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Die interdisziplinäre Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" und ihre Mitglieder haben die geistes- und kulturwissenschaftliche Landschaft der alten Bundesrepublik geprägt wie vielleicht sonst nur noch die Kritische Theorie.Zahlreiche Interviews mit den wichtigsten noch lebenden Akteuren erlauben einen ebenso erkenntnisreichen wie unterhaltsamen Blick hinter die Kulissen von Poetik & Hermeneutik. Unter welchen Bedingungen und mit welchen Absichten wurde die Gruppe von Hans Blumenberg, Clemens Heselhaus, Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß ursprünglich gegründet? Wie entfalteten sich…mehr

Produktbeschreibung
Die interdisziplinäre Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" und ihre Mitglieder haben die geistes- und kulturwissenschaftliche Landschaft der alten Bundesrepublik geprägt wie vielleicht sonst nur noch die Kritische Theorie.Zahlreiche Interviews mit den wichtigsten noch lebenden Akteuren erlauben einen ebenso erkenntnisreichen wie unterhaltsamen Blick hinter die Kulissen von Poetik & Hermeneutik. Unter welchen Bedingungen und mit welchen Absichten wurde die Gruppe von Hans Blumenberg, Clemens Heselhaus, Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß ursprünglich gegründet? Wie entfalteten sich Diskussionen und Kontroversen? Wie kam P&H zur Blüte und warum scheiterte ein möglicher Generationenwechsel? Als Zeitzeugen gehört werden Aleida und Jan Assmann, Ferdinand Fellmann, Manfred Frank, Gerhart von Graevenitz, Hans Ulrich Gumbrecht, Anselm Haverkamp, Dieter Henrich, Helga Jauß-Meyer, Renate Lachmann, Thomas Luckmann, Hermann Lübbe, Christian Meier, Jürgen Schlaeger, Gabriele Schwab, Wolf-Dieter Stempel, Karlheinz Stierle, Rainer Warning und Harald Weinrich.
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Autorenporträt
Boden, tätig am Zentralinst. f. Literaturgeschichte (Akademie d. Wissenschaften d. DDR), am Zentrum f. Literatur- und Kulturforschung Berlin, am Dt. Literaturarchiv Marbach. Zill, war tätig als freier Autor; 1994-1997 Mitarbeiter am Inst. f. Philosophie d. TU Dresden), seit 1997 Wiss. Referent (Einstein Forum, Potsdam)
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.04.2017

