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Die anthropologischen Grenzfragen nach dem Anfang des menschlichen Lebens und seinem Ende wurden bislang von der Philosophie, Medizin und Theologie behandelt. Hier wird eine neuartige soziologische Perspektive eingenommen. In theoretischer und methodischer Hinsicht bricht die Untersuchung mit der in der Soziologie gültigen Weltinterpretation, wonach nur lebende Menschen soziale Akteure sein können. Auf dieser Grundlage wird der alltägliche Umgang mit Intensivpatienten und die Praxis der Hirntoddiagnostik empirisch beobachtet.
Die Untersuchung umfaßt zwei Problembereiche: Epistemologisch
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Produktbeschreibung
Die anthropologischen Grenzfragen nach dem Anfang des menschlichen Lebens und seinem Ende wurden bislang von der Philosophie, Medizin und Theologie behandelt. Hier wird eine neuartige soziologische Perspektive eingenommen. In theoretischer und methodischer Hinsicht bricht die Untersuchung mit der in der Soziologie gültigen Weltinterpretation, wonach nur lebende Menschen soziale Akteure sein können. Auf dieser Grundlage wird der alltägliche Umgang mit Intensivpatienten und die Praxis der Hirntoddiagnostik empirisch beobachtet.

Die Untersuchung umfaßt zwei Problembereiche: Epistemologisch geht es darum, wie der Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften konstituiert wird. In ethisch-politischer Hinsicht steht im Mittelpunkt, wie die Begrenzung des menschlichen Lebens zu einer naturwissenschaftlichen Frage wird, die durch die Praktiken der Medizin wirksam beantwortet werden kann. Beide Problembereiche sind eng miteinander verbunden. Denn um sehen zu können, wie die medizinische Todesfeststellung die ethisch-politische Grenze zwischen lebenden Menschen und anderem zieht, darf diese in der Analyse nicht vorausgesetzt werden. Die Analyse muß also zunächst ohne Bezug auf eine apriorische Bestimmung dessen auskommen, was menschliches Leben charakterisiert.
Autorenporträt
Gesa Lindemann lehrt an der Universität München Soziologie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2002

Was da flimmert und piept

Eine medizinische Intensivstation ist nicht nur eine Brutstätte für Bakterien, sie setzt auch Einsichten über die menschliche Kondition frei, die im "gesunden" Alltag nur abstrakt zu haben sind. Nicht als Patientin oder Angehörige, sondern als soziologische Beobachterin hat sich Gesa Lindemann in Intensivstationen der Neurologie und Neurochirurgie aufgehalten und dort die Arbeit von Ärzten, Schwestern und Pflegern protokolliert. Herausgekommen ist eine in ihrer empirischen Sättigung und theoretischen Durchdringung beeindruckende Untersuchung der Medizinsoziologie (Gesa Lindemann: "Die Grenzen des Sozialen". Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin. Wilhelm Fink Verlag, München 2002. 469 S., geb., 52,- [Euro]).

Dadurch, daß die Autorin das Problem der medizinischen Unsicherheit in den Mittelpunkt rückt, stellt sich wie von selbst die dramatische Kulisse her, vor der von nun an jeder intensivmedizinische Handgriff nur noch gesehen werden kann: Die Frage nach der Zukunft des Patienten - ob er sein Leben fortsetzen wird und, wenn ja, mit welchen Hypotheken - erscheint als in hohem Maße zufallsabhängig. Unter den kontingenten Umständen, von denen die Genesung des Patienten abhängt, greift Lindemann zwei heraus: die kommunikativen Verhältnisse innerhalb des Krankenhaus-Personals sowie die Methode, Diagnose und Therapie in ein stimmiges Verhältnis zu bringen. Beide Umstände lassen sich wiederum in der Frage zusammenführen, wer in den streng hierarchisch strukturierten Unterstellungsverhältnissen einer Station die Definitionsmacht über das lokal und zeitlich veränderliche "Ethos der Kunstfertigkeit" ausübt.

In seiner Rolle als Außenstehender vermag der Autor seine Anmerkungen zur prekären, stets vor dem Hintergrund möglicher juristischer Konsequenzen ausgetragenen Kommunikation zwischen Klinik und Patient beziehungsweise Angehörigen überraschend gut zu belegen. "Behandlungsfehler" können in der Hierarchie nur "von oben nach unten" nachgewiesen und geahndet werden; das Arzt-Patienten-Verhältnis dient nicht selten dazu, die kommunikativen Beziehungen der Ärzte untereinander zu stabilisieren. Um so couragierter erscheinen Klinikvertreter, die den Code durchbrechen und die juristische Absicherung nicht zum letzten Kriterium ihrer Kommunikation nach innen und außen erheben.

