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Der Leser betritt mit dem Band ein bislang wenig bekanntes Terrain der an Ausdrucksformen reichen russischen Volksfrömmigkeit. [Erbe und Auftrag] Die westliche Kunstgeschichtsschreibung ging bis vor kurzem davon aus, daß es in Rußland aufgrund eines Verbotes der orthodoxen Kirche keine Heiligenfiguren gegeben habe. Daß es sich bei dieser Annahme um einen Irrtum handelt, belegt der vorliegende Band. "Weil Peter der Große die Statuen in den Kirchen verboten", zweifelte Goethe schon 1814 an deren Existenz. Tatsächlich ist im Reich der unendlichen Wälder immer geschnitzt worden. Auch hat die…mehr

Produktbeschreibung
Der Leser betritt mit dem Band ein bislang wenig bekanntes Terrain der an Ausdrucksformen reichen russischen Volksfrömmigkeit. [Erbe und Auftrag]
Die westliche Kunstgeschichtsschreibung ging bis vor kurzem davon aus, daß es in Rußland aufgrund eines Verbotes der orthodoxen Kirche keine Heiligenfiguren gegeben habe. Daß es sich bei dieser Annahme um einen Irrtum handelt, belegt der vorliegende Band.
"Weil Peter der Große die Statuen in den Kirchen verboten", zweifelte Goethe schon 1814 an deren Existenz. Tatsächlich ist im Reich der unendlichen Wälder immer geschnitzt worden. Auch hat die Ostkirche nie ein kanonisches Bilderverbot für die Skulptur formuliert. Vielmehr gab es solche Erlasse erst durch die von Peter I. eingeführte Synodalherrschaft. Das Buch stellt zahlreiche im Westen bisher unbekannte Heiligenfiguren aus der Zeit zwischen dem 14. und dem 20. Jahrhundert vor. Stilistisch lassen sich hierbei zwei zeitlich nacheinander auftretende Gruppen unterscheiden. Die frühen Figuren des 16. bis 18. Jahrhunderts sind von ikonisch transzendierender Strenge gekennzeichnet. Im 18. und 19. Jahrhundert setzten sich im Zuge der Reformen jedoch anatomisch und gebärdesprachlich regelrecht in Szene gesetzte Körper nach westlichem Vorbild durch. Dabei waren neben den teils lebensgroßen Sakralskulpturen auch kleine, massenhaft geschnitzte Devotionalstatuetten in ganz Rußland verbreitet. Das Buch nähert sich diesem komplexen Thema durch eine einleitende Untersuchung des diffusen Begriffes "Bilderverbot" in den drei großen monotheistischen Schriftreligionen.
Ein Buch schlägt eine Welt auf, die immer existiert hat, aber nicht existieren durfte. Kopfschüttelnd, Augen reibend liest man über "verbotene Bilder", sieht man sie sich auf guten Abbidlungen an. Eine tradktionsreiche Kulturleistung legt dieser schöne Band dem Leser ans Herz und erhellt sie in kenntnisreichen Texten. Dieses Buch eröffnet neue Welten. Man möchte es nicht missen. [Kunstbuchanzeiger]
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2006

Vom Zaren verstoßen und verbannt

Die Kulturrevolution Peters des Großen, der Rußland in die Neuzeit zerrte, statuierte auch an der Holzschnitzerei drakonische Exempel. Eine gewisse Geringschätzung der altrussischen Holzplastik seitens der Kunstwissenschaft, aber auch die Vergänglichkeit ihres Materials dürften verantwortlich dafür sein, daß das Genre wissenschaftlich unterbelichtet war. Dabei vermittelt die Identifikationsfigur des Holzheiligen die beste Vorstellung von den sozialen Idealen der Zeit - während die Ikonenmalerei vor allem die Reise ins Jenseits antizipiert. Deswegen ist der Band, den das Bayerische Nationalmuseum herausgebracht hat, eine Pioniertat.

Im Unterschied zur griechischen Orthodoxie, die sich von den heidnischen Vorfahren durch Skulpturenverzicht absetzte, waren den Russen Schnitzikonen ebenso heilig wie zweidimensionale Bilder. Im Mittelalter, das in Rußland erst um 1700 endete, gab sich die Sakralplastik betont unplastisch. Unterlebensgroßes Format, stelenartige Starre und Ausdruckslosigkeit sorgten dafür, daß man dieser Kunst keine nachschöpferische Anmaßung vorwerfen konnte. Zugleich blieb die räumliche Darstellung ein Privileg für wenige Heilige - den Drachentöter Georg, den Städtebeschützer Nikola, die asketische Paraskewa. In dem naturwarmen Medium wurden sie von Gläubigen liebevoll in Tücher gehüllt und waren dem Gemeindeleben lebendiger verbunden als das Personal der Tafelikonen.

Seit der Epoche der Kirchenspaltung, die ähnlich wie der Protestantismus mit theologischen Selbstreinigungsversuchen begann, versuchte man per Konzilsverbote naturreligiöse Auswüchse dieser Sakralkunst zu stutzen. Doch erst Peter der Große ächtete die "Holzidole" radikal, allerdings bezeichnenderweise mit weltlich ästhetischen Argumenten. Zar Peters im vorliegenden Buch erstmals im russischen Original mitsamt deutscher Übersetzung veröffentlichter Ukas von 1722 schmäht die Schnitzikonen seiner Untertanen als scheußlich - was von einer Wahrnehmung kündet, die sich an westeuropäischen Vorbildern und äußerer Ähnlichkeit orientiert. Daß Nasen, Arme, Beine der Holzplastiken leicht abbrachen und damit deren Aussehen entstellten, fand der Herrscher untragbar. Auch die "Betastbarkeit" der Heiligen schien dem Zaren mit ihrer religiösen Würde unvereinbar.

Das Dokument, das einer Kulturrevolution gleichkommt, verlangt, die Kirchen von unziemlichem Dekor zu säubern. Das befolgten manche Priester, indem sie Problemplastiken in Lagerräumen oder im Allerheiligsten hinter der Ikonostase in Sicherheit brachten. Daß zumindest die Kirchen der größten Städte seit petrinischer Zeit skulpturenfrei waren, bezeugten ausländische Rußlandreisende.

Die berühmtesten Sammlungen russischer Holzplastiken stammen aus der Zeit nach Rußlands Ruck Richtung Europa, sind aber doch fern der alten und neuen Hauptstadt entstanden. Der Bildtypus des sitzenden "Christus im Kerker", einst aus dem Westen importiert, stieg in der russischen Waldsteppe zur wichtigsten Andachtsfigur auf.

Im Innersten sind russische Schnitzikonen Splitterwesen. Die Skulptur ist zusammengestückt aus Fragmenten, oft aus unterschiedlichen Holzarten, im Gegensatz zu den aus einer Sorte gearbeiteten westeuropäischen. Im russisch-orthodoxen Kunstverständnis birgt jedes Individuum die vielfältigen Anlagen der Gesamtschöpfung. Innere Einheit verleiht allein Gottes Gnade.

KERSTIN HOLM

Marianne Stößl (Hrsg.): "Verbotene Bilder". Heiligenfiguren in Rußland. Hirmer Verlag, München 2006. 271 S., geb., zahlr. Abb., 58,- [Euro].

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