Wer Vergils vierte Ekloge kennt, ist willkommen
Ein Band mit Interviews spürt der legendären Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ nach
Anfang der 1960er-Jahre plante der Germanist Clemens Heselhaus an der Universität Gießen ein „Lessing-Institut für Hermeneutik und Literaturkritik“. Sein Projekt einer „zwischenfachlichen“ Forschungseinrichtung lag im Trend. 1957 hatte der Sputnik-Schock im Westen dafür gesorgt, dass die Budgets insbesondere für „Verbundforschung“ erhöht worden waren. Ein wichtiges Signal für die Geisteswissenschaften setzte dabei die Einrichtung der „Begriffsgeschichtlichen Kommission“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dort sollte interdisziplinär Grundlagenforschung betrieben werden, und zwar auf dem gleichen Niveau wie in naturwissenschaftlichen Kommissionen. Heselhaus schloss sich mit seinem romanistischen Kollegen Hans Robert Jauß und dem Philosophen Hans Blumenberg zusammen. Als vierter im Bunde wurde der Anglist Wolfgang Iser in die Task Force aufgenommen. Aus dem „Lessing-Institut“ entstand die Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“. 1963 veranstaltete sie ihre erste Tagung. Bis 1994 folgten sechzehn weitere. Für eine ganze Generation definierten diese Veranstaltungen den Maßstab für geisteswissenschaftliche Exzellenz.
So jedenfalls erscheint es, je weiter die Arbeit von „Poetik und Hermeneutik“ zurückliegt. Nun haben Petra Boden und Rüdiger Zill die vorhandenen Quellen um Interviews mit den „Beteiligten“ ergänzt. Für das Gründungsquartett kam das große Zeitzeugenprojekt zu spät, ansonsten aber bietet die Sammlung einen beeindruckenden Querschnitt: von Dieter Henrich, Harald Weinrich oder Hermann Lübbe über Rainer Warning und Karlheinz Stierle bis Manfred Frank, Anselm Haverkamp oder Renate Lachmann. Wichtige Eindrücke stammen von vergleichsweise randständigen, aber gut informierten Beobachtern wie Hans Ulrich Gumbrecht oder Aleida und Jan Assmann. Auch Helga Jauß-Meyer hat sich zu einem Gespräch bereit erklärt.
Boden und Zill führen die Interviews bewundernswert kenntnisreich. Nicht selten korrigieren sie dezent und mit profunder Kenntnis der Archivalien die Erinnerungen ihrer Gesprächspartner. In jedem Interview öffnen sie eine neue Tür in die Hinterzimmer einer vergangenen Universitätsgeschichte. Die Heroen dieser Zeit veränderten Fächer noch von Grund auf, gestalteten ganze Fachbereiche um oder erfanden – wenn sie in den Gremien zur Einrichtung der Reformprojekte in Bielefeld oder Konstanz saßen – sogar die Universität neu. Wer könnte heute noch wie Harald Weinrich sagen: „Ich habe moderne Linguistik eingeführt. Überhaupt habe ich die Romanistik ziemlich umgekrempelt“?
Das neu entflammte Interesse an „Poetik und Hermeneutik“ hat wenig mit dem Skandal um Hans Robert Jauß’ SS-Vergangenheit zu tun – dass die treibende Kraft hinter der Gruppe ein Kriegsverbrecher war, ist nach wie vor schwer verdaulich. Faszinationsgeschichtlich entscheidend ist hingegen der Eindruck, die Epoche von „Poetik und Hermeneutik“ sei die goldene Zeit der bundesrepublikanischen Geisteswissenschaften gewesen: Als Wissenschaft noch um der Sache willen betrieben wurde und nicht nur zur Einwerbung von Drittmitteln, als Tagungen noch dem intensiven Gedankenaustausch gewidmet waren und nicht der Renommisterei, als gedankliche Beliebigkeit geächtet war und nicht aus betrieblichen Gründen achselzuckend hingenommen wurde.
Zunächst einmal macht es tatsächlich einen Unterschied, wie Jan Assmann bemerkt, ob man auf einen Tagungstermin hinfiebert oder zwei, drei Vortragstermine pro Monat im Kalender stehen hat. Es erscheint heute wirklich unvorstellbar, seine Gedanken für die eine Woche im Jahr aufzusparen, die man im Vollbewusstsein der eigenen Bedeutsamkeit an einem abgelegenen Tagungsort verbringt, um sich über „Nachahmung und Illusion“, „Immanente Ästhetik“ oder „Positionen der Negativität“ auszutauschen.