Lindemann macht schlagend klar, daß die Praxis der Apparatemedizin "kein Primat von Diagnose, Prognose oder Therapie" kennt. Eher sind diese als funktional aufeinander bezogene Momente zu verstehen, um den Patienten als "biotechnische Gestalt im zeitlichen Verlauf" immer wieder neu zu bestimmen. In diesem Sinne "kann der gesamte Prozeß der Diagnose auch von der Wirkung der Behandlung her aufgerollt werden, das heißt, es werden verschiedene Therapien durchgeführt, und wenn eine davon anschlägt, ist die Diagnose gelungen". Die Diagnose erfolgt so nach der Logik des Futur II: "Die Wirkung der Behandlung wird klären, welche Krankheit der Patient gehabt haben wird."

Natürlich stützt sich auch eine solch "probatorische Medikation" - mal gucken, was rauskommt, wenn wir dieses Medikament verabreichen - jeweils auf gute, dem Zustand des Patienten abgelesene Gründe: kein therapeutischer Schritt, der sich nicht vor dem, was man einen "begründeten Verdacht" nennt, ausweisen ließe. Aber das ändert nichts daran, daß die schnelle Therapie, sobald Gefahr im Verzug geltend gemacht werden kann, ein "Aktionismus im Interesse des Patienten" bleiben darf, der die Sicherheit der Diagnostik zunächst in den Hintergrund treten läßt. Trotz des fehlenden Nachweises eines Virus - so Lindemanns Beispiel - wird die Patientin aufgrund der klinischen Symptome und der Entzündungszeichen im Blut behandelt, wie es der Fall wäre, wenn ein Virus nachgewiesen worden wäre. Ob das Virus tatsächlich vorlag, wird dabei womöglich immer unklar bleiben, "denn die Möglichkeit der diagnostischen Sicherung durch einen Labornachweis ist durch die Therapie vielleicht beseitigt worden".

Aber nicht nur das: Die verabreichte Therapie kann in ihren Nebenfolgen wiederum Krankheiten auslösen, die dem Patienten ansonsten erspart geblieben wären. Doch eine solch statische Retrospektive, der es darum geht, wie es "eigentlich gewesen wäre", fällt durch den gegenläufigen Brauch, die Vergangenheit des Patienten durch die Gegenwart immer wieder neu zu bestimmen, erst gar nicht an. Wobei paradoxerweise nur dann, wenn der Patient in keinem Moment mit seiner Gestalt in der Gegenwart identisch ist, er derselbe sein kann, der später schon von Anfang an eine ganz andere Krankheit gehabt haben wird.

So bleibt der Kontrast zwischen einer hochtechnisierten, an Präzision nicht überbietbaren Repräsentanz des verkabelten Patienten auf den flimmernden und piependen Monitoren der Intensivstation und seiner tatsächlichen Ungesichertheit, je gesicherter er in der Abbildung seiner Vitalfunktionen erscheint. Lindemann erzählt von einer Pflegeperson, die der Illusion des Flimmerns und Piepens von Herzfrequenzen und Sauerstoffwerten verfallen ist. Eine von ihr selbst zunächst dringend gewünschte Versetzung von der Intensiv- auf eine Normalstation löste schwere Entzugserscheinungen aus. So sehr schien sie sich "an die Enthemmung der Vitalexpressivität von Intensivpatienten gewöhnt zu haben, daß sie Patienten nicht mehr ertragen konnte, die hinsichtlich der Expressivität ihres Lebens mehr Zurückhaltung üben (dürfen!) - sie könnten tot sein".

CHRISTIAN GEYER

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Gesa Lindemann hat sich als Soziologin in die Intensivstation begeben, um der sozialen Konstruktion dessen, was ein Patient, aber auch - spezfisch medizinischer - dessen, was Diagnose ist, was Therapie und wie sich das eine zum anderen verhält, nachzuforschen. Zwei Punkte, an denen die Kontingenz der Behandlung, an der meist das Leben hängt, deutlich wird, hat Lindemann herausgegriffen: die Kommunikation zwischen dem Personal, die streng hierarchisch verläuft (was heißt, dass Fehler meist nur von oben nach unten angesprochen werden), und eben das Verhältnis von Diagnose und Therapie. Oftmals, so hat sie festgestellt, ergibt sich die Diagnose erst aus der Wirksamkeit (oder, Pech gehabt, Wirkungslosigkeit) der Therapie, wird also nachträglich erst fest-, wenn nicht hergestellt. Der Rezensent Christian Geyer ist spürbar fasziniert von Lindemanns Studie, das merkt man seiner Nachkonstruktion der Argumente an, er lobt sie denn auch als "in ihrer empirischen Sättigung und theoretischen Durchdringung beeindruckend".

© Perlentaucher Medien GmbH