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Die kommunistische Variante der Moderne
Die Oktoberrevolution katapultierte das rückständige Russland in ein neues Zeitalter. Die Sowjetunion begann als historisches Experiment, das mit der alten Gesellschaft, ihrer Kultur und ihren Traditionen vollkommen brach. Stefan Plaggenborg analysiert die wechselvolle Geschichte zwischen dem revolutionären Aufbruch 1917 und dem krisenhaften Zusammenbruch 1991 aus dem Blickwinkel der Moderne. Zweifellos hat die Sowjetunion die Moderne auf eigene Weise geprägt. Der Verlust von Millionen Menschenleben, die Beschleunigung der Zeit, die allgegenwärtige…mehr

Produktbeschreibung
Die kommunistische Variante der Moderne
Die Oktoberrevolution katapultierte das rückständige Russland in ein neues Zeitalter. Die Sowjetunion begann als historisches Experiment, das mit der alten Gesellschaft, ihrer Kultur und ihren Traditionen vollkommen brach. Stefan Plaggenborg analysiert die wechselvolle Geschichte zwischen dem revolutionären Aufbruch 1917 und dem krisenhaften Zusammenbruch 1991 aus dem Blickwinkel der Moderne. Zweifellos hat die Sowjetunion die Moderne auf eigene Weise geprägt. Der Verlust von Millionen Menschenleben, die Beschleunigung der Zeit, die allgegenwärtige Gewalt, die Herausbildung eines Maßnahmen- und Normen- ebenso wie eines Wohlfahrtsstaates sowie die Bestrebungen, ein Imperium zu errichten - diese Aspekte der sowjetischen Geschichte sind zugleich Aspekte der Geschichte der Moderne. Sie müssen in die historischen und theoretischen Auseinandersetzungen um die Moderne einbezogen werden, sonst bleibt das 20. Jahrhundert unverständlich - und die Modernetheorie auf einem Auge blind.
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Autorenporträt
Stefan Plaggenborg ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Marburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2006

Eine Gesellschaft setzt auf Gewalt
Stefan Plaggenborgs wichtige Untersuchung über den Weg der Sowjetunion in die Moderne

Von den drei Arten der Historie, die Nietzsche erörtert hat - der antiquarischen, der monumentalen und der kritischen -, ist es die letztere, der dieses Buch am nächsten kommt. Denn das, was es antreibt, ist die Erfahrung eines alle Dimensionen sprengenden Leidens und der Schock, den diese Erfahrung auslöst.

Gleich das erste Kapitel ist eine Bilanz des Schreckens. Der durch die Oktoberrevolution verursachte Bürgerkrieg kostete Rußland drei Millionen Menschenleben; die anschließende Hungersnot weitere fünf. Zwangskollektivierung und stalinistischer Terror forderten zwischen 1928 und 1941 acht Millionen. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu Stalins Tod fügten Hungersnöte, Umsiedlungen und der Archipel GULag Opfer hinzu, deren Zahl sich bis heute nicht genau beziffern läßt, aber im Millionenbereich liegt. Die Einverleibung Ostmitteleuropas in das sowjetische Imperium brachte für die dortigen Länder eine Wiederholung der zwanziger und dreißiger Jahre mit ihren Massenverhaftungen, Schauprozessen, Erschießungen und Deportationen, ihrer Vernichtung der Eliten, Zerstörung der Infrastruktur und Ruinierung der Lebensgrundlagen, um von den Opfern der Aufstände von 1953, 1956 und 1968 zu schweigen.

Die Oktoberrevolution steht für den Verfasser für einen neuen Typus von Revolution, die "Vernichtungsrevolution"; der von ihr begründete Staat für "einen der brutalsten Zwangsstaaten, den die Geschichte jemals gesehen hat". Revolution und Bürgerkrieg hätten nicht nur eine vollständige Aufhebung der Tötungshemmung bewirkt, sondern auch eine anhaltende generelle Hemmungslosigkeit in der Anwendung physischer Gewalt, die sich unter anderem im drakonischen Strafsystem, in Folter und Geständniserpressung manifestiert habe.

