Brunners Lesart bewegt sich jenseits des alten Dualismus von Hermeneutik und Naturwissenschaft, der eigentlich nur in eine Sackgasse führen kann. Indem der Autor nachweist, daß sich Freuds interdisziplinär angelegtes Werk nicht auf eine Diskursdimension - die jeweils den "wahren Freud" für sich reklamiert - beschränkt, stößt er zu der Einsicht vor, daß die Verschmelzung von hermeneutischem und szientifischem Diskurs bei Freud ungewollt zu einem neuen Diskurstyp führt, in welchem es zentral um die Erringung, Verteilung und Gestaltung von Macht geht. Die von Freud benutzten Analogien und Metaphern der Seele - "Repräsentanzen", "Vertretung", "Regierung" etc. - zeigen, daß sich das Freudsche Denken ganz elementar in politischen Kategorien bewegt, nämlich in Kategorien von Macht und Ohnmacht, von Tradition und Emanzipation, von Freiheit und Unfreiheit, von Machthabern und Unterworfenen.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Keine Frage, so der Rezensent (Kürzel LL.), dass es im Werk von Sigmund Freud von politischen Metaphern wimmelt - eine andere Frage allerdings, ob man von da aus sinnvoller Weise zu einer politischen Lektüre Freuds gelangen kann. Dass es geht, beweist dieses Buch, meint LL., das nicht zuletzt in Zeiten allgemeinen "Freud-Bashings" mit seinem Ansinnen "Mut" beweise. Vier Teile hat der Band, im ersten fragt der Autor nach dem Verhältnis von Freuds früher Theorie zum politischen Kontext von Rassismus und Nationalismus, im zweiten untersucht er Freuds Anwendung der Diskurse der Politik auf die Seele, der dritte widmet sich der klinischen Praxis der Psychoanalyse und zuletzt geht es noch um die "ödipale Politik" bei Freud. Brunner zielt, so der Rezensent, mit seiner Analyse "ins Zentrum" von Freuds Theorie und erhofft sich eine Integration hermeneutischer und szientifischer Lesarten. Da ist sich der ansonsten ganz einverstandene Rezensent nicht sicher: Vielleicht doch ein "hermeneutischer Imperialismus zweiter Ordnung"?
© Perlentaucher Medien GmbH
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