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Stefan Andriopoulos bezieht das "Schreckgespenst des hypnotischen Verbrechens" auf eine weitgehend unbekannte rechtswissenschaftliche Debatte über Körperschaften und juristische Personen. In deren Zentrum stehen unsichtbare, aber reale "Lebewesen", die durch ihre "besessenen" Organe Verbrechen ausführen können.
Die soziosomatische Kopplung menschlicher Körper und ungreifbarer Körperschaften wird auch in Herrmann Brochs 'Die Schlafwandler' und Kafkas 'Der Proceß' und 'Das Schloß' beschrieben. Aus einer mediengeschichtlichen Perspektive werden u. a. Robert Wienes 'Das Cabinet des Dr.
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Produktbeschreibung
Stefan Andriopoulos bezieht das "Schreckgespenst des hypnotischen Verbrechens" auf eine weitgehend unbekannte rechtswissenschaftliche Debatte über Körperschaften und juristische Personen. In deren Zentrum stehen unsichtbare, aber reale "Lebewesen", die durch ihre "besessenen" Organe Verbrechen ausführen können.

Die soziosomatische Kopplung menschlicher Körper und ungreifbarer Körperschaften wird auch in Herrmann Brochs 'Die Schlafwandler' und Kafkas 'Der Proceß' und 'Das Schloß' beschrieben. Aus einer mediengeschichtlichen Perspektive werden u. a. Robert Wienes 'Das Cabinet des Dr. Caligari' und Fritz Langs 'Dr. Mabuse', der Spieler mit zeitgenössischen, medizinischen und neurologischen Repräsentationen der "ungeheuren Suggestivkraft" des Kinos verknüpft. Besessene Körper zeigt damit, wie die Literaturwissenschaft in produktiver Weise zur Leitdisziplin der sich neu formierenden Kultur- und Medienwissenschaften werden kann.
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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000

Körper im Cabinet
Die Erfindung von Hypnose und
Hysterie in den Zwanzigern
Zu den eher unangenehmen Erfahrungen des Daseins gehört, dass unser Ich nicht nur einer ist, sondern viele. Viele, die sich häufig gar nicht kennen, sich nie erlebt haben, die sich weniger wie Freunde denn wie Feinde zueinander verhalten. Das Bewusstsein aber, eine geradezu bemitleidenswerte Kreatur, schwimmt in diesem Gewimmel hilflos umher und geht immer wieder unter. Was im letzteren Fall geschieht, das bleibt dem Individuum meist ein unlösbares Rätsel. Es ist dies eine beunruhigende Gefahr, in der der Körper nicht mehr dem eigenen Willen unterworfen scheint und vielleicht sogar für dämonische Einflüsterungen und Verführungen offen ist. Diese von Willen und Bewusstsein abgekoppelten Erfahrungen sind beunruhigend, vor allem fürs moderne Individuum, das sich seiner Vernunft und seines Wollens gern völlig sicher wäre. Deshalb werden solche Phänomene der Entpersönlichung entweder verdrängt oder mit aller Kraft wissenschaftlich erklärt.
Stefan Andriopoulos beschäftigt sich in seiner vor zwei Jahren an der Universität Hamburg eingereichten Doktorarbeit Besessene Körper mit einem besonders beunruhigenden Fall solcher Entpersönlichungen – mit der Debatte, ob durch Hypnose ein Mensch zu einem Kapitalverbrechen verleitet werden kann. Dieser Diskurs wurde unter großer öffentlicher Anteilnahme im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in einer Reihe von Disziplinen geführt, die in einen Topf zu werfen man sich eher scheuen möchte. Doch Stefan Andriopoulos zeigt detailliert, wie sich Jura, Medizin, Kino, Dramen- und Romanproduktion um das eine Thema ranken, und es dabei zu einem geradezu verblüffenden Austausch nicht nur der Meinungen, sondern auch der Methoden kommt. So ergibt sich ein roter Faden, der Maupassants Besessenheitsstory Le Horla (1887) in engste Beziehung setzt zu Gierkes im gleichen Jahr erschienener Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, zu Charcots im Vorjahr publizierten Neuen Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems, Breuer/Freuds Studien über Hysterie (1895), Hofmannsthals Elektra (1903), Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1919), Langs Dr. Mabuse, der Spieler (1922) bis hin zu Kafkas Fragment gebliebenen Romanen Das Schloß (1922) und Der Proceß (1914/15).
Möglich wird dieser interdisziplinäre Ansatz, weil Andriopoulos – im Sinne des nun auch an deutsche Hochschulen aus den USA herübergeschwappten New Historicism – jeden dieser Texte als Literatur liest. Ein kaum überraschender Zugriff, der durch seine demokratisch gleichmacherische Methode (Hoch-)Kultur als ein zutiefst in ihrer Zeit verstricktes Phänomen enttarnt. Doch genauso deutlich wird ein fundamentaler Gegensatz zwischen Kunst und Wissenschaft. Während letztere auf Eindeutiges („Kann ein Mensch durch Hypnose zum Mörder werden?”) dringt, nimmt erstere die Dinge gelassener, mehrdeutiger. Bestes Beispiel dafür ist Wienes Caligari, wo völlig unklar bleibt, wer denn nun wahnsinnig ist. „Die Unentscheidbarkeit zwischen Binnenhandlung und Rahmen ist keineswegs jene Verherrlichung autoritärer Gewalt, die ein ursprünglich subversives oder ,kritisches‘ Drehbuch in eine ,konformistische‘ Affirmation totalitärer Macht transformierte, als die sie von Siegfried Kracauer interpretiert wurde. ”
Andriopoulos schreibt – hoffentlich nur dissertationsbedingt – einen leicht professoral umständlichen Stil. Schwerer fällt ins Gewicht, dass die Entgrenzung, die der Autor betreibt, die Untersuchung eines Sujets in verschiedenen Disziplinen, sich nicht auch auf die Methode erstreckt. New Historicism hin oder her – letztlich wird dabei ein streng immanenter Ansatz gewahrt, der ein Phänomen nur aus dem ihm eigenen Umfeld begreifen will, dabei aber vernachlässigt, dass der Forscher selbst einer anderen Zeit angehört. Allein die Diskussion des „Borbecker Knabenmords” von 1913 – unter dem Eindruck eines Western und eines Märchenfilms ermordete ein sechzehnjähriger Knecht den vierjährigen Sohn seines Chefs – wirft Fragen auf, die weit über eine rein historische Abhandlung hinausgehen. Doch hier schreckt der Autor vor der letzten Konsequenz zurück, hier wird seine wissenschaftlich keusche Zurückhaltung zur Crux – und der Leser hofft zuversichtlich auf eine Fortsetzung jenseits akademischer Beschränkung.
REINHARD J. BREMBECK
STEFAN ANDRIOPOULOS: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos. Fink Verlag, München 2000. 207 Seiten, 48 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Stefan Andriopoulos untersucht das Phänomen der Hypnose und der mit ihm beschäftigten Diskurse am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts. Methodisch ist er, so der Rezensent Reinhard J. Brembeck, dem New Historicism verpflichtet, stilistisch leider dem Genre der Dissertation ("leicht professoral umständlich"). "Jura, Medizin, Kino, Dramen- und Romanproduktion" kommen in den Blick, gelesen werden die Texte allesamt, so Brembeck, "als Literatur". Problematisch sei vor allem das Verharren des Buches in der immanenten Interpretation. Bezüge zur Gegenwart, bemängelt Brembeck, werden nicht hergestellt.

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