Marktplatzangebote
15 Angebote ab € 1,80 €
Produktdetails
  • Verlag: Residenz
  • Originaltitel: The Vertificationist
  • Seitenzahl: 207
  • Abmessung: 210mm x 133mm x 25mm
  • Gewicht: 363g
  • ISBN-13: 9783701712649
  • ISBN-10: 3701712646
  • Artikelnr.: 09865727
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001

Die Blaubeer-Therapie
Ganz schön bedient: Donald Antrims amerikanischer Tagtraum / Von Richard Kämmerlings

Was ist ein Pfannkuchen? Gebackener Teig, mit Zucker und Butter bedeckt. Gewürze werden hinzugefügt. Er ist ein Nahrungsmittel. Doch sehnen wir uns nach ihm nicht als Verpflegung. Nein, der Pfannkuchen ist ein kindliches Vergnügen; in Sirup gebadet, unter Eiscreme begraben, symbolisiert der Pfannkuchen unsere Flucht aus der Respektabilität, er symbolisiert Essen als eine Form infantilen Spiels". Kann wer solche Reden statt der Gabel schwingt, wirklich Hunger haben? Als der Psychoanalytiker Thomas seinen Wortsalat von der Gespächsbeilage zur Hauptsache erklärt, gehen die anderen Gäste des Pancake House schon einmal in Deckung. Denn nach seinen Geistesblitzen droht Thomas auch einige Rosinen-Zimt-Toasts vom Teller seines Freundes Bernhardt auf weiter entfernt sitzende Kollegen zu schleudern. Dort wo der Wunsch Vater des Gedankens ist, ist die Rückkehr zu den Müttern nicht weit.

Dabei war es doch Thomas' Idee gewesen, die überschaubare Schar der Lehranalytiker seines neuenglischen Kleinstadt-Colleges zu einem zwanglosen Beisammensein in das neueröffnete Pancake House einzuladen. Und alle sind gekommen: Manuel Escobar, der bekannte Kleinianer, den Thomas verdächtigt, ein Verhältnis mit seiner Ehefrau Jane zu haben oder jedenfalls anfangen zu wollen. Maria, die Kollegin mittleren Alters, mit der Thomas sich einst regelmäßig während der Ausbildungszeit zu einem "intensiven, gesetzeswidrigen Blowjob" ins Manuskriptarchiv des Instituts zurückzog. Richard Bernhardt, Gruppentherapeut und erotischer Rivale von gewaltiger Körperfülle, den Thomas für Marias aktuellen Liebhaber hält. Oder Sherwin Lang, ein Gynäkologe und Psychiater, "dessen Beziehung zum Alkohol seinen Beziehungen zu seinen Analysanden vielleicht, vielleicht auch nicht, im Wege stand". Doch was als harmloser Betriebsausflug gedacht war, führt Thomas in eine seelische Krise, bei der die versuchte Toastattacke nur ein Frühstadium war. Denn nach dem mütterliche Zuwendung symbolisierenden Nahrungsmittel erhebt sich Thomas selbst in die Lüfte und zieht für den Rest des Abends und des Romans seine Kreise unter der Decke. Wie bitte?

Donald Antrim zählt zu der Generation amerikanischer Schriftsteller um die Vierzig, die in Deutschland gerade erst entdeckt wird. Zu ihr gehören David Foster Wallace oder Jonathan Franzen, deren Hauptwerke alle noch unübersetzt sind, oder der durch die kongeniale Verfilmung seines Romans "Der Eissturm" stärker beachtete Rick Moody. Diese Autoren eint kein Gruppenbewußtsein, aber doch vielleicht eine ähnliche Haltung gegenüber der amerikanischen Alltagswelt, die ihr Thema ist. Um einer Wirklichkeit beizukommen, die sich in ihren medialen Inszenierungen selbst entlarvt, bedarf es einer Form der Ironie, die ihren Gegenstand nicht aufhebt, sondern als Resultat von Konstruktionen und Deutungen zeigt. In seinem ersten Roman "Die Beschießung des botanischen Gartens" von 1993, der auf Deutsch in der Zürcher "Edition Epoca" erschienen ist, lieferte Antrim eine boshafte Satire auf die amerikanische Kommunitarismus-Bewegung, die Selbstverwaltung und Bürgersinn auf ihre Fahnen geschrieben hat. Antrim zeichnet das apokalyptische Gemälde einer Stadt, in der öffentliche Grünflächen zum Schlachtfeld rivalisierender Clans geworden sind und ein verrückt gewordener Bürgermeister in Selbstjustiz gevierteilt wird. "Die Beschießung" ist der erste Teil einer Trilogie über das amerikanische Kleinbürgertum, zu der auch der nun erschienene Band gehört (Antrims zweiter Roman "The Hundred Brothers" ist noch nicht übersetzt).