Ein Markenzeichen der Gruppe bildete die „Interdisziplinarität“. Allerdings waren sich viele Akteure bereits außerhalb von „Poetik und Hermeneutik“ begegnet, weil es das „gewohnte Zusammenspiel der geisteswissenschaftlichen Fächer“ gab. Das Qualitätsurteil „interdisziplinär“ markiert daher auch weniger die an sich eher triviale Tatsache, dass man über den Tellerrand des eigenen Fachs hinausblickt, sondern welche Fächer man für strategisch relevant hält. Tatsächlich umfasste die „kleine Interdisziplinarität“ von „Poetik und Hermeneutik“ nur ein bestimmtes Spektrum, insbesondere die Literaturwissenschaften mit stark philosophischer Schlagseite. Linguistik, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft oder Soziologie waren nach dem Eindruck vieler Akteure nicht wirklich effektiv vertreten. „Was die kulturwissenschaftliche Theoriebildung im eigentlichen Sinn betrifft“, bemerkt Karlheinz Stierle, „so muss man leider sagen, die Musik spielte anderswo“. Dass dem Gesamtprojekt unter diesen Bedingungen gleichsam natürliche Grenzen gezogen waren, leuchtet ein: Zumal die jüngeren „Beteiligten“ führen das Ende von „Poetik und Hermeneutik“ darauf zurück, dass die „Archonten“ zu unbeweglich blieben und das Zepter nicht an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben bereit waren.
Was aber bildete die Geschäftsgrundlage von „Poetik und Hermeneutik“? Eine gemeinsame Theorie war es gewiss nicht, darin sind sich alle einig. Auch methodisch oder terminologisch war die Spannbreite bedenklich weit. Gleiches gilt für die behandelten Themen und Fragestellungen. Stattdessen verfügte die Kerngruppe über gemeinsame historische Erfahrungen sowie vor allem über einen geteilten Bildungshintergrund. So kritisch die wechselseitigen Einschätzungen auch ausfielen, ob Blumenberg für überschätzt, Taubes für unproduktiv oder Iser für beschränkt gehalten wurde, man verstand jede Anspielung und vermochte sie subtil zu parieren. Wer dazu nicht in der Lage war, fand keinen Platz im engeren Kreis. Odo Marquard hatte es daher nicht nur schwer, weil er mit clownesker Attitüde die großen Erzählungen zerfledderte, sondern – so Manfred Frank – weil er im Verdacht stand, „ein erstaunlich ungebildeter Mensch“ zu sein: „Wenn da jemand die vierte Ekloge von Vergil nannte, war er der Einzige, der nicht wusste, wovon die Rede war“.
Diese eher unterschwelligen Gemeinsamkeiten sind wissenschaftshistorisch und -theoretisch eine Herausforderung. Viele Mitglieder kannten sich aus Studentenzeiten in Heidelberg und Münster. Orientierung boten gewiss auch die großen Persönlichkeiten wie Joachim Ritter oder Hans-Georg Gadamer. Entscheidend war die Interaktion vor Ort. Die wechselseitige Beobachtung und die Auseinandersetzung im Gespräch unter Gleichen bildete die Grundlage für das Qualitätsgespür von „Poetik und Hermeneutik“. Hier lernte man, wie und in welche Richtung Fragen gestellt werden konnten; hier merkte man, was geht und was nicht; hier kultivierte man seine Eigenheiten so, dass sie als anschlussfähig galten; hier ergaben sich Netzwerke, die dann in Organisationsformen überführt werden konnten. Wer nicht versteht, warum die Anwesenheit aller Akteure für die Wissenschaft so wichtig ist, der sollte sich mit der Erfolgsgeschichte von „Poetik und Hermeneutik“ befassen.
Eine Frage stellen Boden und Zill immer wieder: „Was bleibt?“ Dass es sich bei „Poetik und Hermeneutik“ um ein Modellprojekt handelt, dass davon prägende „Anregungen“ oder weitreichende „Anstöße“ ausgegangen sind, darüber herrscht zumindest unter den „Beteiligten“ weitgehend Konsens. Worin aber genau der Ertrag besteht, wird nur sehr selten konkretisiert. Dies bedeutet eine doppelte Warnung: Weder sollte man die direkten Effekte von „Poetik und Hermeneutik“ überschätzen, noch die indirekten einfach übergehen. Die Zeitzeugen machen auf eine ebenso tief- wie abgründige Dimension von Wissenschaft aufmerksam, wenn sie über die „Atmosphäre“ bei den Tagungen von „Poetik und Hermeneutik“ sprechen, von der „Intensität“ der Debatten schwärmen, ein bestimmtes „Theoriebedürfnis“ oder einen gewissen „Argumentationshabitus“ für ebenso wichtig halten wie die „Kultivierung der Genauigkeit“ oder den „Stil“, in dem die Debatten geführt wurden. Solange solche Faktoren ausschlaggebend sind, versteht man, warum sich Exzellenz so schwer am Reißbrett organisieren lässt.
STEFFEN MARTUS
Petra Boden,
Rüdiger Zill (Hrg.):
Poetik und Hermeneutik im Rückblick. Interviews mit den Beteiligten. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2017.
619 Seiten, 69,00 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2017

