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Das Gedächtnis ist es, was den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Genauer muß man sagen: Es ist das autobiographische Gedächtnis, das den Menschen zum Menschen macht. Es handelt sich um das Vermögen, »Ich« sagen zu können und damit eine einzigartige Person zu meinen, die eine besondere Lebensgeschichte, eine bewußte Gegenwart und eine erwartbare Zukunft hat.
Das Buch beschäftigt sich in interdisziplinärer Sicht auf der Basis neuester Forschungsergebnisse mit der Entwicklung des autobiographischen Gedächtnissystems, die erst mit dem Erwachsenenalter vollständig abgeschlossen ist.
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Produktbeschreibung
Das Gedächtnis ist es, was den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Genauer muß man sagen: Es ist das autobiographische Gedächtnis, das den Menschen zum Menschen macht. Es handelt sich um das Vermögen, »Ich« sagen zu können und damit eine einzigartige Person zu meinen, die eine besondere Lebensgeschichte, eine bewußte Gegenwart und eine erwartbare Zukunft hat.

Das Buch beschäftigt sich in interdisziplinärer Sicht auf der Basis neuester Forschungsergebnisse mit der Entwicklung des autobiographischen Gedächtnissystems, die erst mit dem Erwachsenenalter vollständig abgeschlossen ist. Seine Entstehung basiert auf einem komplexen Zusammenspiel hirnorganischer Reifungsvorgänge, sozialer Entwicklungsanreize und psychischer Entwicklungsschritte.

Weil das Gehirn und mit ihm das Gedächtnis sich selbst erst in der Auseinandersetzung mit seiner physischen und sozialen Umwelt ausbildet und strukturiert, ist die Gehirn- und Gedächtnisentwicklung prinzipiell ein biosozialer Prozeß; organische und psychosoziale Reifung sind in der menschlichen Entwicklung lediglich unterschiedliche Aspekte ein und desselben Vorgangs. Die Autoren zeigen, daß die unfruchtbaren Dualismen von Gehirn und Geist, Natur und Kultur in interdisziplinärer Forschungsarbeit überwunden werden können. Sie liefern zugleich einen aktuellen Überblick über die Entstehung des menschlichen Gedächtnisses und einen Einstieg in ein neues Feld der Gedächtnis- und Erinnerungs forschung.
Autorenporträt
Hans J. Markowitsch ist Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld. Er ist Autor oder Herausgeber von einem Dutzend Büchern und mehr als 400 Buch- und Zeitschriftenartikeln zu den Themen Gedächtnis und Gedächtnisstörungen sowie Wechselwirkungen zwischen Gedächtnis und Emotion. Harald Welzer ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und Forschungsprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Witten / Herdecke. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zu den Themen Erinnerung, Gedächtnis und Tradierung. ISBN3-608-94409-5
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2006

Frühlingserwachen - mit mir oder ohne mich?
Kein Ich, nirgends: Drei Bücher fragen, wie das Gefühl zustande kommt, ein Jemand zu sein

Wir haben keine Schwierigkeiten zu verstehen, was Menschen meinen, wenn sie "ich" sagen. Heikler wird es, wenn von ihrem "Ich" die Rede ist. Da kann es zu eher merkwürdig klingenden Fragen kommen. Im ersten Kapitel von Werner Siefers und Christian Webers Buch lauten sie so: "Was ist der harte Kern des Ich? Aus welchem Stoff besteht er? Und wo genau sitzt er?" Fragen, von denen die beiden Wissenschaftsredakteure der Zeitschrift "Focus" meinen, daß sie die nachdenklichen Menschen der westlichen Welt fast dreitausend Jahre lang umgetrieben hätten. Um sie zu beantworten, haben die beiden Autoren Wissenschaftler aus einer ganzen Reihe von Disziplinen befragt "und natürlich und vor allem die Neurowissenschaftler".

