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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

Kräftiger Hände Arbeit
Julia Francks "Liebediener" auf Abwegen / Von Julia Encke

Die Räder der Straßenbahnlinie kreischen in der Kurve, so dass der dumpfe Aufprall kaum zu hören ist. Nicht einmal der Fahrer des roten Ford scheint die junge Frau bemerkt zu haben, die direkt vor ihm die Straße überquert und im selben Moment vom Bug der Straßenbahn mitgerissen und verdeckt wird. Oder sieht er sie und fährt einfach weiter? Zu spät ist es für Wiederbelebungsversuche. Der unter Schock stehende Straßenbahnfahrer erinnert sich an nichts. Und Beyla, die im Augenblick des Unfalls aus der Haustür tritt, ist einzige Beobachterin und geheime Zeugin. Sie kennt die Schuhe der Toten. Es sind ihre eigenen, die sie erst gestern der Nachbarin geliehen hat. Charlotte trug sonst nie so hohe Absätze.

Julia Franck lässt ihren Roman "Liebediener" mit einem Unfall beginnen. Er ist der blinde Fleck, um den sich die ganze Fiktion drehen wird, ein nicht bis ins Letzte zu rekonstruierender Augenblick, uneinholbar und rätselhaft. Er markiert den Beginn einer kriminalistischen Spurensuche. Denn schon auf Charlottes Beerdigung glaubt die Heldin Beyla, unter den Gästen den Fahrer des roten Autos wiederzuerkennen. Auf den ersten Blick scheint er längere und dunklere Haare zu haben. Er mag ihr auch bekannt vorkommen, weil sie immerzu zu ihm hinübersehen muss (und er zu ihr) und die bloße Wiederholung daraus eine Erinnerung macht. Dennoch stellen sich Misstrauen und Skepsis ein, verzerren die eben noch arglos anmutende Erzählstimme. Jedes entlegene Detail wird Beyla zum Indiz. Als sich herausstellt, dass der Fremde in ihrem Haus wohnt und aus seinem Fenster jenes Klavierspiel tönt, das sich sirenengleich allnächtlich in ihr Ohr einnistet, wird aus der Detektivin eine Liebende. Das andere Geschlecht ist bei Julia Franck das Rätsel des Romans.

Frauen waren immer Rätsel. "Der Mann ist leicht zu erforschen, die Frau verrät ihr Geheimnis nicht", hieß es schon vor zweihundert Jahren. Und ein halbes Jahrhundert später zeichneten die Brüder Goncourt in ihrem Tagebuch noch das Porträt einer Schönheit, die nicht nur über den berühmten Rätselblick gebot, sondern auch ihren Mund zum gefährlichen Doppel des Mona-Lisa-Lächelns formte. Natürlich ist das inzwischen längst anders. Auch das weibliche Geschlecht will seinen homme fatal und feilt am Mythos einer männlich gewordenen Sphinx. Die Rätselgeschichte, die die 1970 in Berlin geborene Autorin in "Liebediener" erzählt, hat dann allerdings verblüffende Ähnlichkeit mit genau jenem Fernsehfilm, den man - müde zwischen RTL und Pro 7 hin und her zappend - neulich noch am Bildschirm mitverfolgte. Eine Existenz als Callboy scheint Ende der neunziger Jahre das letzte Geheimnis zu sein, das dem Mann geblieben ist.

Beyla verzehrt sich vor Eifersucht. Pausenlos klingelt das Telefon des Geliebten, das Albert nicht abheben will, obwohl sie ihn später von ihrem Küchenfenster aus stundenlang mit gedämpfter Stimme sprechen hört; auf der Straße sieht sie, wie ihm Passantinnen komplizenhafte Blicke zuwerfen; und als sie in einem Café zahlen wollen, legt er Wert darauf, einen mit einer Telefonnummer versehenen Geldschein zurückzubehalten. Im Bett erzählt er erotische Geschichten. Eine todkranke Cousine wird darin beschlafen, ein gehbehindertes Mädchen zum ersten Sex verführt: "Seine Geschichte hatte mir Spaß gemacht", kommentierte die Erzählerin zu Beginn noch fröhlich. Als die auktoriale Erotikprosa dann in den Bericht eines Icherzählers kippt, wird sie hellhörig und realisiert spät, was der schöne Titel von Anfang an verriet. Albert ist "Liebediener". "Meine kräftigen Hände wollen Dich verwöhnen", heißt es auf seiner Karte, "Spiel und Ernst jetzt gleich, ruf mich an, Du und ich."

Wirklich spannend ist das nicht. Selbst Beylas Spionage-Techniken (da wäre einiges zu erfahren gewesen) beschränken sich auf das übliche Repertoire weiblicher List. Womöglich bliebe "Liebediener" ein Buch unter anderen, wäre da nicht - jenseits der Callboy-Geschichte - ein anderer Erzählstrang, der aus einem Doppelgängerphantasma das subtile Porträt einer jungen Frau hervorzubringen vermag. Nach dem Unfall der Nachbarin nämlich schenkt Charlottes alte Tante Beyla den Schlüssel zur Wohnung der Toten. Sie solle ihre Kellerwohnung aufgeben und nach oben ziehen, lautet der Vorschlag. Sie selbst, die alte Frau, könne mit dem Wohnraum und all den Sachen doch nichts anfangen. Widerstrebend tritt Beyla das seltsame Erbe an.