In der "Beschießung" ist der Erzähler ein Geschichtslehrer, der angesichts des zusammengebrochenen öffentlichen Schulwesens in seinem Haus eine Privatschule eröffnet, sich im Verlauf der Handlung aber nach und nach als ein gemeingefährlicher Irrer entpuppt, der außer theoretischen und praktischen Übungen zu Foltermethoden der Inquisition nichts auf dem Lehrplan hat. Der Leser des neuen Romans muß ebenfalls auf eine höchst unzuverlässige Erzählstimme vertrauen, denn Thomas unterwirft das peinliche Geschehen seiner professionellen Deutungsmaschine und folgt wie bei einer psychoanalytischen Sitzung dem freien Fluß der Assoziationen. So ist der kalauernde deutsche Titel nicht nur mißglückt, sondern irreführend. Das Original "The Verificationist" verweist auf das philosophische Problem, welche Kriterien für die Feststellung einer außerpsychischen Wirklichkeit zur Verfügung stehen: Der Leser, der das Geschehen durch die Hornbrille des Analytikers sieht, weiß eben nichts vom wahren Geschmack der nicht nur den Hunger befriedigenden Pfannkuchen.

Großartig gleich zu Beginn die Szene, als Thomas, hin- und hergerissen zwischen Blaubeer-Pancakes und Spiegeleiern, in eine Reflexion über den bei jeder Wahl unvermeidlichen Verzicht abgleitet. Er stellt einen Vergleich an mit der Diskussion unter Eheleuten über die Frage, in welcher Farbe ein leerstehendes Zimmer "als Stätte unausgesprochener Gedanken" zu streichen ist: "Die Frau, um die es geht (Jane), behauptet, daß ihr jede Farbe recht sei. Ihr (Janes) Mann (ich) vermutet (vermute) insgeheim, daß das nicht der Fall ist. Er (ich) glaubt (glaube), sie (Jane) möchte ein kräftiges, maskulines Blau, weil er (ich) das Gefühl hat (habe), daß sie (Jane) insgeheim auf ein Baby hofft (unseres)". Wenn Thomas schließlich die Kellnerin verzweifelt anbrüllt, bedarf es des gesamten Gespürs der professionellen Vertreter der talking cure, um die Krise vorerst aufzuschieben.

Als Bernhardt schließlich durch einen festen Klammergriff verhindert, daß Thomas seinem Verlangen zur Pfannkuchenattacke nachgeben kann, hat dieser einen halluzinatorischen Anfall und erlebt den weiteren Verlauf des Abends schwebend unter der Decke. Wie Thomas von dieser hohen Warte aus sämtliche Sexual- und Machtbeziehungen seiner Kollegen analysiert, die hübsche Kellnerin Rebecca dazu bringt, ihren Dienst zu vergessen und zu ihm hoch zu schweben, wie beide schließlich gemeinsam, und immer gehalten von der übermächtigen Vaterfigur Bernhardt durch die Decke und zu einem grotesken Tête à tête auf ein historisches Schlachtfeld fliegen, das wiederum Erinnerungen an ein peinliches Versagen weckt - all das, anamnetisch zu Protokoll gegeben und zugleich im Sinne der Thomas leitenden "Self/Other-Konflikttheorie" durch die Mangel genommen, verdichtet sich zur umwerfend komischen Detailstudie einer Midlife-Crisis, deren Flugkurve man nicht nachzeichnen kann, ohne das subtile Gewebe aus Erinnerungen, Wunschträumen und Analytikersatire zu zerstören. Zuletzt freilich muß gerade im völligen Zusammenbruch das hier aufgeklärt absolutistisch regierende Lustprinzip abdanken: Die abwesende Ehefrau Jane nimmt wieder die Mutterrolle ein.

Antrim hat einen intelligenten und witzigen Roman über den herrschenden terreur des Imaginären nach der sexuellen Revolution geschrieben, ein Buch über den amerikanischen Tagtraum und die verzweifelten Versuche der Vernunft, ihre Herrschaft zu behaupten. "Erlauben Sie mir dennoch zu berichten, daß unsere allererste Analytiker-Pfannkuchen-Party ein monumentaler Erfolg war" - so kann nur ein Profi sprechen, der weiß, daß keine Therapie je ein Ende findet.

Donald Antrim: "Ein Ego kommt selten allein". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitte Heinrich. Residenz Verlag, Salzburg 2001. 208 S., geb., 39,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Einen intelligenten und witzigen Roman" hat nach Ansicht von Richard Kämmerlings der Amerikaner Donald Antrim geschrieben. Bevor er den Roman näher beschreibt, wird erst mal der Autor selbst ein geordnet. Der nämlich zähle zu jenen amerikanischen Autoren "um die vierzig", die in Deutschland gerade erst entdeckt würden (u.a. David Foster Wallace und Jonathan Franzen) deren Merkmal eine besondere Haltung gegenüber der amerikanischen Alltagswelt und ihren medialen Inszenierungen sei. Wie das im Fall dieses Buches aussieht, spielt der Rezensent an der Geschichte des Psychoanalytikers Thomas durch, aus der Kämmerlings auch die verzweifelten Versuche der Vernunft heraus lesen kann, ihre Herrschaft im amerikanischen Alltagsirrsinn zu behaupten. Allerdings scheint der Leser dieses Buches ein gehöriges Maß Vergnügen an freudianischen und anderen Dechiffriermaßnahmen mitbringen zu müssen.

© Perlentaucher Medien GmbH