Die besondere Neigung zu den Neurowissenschaften errät man an der Formulierung der Fragen. Schließlich käme kein Entwicklungspsychologe, Soziologe oder Anthropologe auf die Idee, nach Stoff und Lokalisierung des "Ich" zu fragen. Aber die Hirnforschung wird mit Vorliebe bemüht, um "Illusionen" zu zerstören. Der Effekt ist gut erprobt, und die Antwort auf die Frage nach dem harten Kern ist leicht zu erraten: Es gibt keinen. Oder im Stil des Buches: Am Ende der "Reise zum Mittelpunkt des Menschen, zu unserem Selbst" stellt sich heraus: "kein Ich, nirgends". Was natürlich nur heißen soll, daß das "Ich" nicht irgendwo fertig und als fester Bezugspunkt vorzufinden ist, sondern sich als Form des bewußten Selbstbezugs herausbildet, die in ihren konkreten Vollzügen wandelbar, offen und nicht selten fragil ist. Das ist keine grundstürzende Einsicht, auch wenn Siefers und Weber sich nach Kräften bemühen, sie als solche hinzustellen.

Spuren im Gedächtnis

Läßt man diesen Hang zur effektvollen Inszenierung einmal beiseite, bleibt ein Streifzug durch Disziplinen, die sich auf unterschiedliche Weise mit den evolutionären, organischen, psychologischen und sozialen Dispositionen zur Herausbildung und Stabilisierung eines "Selbst" befassen. Auf eingängige Weise wird dabei von Methoden und Ergebnissen der einzelnen Forschungsrichtungen berichtet: von der evolutionären Anthropologie über Entwicklungspsychologie und Gedächtnisforschung bis zur Philosophie des Geistes.

Über Zusammenhang und Stellenwert dieser verschiedenen Perspektiven zerbrechen sich die Autoren nicht übermäßig den Kopf, und das ist gar nicht ohne Vorteil. Zum einen führt der Weg auf diese Weise über interessantes und vielfältiges Terrain, und zum anderen wird damit verhindert, daß die rhetorische Bevorzugung der Neurowissenschaft allzusehr auf die Darstellung durchschlägt. Denn zur Erklärung der Prozesse, die der Herausbildung eines "Ich" zugrunde liegen, können die Neurowissenschaften allein nicht sehr viel beibringen.

Man kann die Beziehung zwischen den Befunden der Hirnforscher und einem so hochstufigen Phänomen wie dem Selbstbezug eines "Ich" gut am Beispiel der Erforschung des Gedächtnisses ermessen. Sie bietet viele Aufschlüsse, von den evolutionär früh verankerten molekularbiologischen Mechanismen bis hin zum kreativen Umgang der Menschen mit Inhalten ihrer eigenen Lebensgeschichten. Einfache Formen des "Erinnerns" teilen wir mit Tieren, aber selbst Primaten fehlt das episodisch-autobiographische Gedächtnis: Es ermöglicht dem Subjekt allererst, sich in einem Raum-Zeit-Kontinuum zu situieren und auf eine eigene Vergangenheit und Zukunft Bezug zu nehmen. Ohne diese Form des Gedächtnisses käme unsere Praxis des "Ich"-Sagens nicht zustande.

Der Neurowissenschaftler Hans Markowitsch und der Sozialpsychologe Harald Welzer zeichnen in ihrem Buch "Das autobiographische Gedächtnis" die Entwicklungsschritte nach, die zu diesem Gedächtnis führen. Der evolutionäre Vorteil seiner phylogenetischen Herausbildung basiert auf der Möglichkeit, einfache Reiz-Reaktions-Schemata durch ein Handeln zu ersetzen, das auf bessere Gelegenheiten zur Umsetzung effizienter Problemlösungen warten kann. Möglich wird damit auch, Gedächtnisinhalte zu externalisieren - von einfachen Markierungen bis hin zu Sprache -, wodurch die noch viel effizienteren Mechanismen kultureller Weitergabe des Gelernten entstehen.

Ontogenetisch zeigt sich die enge Verflechtung des autobiographischen Gedächtnisses mit Formen sozialer Interaktion und der in sie eingebetteten Sprachentwicklung. Die Hirnforschung kann ein detailreiches Bild der für diese Entwicklungsschritte notwendigen Reifungsprozesse des Gehirns geben. Zumal die Ausformung des autobiographischen Gedächtnisses ein langer, bis in die Adoleszenz reichender Prozeß ist. Gleichzeitig machen die Autoren aber auch klar, daß die Hirnforschung durch ihre methodisch unumgehbare Fokussierung auf das einzelne Gehirn an eine harte disziplinäre Grenze stößt. Denn die Naturgeschichte des sich herausbildenden menschlichen Individuums (und seines Gehirns) ist von Beginn an eine der Interaktion mit anderen (und deren Gehirnen). Sie ist auch eine Geschichte der Wechselwirkung mit einer kulturell durchsetzten koevolutiven Umwelt: Natur- und Kulturgeschichte sind in diesem Prozeß nicht aufzutrennen, organische Reifungsvorgänge und psychische Entwicklung sind nicht von sozialer Interaktion und kulturellem Kontext loszulösen. Vor diesem Hintergrund wird die methodische Maxime der Autoren einsichtig, auf Konvergenzen der verschiedenen disziplinären Ansätzen der Gedächtnisforschung zu setzen. Diese Maxime klammert monistische Hintergrundannahmen der Neurowissenschaften ein. Obwohl Hirnforscher strikter Observanz vermutlich darauf hinweisen werden, daß zuletzt eben doch alles auf die sich selbst organisierende Synapsentätigkeit hinauslaufe, die gleichsam hinter dem Rücken des Subjekts ihre Konstitutionsarbeit leiste.