Obwohl sich die Erzählerin der hinterlassenen Rolle annimmt, die Wohnung der Verstorbenen und den Liebhaber übernimmt, quält sie der Distanzierungswille, der sie die intimen Spuren der Abwesenden löschen, Gerüche tilgen und persönliche Gegenstände entsorgen lässt. Die Unfallszene vergisst sie dabei nicht. Beyla sucht so sehr nach der Geschichte der Toten, dass sie den Blick für die eigene Realität verliert. In diesem Sinne ist sie blind vor Liebe und hat kein wirkliches Gespür für die doch so offensichtliche Liebedienerei des neuen Freundes.

Es mag plakativ wirken, wenn Julia Franck die Geschichte der Täuschung und Enttäuschung metaphorisch dann auch noch in die Welt des Zirkus transferieren, die Protagonistin als Zirkusclown arbeiten und also mit Rampenlicht, Masken und zerbröselnder Schminke hadern lassen muss. Eine therapieähnliche Unfall-Choreographie jedenfalls wäre nicht nötig gewesen. Viel zu aufdringlich sind solche Erzählmaßnahmen angesichts des sonst verhaltenen und poetischen Erzähltons; angesichts charmanter Selbstkommentare auch ("Ich bin doch nicht blöd"), in denen sich die Erzählerin immer wieder zurückzunehmen weiß: als eindringliche Erzählstimme einer einsamen jungen Frau.

Julia Franck: "Liebediener". Roman. DuMont Verlag, Köln 1999. 237 Seiten, geb., 36,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Und noch ein Berlin-Roman. Michael Bauer griff zunächst nur zögernd danach, aber dann entdeckte er "womöglich DIE Liebesgeschichte der neunziger Jahre". Fasziniert berichtet er darüber, wie die junge Autorin in kühler Sprache und rein aus der Perspektive der Heldin geschrieben scheinbar realistische Personenkonstellationen entwirft, die aber irgendwie doch unwirklich wirken. Franck sei eine Meisterin der Abstraktion, und wie schon in ihrem ersten Buch "Der neue Koch" schaffe sie es, das Ende auf beunruhigende Weise offen zu halten.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Berliner Jungautoren haben derzeit Hochkonjunktur. Julia Franck ist jung und lebt in Berlin. Ach, hätte sie doch ein schlechtes oder wenig-stens mittelmäßiges Buch vorgelegt, man könnte gegen den Trend schreiben. Aber 'Liebediener' ist womöglich die Liebesgeschichte der neunziger Jahre, auf alle Fälle vermittelt die Autorin an einzigartigen Erzählfiguren das Lebensgefühl einer Generation [...] Julia Franck ist eine Meisterin psychologischer Abstraktion." Michael Bauer in der 'Süddeutschen Zeitung'

"Man kann ja niemanden zu seinem Glück zwingen, aber wenn man Poesie liebt und Charakter, dann sollte man einfach Julia Franck lesen." Ingo Schulze

"Seit Uwe Johnson hat es im Deutschsprachigen keine annähernd so nachhallende Literatur der Mutmaßungen mehr gegeben [...] Eine sprachlich virtuos inszenierte Form der Wahrheitsfindung." Ulrich Ja-netzki in 'Die Woche'

"Es dürfte eine der ungewöhnlichsten Liebesgeschichten sein, die in jüngerer Zeit geschrieben wurden. Und es dürfte kaum eine jüngere Autorin gegeben haben, die eine solche Liebesgeschichte geschrieben hat." Augsburger Allgemeine

"Julia Franck gehört zu den intelligentesten, begabtesten und eigensin-nigsten Autorinnen, die seit einiger Zeit wieder die deutsche Gegen-wartsliteratur bereichern, sie besitzt eine sichere, poetische Sprache und eine fast kühle Abgründigkeit, die einen lange beschäftigt. Es lohnt sich." Martin Hielscher im 'Kölner Stadt-Anzeiger'

"Es sind ihre Texte, die von den Feuilletons hochgelobte Prosa der Franck, die nicht nur Kritiker und Lektoren, sondern vor allem die Le-ser in den Bann zogen und ziehen. Mit 'Liebediener' hat Julia Franck eine hocherotische, zutiefst melancholische Liebesgeschichte voller suggestiver Momente geschrieben [...] Ihre Kunst liegt in spannend und raffiniert erzählten Geschichten ... einfach beste Literatur!" Michael Stitz im 'Flensburger Tageblatt'

"Zaghaft und unprätentiös beginnt diese Liebesgeschichte, die offenbar nur darauf gewartet hat, endlich erzählt zu werden." Isa Hoffinger in der 'Süddeutschen Zeitung'

"Ein anspruchsvolles Buch über alle Facetten der Liebe, das außerdem gut lesbar ist." Martina Hinz im 'Focus'
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"Man kann ja niemanden zu seinem Glück zwingen, aber wenn man Poesie liebt und Charakter, dann sollte man einfach Julia Franck lesen." (Ingo Schulze)