lebensberichten von Opfern nationalsozialistischer und stalinistischer Verfolgung im Blick auf die gesellschaftliche Praxis des Erinnerns beziehungsweise Schweigens in Ost- und in Westdeutschland. "Der methodische Ansatz, lebensgeschichtliche Erfahrungen mit zeitgeschichtlichen Quellen zu vergleichen," lobt Döscher, "erweist sich als wegweisend und ertragreich." Bei allen Unterschieden sowohl auf Seiten der Repressionssysteme als auch auf Seiten der Opfer mache Boll deutlich, dass "Leid und Tod der verschiedenen Opfergruppen" nicht hierarchisiert werden dürften. Insgesamt erblickt der Rezensent in Bolls Studien einen "herausragenden Beitrag zur Geschichte der deutsch-deutschen Erinnerungskultur und des Umgangs mit den Diktaturen".

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