Veränderungen in den Mustern autobiographischer Selbstkonstitution hat der Soziologe Jean-Claude Kaufmann mit der "Erfindung des Ich" im Blick. Der Untertitel "Eine Theorie der Identität" klingt etwas gefährlich. Aber Kaufmann ist die unscharfe und inflationäre Verwendung des Begriffs "Identität" durchaus nicht entgangen. Ganz im Gegenteil, gerade diese inflationäre Omnipräsenz von "Identität" ist der Ausgangspunkt für seinen Versuch, den Begriff zu einem tauglichen Instrument soziologischer Analyse zu schärfen.

Personen im Balanceakt

Im Hintergrund steht Kaufmanns These, daß in den westlichen Gesellschaften im Zuge der zweiten Moderne die subjektive Arbeit an der biographischen Identität des eigenen Ich zum entscheidenden Faktor wurde. Doch diese historische Wende ändert nichts an der grundlegenden Einsicht, daß die Subjekte objektiv durch und durch sozial bestimmt sind. Beides auf folgerichtige Weise zusammenzubringen, das ist Kaufmanns Anliegen. Dieser Ansatz verlangt, die Vermittlung des "objektiv" Gegebenen mit dem "subjektiv" Konstruierten so konsequent festzuhalten, daß diese Entgegensetzung letztlich eingeklammert wird und sich trotzdem nicht in Beliebigkeit auflöst. Kaufmann bewältigt diesen Balanceakt auf recht überzeugende Weise, und die von ihm im Schlußteil entworfene Typologie von Identitätsprozessen zeigt, was sich daraus für die Analyse subjektiver Befindlichkeiten und ihrer Rolle in gesellschaftlichen Entwicklungen gewinnen läßt.

HELMUT MAYER

Werner Siefer/Christian Weber: "Ich". Wie wir uns selbst erfinden. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2006. 307 S., geb., 19,90 [Euro].

Hans J. Markowitsch/Harald Welzer: "Das autobiographische Gedächtnis". Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005. 301 S., geb., 29,50 [Euro].

Jean-Claude Kaufmann: "Die Erfindung des Ich". Eine Theorie der Identität. Aus dem Französischen von Anke Beck. UVK, Konstanz 2005. 334 S., br., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Und sie können es doch! Hier arbeiten Hirnforschung und Sozialwissenschaften Hand in Hand, verkündet der Rezensent Michael Pauen voller Freude über die "produktive Unruhe", die der Hirnforscher Hans J. Markowitsch und der Sozialpsychologe Harald Welzer bewerkstelligt haben. Gegenstand ihrer Arbeit ist "eine von mehreren Formen des Erinnerns": das "autobiografische Gedächtnis" - das praktischerweise und im Gegensatz zu den unlängst umkämpften Begriffen der Willensfreiheit und des Bewusstsein augenblicklich als Berührungspunkt zwischen Geist und Gehirn einleuchtet, wie der Rezensent bemerkt. Ausgehend von der Feststellung, dass das autobiografische Gedächtnis eine grundlegende Voraussetzung der menschlichen Lebensgestaltung darstellt, und in erhellender Synergie geistes- und neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, widmen sich die Autoren dem "Entstehungsprozess" dieser Fähigkeit, vom Säuglingsalter bis zur Ausreifung im vierten Lebensjahr. Dieses Buch, schwärmt der Rezensent, hat so viel mehr zu bieten als nur "die Befriedigung unserer Neugier"; es liefert auch "Ansätze für mögliche Strategien" im Umgang mit dieser dem Menschen vorbehaltenen Fähigkeit.

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