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Die Nacht ist der unterschlagene Teil der Menschheitsgeschichte. Denn bis zum Beginn des industriellen Zeitalters im 19. Jahrhundert war die Zeit der Dunkelheit nicht nur strikt getrennt vom Tag, sondern auch eine Zeit mit ganz eigenen Ritualen, Vorstellungen, Ängsten. Im Gegensatz zum Tag war die Nacht eine Zeit des Ausruhens und der Erholung, ein Raum der Freiheit. In ihr konnten sich Menschen zum Gespräch, zum Spinnen und Tanzen treffen. Daneben waren die Stunden der Dunkelheit aber auch die Zeit der bösen Geister und Dämonen, von Feuer und Verbrechen, des Aberglaubens. Unsere moderne…mehr

Produktbeschreibung
Die Nacht ist der unterschlagene Teil der Menschheitsgeschichte. Denn bis zum Beginn des industriellen Zeitalters im 19. Jahrhundert war die Zeit der Dunkelheit nicht nur strikt getrennt vom Tag, sondern auch eine Zeit mit ganz eigenen Ritualen, Vorstellungen, Ängsten. Im Gegensatz zum Tag war die Nacht eine Zeit des Ausruhens und der Erholung, ein Raum der Freiheit. In ihr konnten sich Menschen zum Gespräch, zum Spinnen und Tanzen treffen. Daneben waren die Stunden der Dunkelheit aber auch die Zeit der bösen Geister und Dämonen, von Feuer und Verbrechen, des Aberglaubens. Unsere moderne 24-Stunden-Gesellschaft wurde viel früher eingeleitet, als bisher angenommen. Ein faszinierendes Panorama der Sozialgeschichte, ein wichtiger und hochinteressanter Beitrag, um unsere moderne Gesellschaft zu verstehen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.12.2006

Unter Hexen, Ammen, Gespenstern
Vergnügen im Dunkeln: Roger Ekirch erzählt vom Nachtleben in der frühen Neuzeit
Die Kostüme, die Schauplätze mochten sich geändert haben. Das Treiben aber war im Grunde das gleiche geblieben: böse, verrucht und lasterhaft. Wollüstig vor allem. Nun zogen allerdings nicht mehr die Hexenbuhlen durch die Luft und die Geister der Toten über die Kirchhofmauern. Sondern es flanierten die Dirnen herum und die Freier, die Stenze und die Halsabschneider, die Mondänen und die Demi-Mondänen. Die Banden aufgepulverter Jugendlicher. Das ganze lichtscheue Gesindel, das sich im Dunkeln erst richtig wohl fühlt. Die Geilen und die Unanständigen, die, wie es in einem alten walisischen Sprichwort heißt, ganz besonders die langen Nächte lieben. In der Dunkelheit, wenn sich das Tageslicht verzogen hat, da herrscht die Unordnung und triumphiert das Unerlaubte. Da tritt auf die Gegenwelt.
So hat man es immer gesehen: die Nacht ist das Reich des Bösen. Der Teufel und Gespenster. Und auch im 17. und 18. Jahrhundert, als sich allmählich, ausgehend vom barocken Hof und den großen Metropolen, das Nachtleben so zu entwickeln beginnt, wie wir es heute kennen, wird der eine Schrecken nur durch einen anderen ersetzt, das Unheimliche durch den frivolen Müßiggang.
Den braven Bürgern war beides ein Gräuel „Die Hofleute”, so schreibt einer von ihnen 1739, „verändern die Ordnung der Natur, indem sie aus dem Tage Nacht und aus der Nacht Tag machen, wenn sie nämlich zur Ausübung ihrer Lustbarkeit wachen, da andere Menschen schlafen, und hernach zur Wiedererlangung ihrer durch die Wolllüste verlorenen Kräfte schlafen, da andere Menschen wachen und die Geschäfte ihres Berufs verrichten.”
Der Feind des Tages
Auf die „diabolisierte Nacht” (Robert Muchembled) des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit folgen die illuminierten Nächte des höfischen Festes. Sie werden, wie dies Richard Alewyn beschrieb, zum „Schauplatz eines zweiten, symbolischen Lebens”. Der Tag sei dem Ruhm gewidmet, heißt es im „Ballet de la Nuit”, wo Ludwig XIV. höchstselbst auftrat – die Nacht aber dem Vergnügen.
