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Produktdetails
  • Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
  • Seitenzahl: 89
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 208g
  • ISBN-13: 9783627000691
  • ISBN-10: 3627000692
  • Artikelnr.: 24471997
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2000

Schwester mit Bruder
Ana María del Río über Inzest Von Martin Grzimek

Viele, vor allem junge lateinamerikanische Autoren sind erst dadurch bekannt und publiziert worden, dass sie einen der jährlich in ihrem Land ausgeschriebenen literarischen Wettbewerbe gewonnen haben. Fast immer muss dabei der Text anonym eingereicht werden, damit Vetternwirtschaft ausgeschlossen ist. Als 1984 die damals sechsunddreißigjährige Chilenin Ana María del Río ihre Erzählung "Carmenoxid" zu schreiben begann, um sich damit für den renommierten "Premio María Luisa Bompal" zu bewerben, war sie in der Literaturszene Santiagos weitgehend unbekannt. Aber sie wusste, dass das Thema ihrer Erzählung - die Geschichte eines jugendlichen Inzests in einer maroden Familie der chilenischen Bourgeoisie in den fünfziger Jahren - heikel war, insbesondere wenn es aus feministischer Sicht heraus geschrieben worden wäre. Mitte der achtziger Jahre, also zu Zeiten Pinochets, herrschte der "machismo" in den Köpfen der Leute. Daher entschied sie sich, ihre Geschichte aus der Erinnerung des männlichen Protagonisten zu erzählen, obwohl es um das kurze und unglückliche Leben seiner Halbschwester Carmen geht. Die männliche Erzählperspektive gelang ihr so überzeugend, dass die Mitglieder der Jury, nachdem sie sich für den Text "Carmenoxid" entschieden hatten, erstaunt waren, auf den Namen einer Autorin zu  stoßen.

Vordergründig ist die Geschichte schnell umrissen: In einem herrschaftlichen Haus im Zentrum Santiagos wachsen Carmen und ihr Halbbruder unter der Zucht und den Launen ihrer Tante und ihrer Großmutter auf. Abgesehen von der erzählenden Stimme spielen Männer keine Rolle. Da gibt es zwar Tante Malvas Mann Don Pedro Bugeaut, einen französischen Physiker, aber der hält das herrische Verhalten seiner Frau nicht aus. Er machte, wie es lakonisch heißt, "eines Tages einen Spaziergang in den Parque Forestal und kam nicht wieder zurück". Auf dem Dachboden hat man den verrückten Onkel Ascanio versteckt, der sich hinter Stapeln von Eierkartons verschanzt, für die beiden Kinder jedoch eine Zuflucht vor der martialischen Strenge der beiden Frauen.

Während diese beiden männlichen Figuren, die dem Idealbild des "Macho" widersprechen, ausgesprochen liebevoll gezeichnet sind, gestattet Ana María del Río dem Vater des Ich-Erzählers, einem Offizier, nur einen einzigen, wenn auch vom Bild beeindruckend präzisen Abschnitt: "An einem jener Tage kam mein Vater zu Besuch. Er kam auf dem feurigsten Pferd der Garnison geritten. So feurig, dass er nicht absteigen konnte und uns sein Mitbringsel von oben zuwarf, eine Schachtel kandierter Papayas. ,Teilt sie euch', sagte er und verschwand unter einer Wolke vager Fragen zu unserer Gesundheit." Dann sind sie wieder allein, Carmen und ihr Halbbruder, allein mit Großmutter und Tante Malva und deren verzogenem Sohn Carlitos, "ihrem kleinen Genius, der einmal Präsident der Republik werden würde", allein in den dunklen Zimmern, deren Holzböden von Meche, dem Dienstmädchen, auf Hochglanz gebohnert werden.

Aus diesem Gefängnis gibt es für die beiden nur eine Flucht nach innen. Sie entdecken ihre Liebe zueinander, ihre jugendliche Sexualität, innerste Bedürfnisse der Freiheit, die von ihrer Umwelt negiert und verboten werden. Als die inzestuöse Beziehung entdeckt wird und Carmens geheime Tagebücher in die Hände der Tante fallen, ist das Urteil gefallen: Carmen wird isoliert und eingesperrt, soll durch priesterliche "Fürsorge" geheilt werden, aber sie verweigert von da an jedes Essen und geht "an ihrer Schuld" elend zugrunde. Ihr Halbbruder erinnert sich an das alles, als er längst erwachsen ist und entgegen seiner bourgeoisen Herkunft als Büroangestellter lebt. Allerdings schreibt er seine und Carmens Geschichte nieder, als wäre sie erst gestern geschehen, erinnert sich an die heimlichen Treffen im nahe gelegenen  Kino Alcázar, an die ersten Berührungen "im Dunkel der deutschen Wochenschauen" oder an Carmens weiches Bett mit "dieser Bettdecke mit den weißen Tupfen, unter der wir verschwanden und uns zwischen riesigen Kissen stundenlang kitzelten".

Inzest ist in dieser sprachlich dichten Geschichte eine Folge der Isolation, der Verleugnung von gesellschaftlicher Gemeinschaft und Anteilnahme. Und zugleich steht daneben der Blick auf die Unbefangenheit jugendlicher Sexualität, die wie ein Korrektiv die Normen der Gesellschaft bloßstellt. Auch in ihren nachfolgenden Erzählungen und Romanen ist Ana María del Río dabeigeblieben, unbequeme Fragen zu stellen, nun aus weiblicher Erzählperspektive, und wir können nur hoffen, dass auch diese Werke bald in deutscher Übersetzung vorliegen.

Ana María del Río: "Carmenoxid". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Thomas Brovot. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1999. 89 S., geb., 24,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Obwohl Martin Grzimek in seiner Rezension mit einem Urteil sehr zurückhaltend ist, so merkt man dennoch sehr deutlich, welchen Eindruck der Roman auf ihn gemacht hat. Dies liegt nicht nur daran, dass die Autorin den Inzest zwischen zwei Halbgeschwistern als "Folge der Isolation, der Verleugnung von gesellschaftlicher Anteilnahme" schildert, sondern vor allem auch in der Ausdrucksfähigkeit der Autorin. Als Beispiel dafür zitiert Grzimek eine Szene, in der der Vater des Erzählers, ein Offizier, auf einem Pferd zu Besuch herbeigeritten kommt, dieses Pferd allerdings so "feurig" ist, dass er nicht einmal absteigen kann, und er daher lediglich ein paar Süßigkeiten abwirft, ein paar Fragen zur Befindlichkeit der Kinder murmelt und sich sogleich wieder aus dem Staub macht. In Szenen wie dieser scheint der Rezensent eine besondere Stärke der Autorin auszumachen, von der er gerne noch weitere Werke in deutscher Sprache lesen würde.

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