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Produktdetails
  • Verlag: Bastei Lübbe
  • Originaltitel: Nagelaten dagen
  • Seitenzahl: 155
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 275g
  • ISBN-13: 9783785715154
  • ISBN-10: 3785715153
  • Artikelnr.: 08490994
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2000

Ein Deckel mit blauen Vögeln
Halt in der Erinnerung suchen: Marga Mincos Roman "Nachgelassene Tage" · Von Klara Obermüller

Wer die Schoa überlebt hat, weiß von Zufällen zu erzählen. Und auch wenn Überlebende einander wiederfinden, sind meist die absonderlichsten Zufälle mit im Spiel. So auch im neuesten Roman der holländischen Autorin Marga Minco: "Nachgelassene Tage". Eine Geschichte der Ich-Erzählerin, zufällig entdeckt in einer Jerusalemer Bibliothek, ein Name, der ins Auge sticht, ein kurzer Briefwechsel zwischen Israel, Holland und Kalifornien, und das Unwahrscheinliche wird wahr: Jahrzehnte nach Kriegsende finden zwei Frauen zusammen, die sich beide für die einzigen Überlebenden ihrer Familie gehalten hatten. Der Bruder der einen war mit der Schwester der andern verheiratet gewesen, kurz nur, dann kam die Deportation. Einzig die beiden Schwägerinnen haben überlebt, die eine in Frankreich, die andere in einem Versteck in Amsterdam. Sie hatten bis dahin nichts voneinander gewußt.

Marga Minco weiß, wovon sie spricht. Auch sie war in Amsterdam untergetaucht. Auch sie hat überlebt, als einzige ihrer Familie. "Nachgelassenen Tage", das ist ihre Geschichte, könnte ihre Geschichte sein. Zögerlich und bruchstückhaft tastete Marga Minco sich an das Schicksal zweier jüdischer Familien heran, einer holländischen und einer deutschen, die in Amsterdam in den Malstrom von Verfolgung und Vernichtung geraten waren. Wie andere auch hatten sie, bevor sie untertauchten oder abgeholt wurden, ihre Habseligkeiten bei nicht-jüdischen Nachbarn in Verwahrung gegeben. Doch die wenigen, die nach dem Krieg zurückkamen und versuchten, etwas von ihrem Hab und Gut wiederzubekommen, taten dies oft vergebens. Auch Holländer wollten hinterher von nichts gewußt haben: nichts von Kollaboration, nichts von Verrat und nichts davon, daß manche über das Verschwinden der Juden ganz froh gewesen waren. Man hat selbst gelitten und möchte nicht mehr daran erinnert werden.

Margo Minco kommt nicht als eine Richtende daher. Als ihre Ich-Erzählerin bei dieser holländischen Familie anklopft und im Namen Evas, ihrer Schwägerin im fernen Kalifornien, um das eine oder andere Erinnerungsstück bittet, tut sie dies mit aller gebotenen Bescheidenheit. Sie weiß, daß man ihr, dem Eindringling und Störenfried, nicht glauben muß. Sie weiß, daß sie an Erinnerungen rührt, die unter Verschluß gehalten werden wie all die Schachteln, Mappen und Koffer, die ungeöffnet irgendwo in diesen Wohnungen alter Leute verwahrt sind. Aber sie weiß auch, was so ein Stück Porzellan, ein alter Teppich, ein Bild für die Überlebenden bedeutet: nicht Besitz, davon hat man sich längst gelöst, aber vielleicht so etwas wie ein Pfand aus vergangenen Tagen, eine Vergewisserung, daß, wenn schon nicht die Menschen, so doch ein paar Dinge des täglichen Gebrauchs den Tod überdauert haben. Wer im Leben so gut wie alles verloren hat, hängt an solchen Erinnerungsstücken mehr als andere. Zum Beispiel an einer kleinen Deckelschale aus Porzellan, mit blauen Vögeln drauf, die man schon als Kind bewundert hat. Doch als diese endlich zu ihrer ursprünglichen Besitzerin zurückkehrt, ist es zu spät. Eva ist da schon vom Tod gezeichnet, Schlaganfälle haben die Erinnerungen gelöscht. Sie läßt die Dose fallen. Scherben und der Deckel mit dem kleinen blauen Vogel in der Mitte sind das einzige, was bleibt.

Eine reale Szene und zugleich ein Symbol, worin Marga Minco ihre Geschichte enden läßt. Zwei Überlebende, die in der Erinnerung Halt gesucht hatten, müssen erkennen, daß auch dieser Halt eine Illusion gewesen war. Es gibt in dieser Erzählung nichts, was trägt, nichts, dem wirklich zu trauen wäre. Die Szene, wo die beiden Frauen sich zum ersten Mal treffen und ihre Erinnerungen austauschen, gegenseitig ergänzen, aneinander messen, gehört zu den eindrücklichsten Stellen des Buches. Obwohl sie glücklich sind, sich endlich gefunden zu haben, trauen sie sich letztlich nicht ganz. Stimmt es, was die andere erzählt? Deckt es sich mit dem, was man selbst zu wissen glaubt? Oder ist auf das eigene Gedächtnis kein Verlaß? Das seltsam Schwebende, Ungewisse und Inkohärente, das Marga Mincos Erzählweise kennzeichnet, hier bekommt es seine Berechtigung. Die Autorin schreibt nicht mehr, als sie weiß, und es ist wenig genug. Sie tut es nicht zusammenhängender und nicht geradliniger, als das Gedächtnis es verzeichnet. Alles ist trügerisch, nichts ist wirklich verbürgt. Das ist das wahrhaft Erschütternde an dieser Geschichte und macht zugleich ihre hohe Authentizität aus.

Marga Minco: "Nachgelassene Tage". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marlene Müller-Haas. Edition Lübbe, Bergisch Gladbach 2000. 155 S., geb., 29,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension

Rezensent Marko Martin empfiehlt den Kurzroman von Marga Minco über den Holocaust, das Exil und die Spuren, die beides bei den Überlebenden hinterlassen hat. Wie die Autorin in diesem bereits 1997 veröffentlichten Text von der Abwesenheit geliebter Menschen erzählt, "kristallin", ohne vordergründige Symbolik, findet Martin weiterhin lesenswert, zumal in der "lakonisch-präzisen" Übersetzung von Marlene Müller-Haas.

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