Auch der amerikanische Historiker A. Roger Ekirch weiß in seiner Geschichte der Dunkelheit von dieser „Entzauberung der Nacht” im 18. Jahrhundert zu berichten, die ja nichts anderes ist als eine neue Verzauberung. Von den Vergnügungssüchtigen, von der leisure class wird die Nacht nun erobert. Von Feuerwerken, Fackelträgern und den immer zahlreicheren Laternen erhellt, wird sie zum märchenhaften Schauplatz eines anderen, schöneren, aufregenderen Lebens.
In einer oft zitierten Passage seiner Memoiren hat Carlo Goldoni beschrieben, wie sensationell, wie überwältigend das tausendfach schillernde nächtliche Treiben Venedigs gewirkt haben muss; noch um Mitternacht war der Markusplatz voll von Menschen.
Aber einerseits will Ekirch die Vorgeschichte des modernen Nachtlebens schreiben, als die Dunkelheit noch fast undurchdringlich und die Welt voller Gefahren war. Andererseits ist er, zu unserem Bedauern, weniger am mondänen, kosmopolitischen Leben interessiert als an der Volkskultur im frühneuzeitlichen Europa. Auf dem Lande aber war noch im 18. Jahrhundert, als man in Venedig, Paris oder London schon ausgiebig die geistigen, die gesellschaftlichen, besonders natürlich auch die ganz „niedrigen Vergnügungen” (James Boswell) genoss, die das nächtliche Leben so bieten kann, noch weitgehend tote Hose: „Nichts zu tun außer schlafen, essen und furzen”, wie es ein deprimierter englischer Landbewohner in seinem Tagebuch notierte.
Beginnt doch die eigentliche Geschichte des Nachtlebens erst mit der Vertreibung der Dunkelheit durch die Expansion der Beleuchtung. So kann man dies etwa in Wolfgang Schivelbuschs „Geschichte der künstlichen Helligkeit” lesen. Ausführlicheres zum Nachtleben in der frühen Neuzeit, vor der Einführung der Straßenbeleuchtung, findet man dagegen allenfalls bei Jean Delumeau – in seiner Untersuchung zur Angst im Abendland. Und natürlich in der wie Giftpilze sprießenden Forschung zum Hexenwesen und Aberglauben in den ländlichen Regionen Europas vor der Industrialisierung.
Der unerschrockene Nachtschwärmer Ekirch hat sich aufgemacht, gerade die durch Lichter und moderne Studien kaum erhellte Dunkelheit im Zeitalter zwischen dem Ausklang des Mittelalters und dem mittleren 18. Jahrhundert zu durchstreifen. Durch das alte Europa und durch die neue Welt führen seine Wege, durch Städte und Dörfer, durch Bürgerhäuser und Bauernkaten. Eine beeindruckende Menge von Quellen hat er ausgewertet, Tagebücher und Gerichtsprotokolle, Briefe und Spruchweisheiten, Verordnungen und Reiseberichte, um beschreiben zu können, wie man nachts lebte und was man erleben konnte, wie man schlief, was man träumte, was man sah oder zu sehen meinte, wenn die Dunkelheit sich über die Welt gesenkt hatte.
Was die Nacht also, die Komplizin des Bösen, „des Tages Feind” (Paul Gerhardt) und „Kuppler geiler Lieb” (Laurentius von Schnüffis), den Menschen bedeutete in diesem Zeitalter der Angst und des Aberglaubens, des Funzellichts, des Ausgehverbots und der verriegelten Stadttore. In erster Linie natürlich Furcht und Schrecken. Konkrete wie eingebildete Gefahren: Räuber und Geister, lodernde Feuersbrünste und blutgierige Werwölfe, feuchte Luft und „giftige Dämpfe”. Die Urangst des Menschen angesichts der Dunkelheit, die man sich noch im 18. Jahrhundert gerne mit den Schauergeschichten erklärte, die Ammen bevorzugt den Kindern vorm Einschlafen erzählen, wurde in der frühen Neuzeit erheblich dramatisiert und mystifiziert durch den Geisterglauben.