Es konnte einen fast so etwas wie Examensgefühl befallen
Wie war eigentlich die Stimmung bei "Poetik und Hermeneutik"? Ein Interviewband mit Teilnehmern zieht eine kritische Bilanz der legendären Forschungsgruppe

Was ist "Interdisziplinarität"? Wer Geisteswissenschaftlern diese Frage stellt, wird häufig folgende Antwort erhalten: ein Förderkriterium zur Beantragung von Forschungsgeldern. Mag interdisziplinäres Arbeiten mittlerweile auch als unverzichtbar gelten - in der Praxis gerät es häufig zur Pflichtübung. Denn: Damit der Dialog über Fächergrenzen hinweg gelingt, ist mehr vonnöten als die raumzeitliche Zusammenkunft von Vertretern unterschiedlicher Disziplinen. Worin genau aber besteht dieses "mehr"?

Eine erste Antwort auf diese Frage liefert jetzt ein Band, der Interviews mit Teilnehmern der Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" versammelt. Petra Boden und Rüdiger Zill haben mit den wichtigsten noch lebenden Akteuren dieser Unternehmung gesprochen. In den deutschen Geisteswissenschaften bleibt sie ein singuläres Ereignis. Bei "Poetik und Hermeneutik" kamen insbesondere Literaturwissenschaftler, Philosophen und Historiker zusammen, später auch Soziologen und Religionswissenschaftler. Gegründet Anfang der sechziger Jahre von dem Germanisten Clemens Heselhaus, dem Philosophen Hans Blumenberg, dem Romanisten Hans Robert Jauß und dem Anglisten Wolfgang Iser, organisierte die Gruppe zwischen 1963 und 1994 siebzehn Kolloquien. Interessant ist das nicht nur aus wissenschaftshistorischer Perspektive: Die Gruppe wurde, so Jürgen Kaube in dieser Zeitung, ein "Zentrum der intellektuellen Nachkriegsgeschichte" (F.A.Z. vom 18. Juni 2003). Noch heute faszinieren die Tagungsbände, insbesondere jene der frühen Jahre, mit ihren ungewöhnlich substantiellen Beiträgen, der Weite ihres Horizonts und der konzentrierten Arbeit am Begriff. Bei der Wiederlektüre erstaunt vor allem, wie grundsätzlich hier Themen angegangen wurden, denen sich heute ganze Forschungszweige widmen.

In den Interviews tritt diese Wegscheide wissenschaftlicher Ausdifferenzierung plastisch hervor. Es ist zu erfahren, welche Gruppierungen innerhalb des Zirkels entstanden, mit welchen Motiven die Beteiligten agierten, welche Strategien sie vorantrieben und wer bei wem wie hoch im Kurs stand. Zwar fehlen die Perspektiven der bereits verschiedenen Gründer, ebenso jene Jurij Striedters, Jacob Taubes oder Odo Marquards. Gerade vom pointensicheren Marquard, der 2015 verstorben ist, hätte man sich einen Beitrag gewünscht. Eine repräsentative Auswahl wurde es trotzdem: Neben tragenden Figuren wie Karlheinz Stierle, Dieter Henrich, Harald Weinrich und Rainer Warning kommen auch spät Hinzugestoßene zu Wort, beispielsweise Manfred Frank, Renate Lachmann oder Anselm Haverkamp.

Ihre Erinnerungen fangen die Atmosphäre der Tagungen differenziert ein: Elan und intellektueller Aufbruch, aber auch inhaltliche und persönliche Differenzen, Konkurrenzverhältnisse, Spannungen. Es ist mehr als ein Schönheitsfehler, dass der Kriegsverbrecher Jauß bis zum Schluss das Organisatorische übernahm. Einen offiziell deklarierten Forschungsleiter aber hat es bei "Poetik und Hermeneutik" nie gegeben, auch wenn sich zwischen den Normalsterblichen und dem inneren Kreis der sogenannten "Archonten" durchaus eine klare Hierarchie abzeichnete. Gerade von den - auf den Tagungen erst spät und spärlich vertretenen - Forscherinnen ist zu hören, sie hätten "Poetik und Hermeneutik" nicht nur als aufregend, sondern auch als steif, beklemmend, ja zeremoniell empfunden. "Es konnte einen fast so etwas wie ein Examensgefühl befallen", bemerkt Renate Lachmann. Wer seine Theorie-Heroen bislang nur zweidimensional und vom Papier her kannte, für den nehmen sie in der Vielfalt der rückblickenden Urteile dreidimensionale Gestalt an. Wir lesen von Blumenbergs Distanziertheit, von der unzureichenden Thematisierung der Metapher, aber auch von der Einschätzung der um Iser gescharten Theorie-Puristen, Jauß und seine Schüler nutzten die Tagungen zielstrebig zum Zweck der eigenen "Reputationsmehrung". Niemals dominiert dabei ein voyeuristischer Blick: Sachkundig rücken Boden und Zill die gruppendynamischen und theoriegeschichtlichen Hintergründe der Äußerungen in den Fokus. So spiegelt sich in der Gelehrten- die Geistes-, Fach- und Zeithistorie.

Ein Rezept für die Gegenwart bietet der Band trotzdem nicht. Aleida Assmann meint: "Poetik und Hermeneutik wäre heute nicht mehr möglich." In Zeiten wissenschaftlicher Überproduktion gehören die Bedingungen, unter denen hier gearbeitet wurde, in den Bereich des Unvorstellbaren. Als Erstes fällt auf, wie viel Zeit man sich nahm: Die Kolloquien erstreckten sich über eine ganze Woche und erforderten ein beträchtliches Maß an Präparation, da die Texte nicht vor Ort präsentiert, sondern in Form sogenannter "Vorlagen" an die Teilnehmer versendet wurden. Diese ausführlichen Ausarbeitungen waren penibel vorzubereiten, in ihrer Diskussion bestand der eigentliche Zweck der Tagungen. Eine Einladung, so Assmann, habe bedeutet: "So, du musst dein Leben ändern! Ab jetzt darfst du nur noch an dieses Thema denken, guck mal, wo du irgendetwas findest, womit du dich auf dem Kolloquium nicht blamierst." Im heutigen Tagungswesen dagegen, wo jeden Monat mehrere solcher Termine im Kalender stehen, muss kontemplative Muße nicht selten gegen die Verpflichtung zur Außenwirkung verteidigt werden.