Auch Ekirch beschreibt diese folgenreiche Dämonisierung der Weltsicht. Um eine überzeugende Erklärung bemüht er sich jedoch nicht. In seiner so material- wie zitatenreichen Alltagsgeschichte des frühneuzeitlichen Nachtlebens erweist er sich vor allem als Jäger und Sammler. Den Boden hat er nicht kultiviert in dieser, so Ekirch, bisherigen terra incognita am Rande des historischen Interesses.
Zwar ist das Buch grob gegliedert – in vier Kapiteln werden neben den Gefahren und Ängsten auch Schutzmaßnahmen und Ordnungspraktiken, nächtlicher Zeitvertreib und Geselligkeit, Schlafgewohnheiten und häusliche Rituale beschrieben – doch bieten sich die vielen und ja auch recht interessanten Trouvaillen dar wie auf einem Flohmarkt der Geschichte.
Langeweile mit Geistern
Zum einen verdankt sich dies dem Umstand, dass Ekirch, was gewiss äußerst problematisch ist, die europäische Volkskultur der gesamten frühen Neuzeit als mehr oder weniger einheitlichen Block begreift und sich quer durch die Schichten, durch Zeiten und Räume, einzelne Stücke herausschneidet. Aus den vielen Splittern lässt sich so aber nur ein verschwommenes Gesamttableau gewinnen. Zum anderen, und dies wiegt noch erheblich schwerer, hätte er, um mehr zeigen zu können als das, was einzeln abgeschossene Leuchtraketen gerade erhellen – spezielle Bräuche, individuelle Erfahrungen, lokale Besonderheiten – breitere Straßen, von Laternen gesäumt, in diesem dunklen Terrain anlegen müssen. Er hätte, um uns Grundlegenderes von der frühneuzeitlichen Nacht, um eine wahre Geschichte der Dunkelheit erzählen zu können, über die Beobachtung des Alltagslebens hinaus eindringlicher die „kollektiven Sensibilitäten” (Lucien Febrve) beschreiben müssen. Geistes-, ideengeschichtliche Aspekte etwa bleiben fast vollständig ausgeblendet.
Dennoch wissen wir nun, Ekirch belegt dies ausführlich, dass auch die Menschen in der frühen Neuzeit des nachts mehr vollbrachten als schlafen und furzen, und mehr erlebten als Überfälle und Nachtgespenster. Aber ziemlich langweilig scheint es doch gewesen zu sein. Erst das Licht, hat einmal Ernst Bloch bemerkt, machte die Nächte richtig dunkel: Nur illuminiert wird die Nacht zur Nacht. MANFRED SCHWARZ
A. ROGER EKIRCH: In der Stunde der Nacht. Eine Geschichte der Dunkelheit. Aus dem Engl. von Arnd Kösting. Gustav Lübbe Verlag 2006, 495 Seiten, 24,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Manfred Schwarz hält Roger Ekirchs Alltagsgeschichte des Nachtlebens in der frühen Neuzeit für durchaus passabel. Er würdigt die umfangreiche Auswertung zahlloser Quellen - Tagebücher und Gerichtsprotokolle, Briefe und Spruchweisheiten, Verordnungen und Reiseberichte -, anhand der Ekirch die Gefahren und Ängste, die Schutzmaßnahmen und Ordnungspraktiken, Schlafgewohnheiten und häusliche Rituale beschreibt. Allerdings hat der Autor das zusammengetragene Material seines Erachtens nicht hinreichend gegliedert und erklärt. Problematisch scheint ihm, dass Ekrick die europäische Volkskultur der gesamten frühen Neuzeit als "einheitlichen Block" begreift, aus dem er beispielhaft einzelne Stücke herausgreift. So ergibt sich für Schwarz nur ein "verschwommenes Gesamttableau". Außerdem vermisst er eine über die Beobachtungen zum Alltagsleben hinausgehende Beschreibung von "kollektiven Sensibilitäten" (Lucien Febrve) sowie die Einbeziehung von Geistes- und ideengeschichtlichen Aspekten.

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