Prägend für "Poetik und Hermeneutik" war nicht zuletzt die historische Situation. Die Gründer kamen in den Nachkriegsjahren an die Universitäten. Ihnen gemeinsam war das Gefühl, in der Zeit des Dritten Reichs etwas verpasst zu haben, insbesondere die Begegnung mit der ästhetischen und philosophischen Moderne. Einige waren im Krieg gewesen, wofür Hans Robert Jauß' Vergangenheit in der Waffen-SS ein besonders verstörendes Beispiel gibt. Andere wurden, wie Hans Blumenberg, verfolgt. Sie alle hatten einen "Heißhunger nach Welt und Idee" (Henrich), dem sich mit der Öffnung des Landes endlich das lang ersehnte Material bot. Als sie dann in den sechziger Jahren an den Universitäten in leitende Positionen aufstiegen, sahen sich die Vertreter dieser Generation in der Pflicht, auch akademisch neue Wege zu gehen. In diese Zeit fällt auch die Gründung von "Poetik und Hermeneutik". So kamen auf Betreiben von Jauß, der hierher einen Ruf erhalten hatte, gleich mehrere Mitglieder der Forschungsgruppe an die 1966 gegründete Reformuniversität Konstanz.

Dem kam entgegen, dass die Philologie in Deutschland zu diesem Zeitpunkt ein mehr oder weniger theoriefreier Raum war. Eine eigene Sprache musste entwickelt werden, erstmals übersah man ein noch nicht vollständig kartographiertes Gebiet. Auch deshalb lag "Poetik und Hermeneutik" nie ein gemeinsamer theoretischer Entwurf zugrunde. Vielmehr war man sich darin einig, dass es galt, den Gegenstand auf hohem Reflexionsniveau zu durchdringen und von hier aus zur Theoriebildung voranzuschreiten. Die Heterogenität der Beteiligten wurde durch einen gemeinsamen Bildungshorizont zusammengehalten und einem Ethos der Gesprächsführung unterworfen. Mehr als eine einheitliche Theorie bildete sich so ein Habitus der Genauigkeit heraus, ein Hang zum kultivierten Streit. "Diese Intensität der Hingabe an den Gedanken habe ich nirgendwo anders wiedergefunden", so Jürgen Schlaeger.

Dauerhaft allerdings war diese Intensität nicht aufrechtzuerhalten. Prestige und Verpflichtungen der Protagonisten wuchsen, während die Tagungen den Erfordernissen des sich professionalisierenden und ausdifferenzierenden Universitätsbetriebs angepasst wurden. Es verwundert deshalb nicht, wenn die Beteiligten darin übereinstimmen, man sei mit der Zeit "braver" geworden. Die Themensetzung büßte ihre Notwendigkeit ein: Waren Titel wie "Nachahmung und Illusion", "Die nicht mehr schönen Künste" oder "Geschichte - Ereignis, Erzählung" Denkprogramme für alle, die nachher kamen, so scheint für viele Teilnehmer der vierzehnte Band ("Das Fest") einen endgültigen Abstieg zu markieren. Seit den achtziger Jahren war zudem die Rede von Nachwuchsproblemen. Der Generationswechsel wurde verpasst, gerade gegenüber neueren Theorieangeboten wie dem aus Frankreich und den Vereinigten Staaten herüberschwappenden Poststrukturalismus oder kulturwissenschaftlichen Ansätzen mangelte es an Beweglichkeit. Da klang es fast wie eine Selbstbeschreibung, als man dem als Schlusspunkt vorgesehenen Band über das "Ende" noch einen hinzufügte, der den Titel "Kontingenz" trug. Boden und Zill schließen die siebzehn Interviews stets mit derselben Frage ab: Was bleibt? Es macht eine der Stärken des Bandes aus, dass sich dies erst in der Lektüre erschließt.

JAN KNOBLOCH

Petra Boden/Rüdiger Zill (Hrsg.): "Poetik und Hermeneutik im Rückblick". Interviews mit Beteiligten.

Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2017. 619 S.,

2 Abb., geb., 69,- [Euro].

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