Konsum nach Stalin

Über dieser Schreckensbilanz verliert das Buch nicht aus den Augen, daß dieses aus der Gewalt entsprungene und sie perpetuierende Regime sich am Ende auf relativ friedliche Weise aus der Geschichte verabschiedet hat. Für die poststalinistische Epoche konstatiert es eine zunehmende Verrechtlichung, die zwar den "Maßnahmenstaat" nicht beseitigt, ihn aber durch eine "Wiederbelebung des Normenstaates" ergänzt habe und damit eine Entwicklung in Gang setzte, die in Richtung eines "Doppelstaates" im Sinne von Ernst Fraenkel wies. Dem habe der Aufbau eines sozialistischen Wohlfahrtsstaates entsprochen, der die Wirtschaftstätigkeit dem Ziel der Vollbeschäftigung unterordnete, darüber hinaus mit Wohnung und Konsum Bereiche zu sozialpolitischen Tätigkeitsfeldern erklärte, die im Kapitalismus über den Markt geregelt werden. Auch auf die außenpolitischen Beziehungen innerhalb des Ostblocks habe diese Entwicklung ausgestrahlt. Anstelle von Befehl und Gehorsam seien konsultative Strukturen getreten, anstelle von Raub und Ausbeutung Subventionen, die vor allem auf energiepolitischem Gebiet gewaltige Dimensionen angenommen hätten. Das wirft die Frage auf, ob die von der Oktoberrevolution begründete Ordnung ein Potential enthielt, das über die "Gründungsgewalt" hinauswies und einen sowjetischen Weg in die Moderne eröffnete.

Fragen dieser Art hätten Plaggenborg zur Herrschaftssoziologie Max Webers führen müssen, die um das Verhältnis von Gewalt und Einverständnis kreist. Faktisch begibt er sich auf deren Boden, wenn er die Geschichte der Sowjetunion als Aufbrechen eines Selbstwiderspruchs konzipiert, bei dem der Staat durch Verrechtlichung seine ursprüngliche Legitimität untergräbt. Daß die Entstalinisierung vom Standpunkt des Maßnahmenstaates gesehen ein Fehler war, der eine bald nicht mehr steuerbare Selbstbeschränkung des Politischen in Gang setzte, ist ebenso zutreffend wie die These, daß die Umstellung auf Konsultation innerhalb des Imperiums nicht nur die Staaten Ostmitteleuropas der Kontrolle entgleiten ließ, sondern am Ende auch die Mitglieder der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken.

Aber Plaggenborg hält Webers Herrschaftstypologie hinsichtlich der Sowjetunion für irrelevant. Infolgedessen fehlt es ihm an Kategorien, um das, was er beschreibt, angemessen zu analysieren. Das ist für die poststalinistische Epoche weniger problematisch, weil sich "Verrechtlichung" ohne weiteres in Legalisierung und damit in Webers Typus der legalen beziehungsweise rationalen Herrschaft übersetzen läßt, auch wenn Plaggenborg, wohl in Verkennung der Weberschen Definition, meint, von Rationalität ließe sich in bezug auf die Sowjetunion nicht sprechen.

Gravierende Folgen aber hat dieser Verzicht im Hinblick auf Leninismus und Stalinismus, die in Plaggenborgs Deutung eigentümlich abwesend bleiben. Soweit sie thematisiert werden, gilt das Interesse nicht den Inhalten, die ein bestimmtes Legitimitätseinverständnis begründeten, sondern der formalen Seite, die mit Attributen wie Absolutismus und Fundamentalismus charakterisiert wird und Lenin als verkappten Konservativen erscheinen läßt. Damit wird nicht allein die für den Erfolg der Revolution entscheidende Gehorsamsbereitschaft der Bolschewiki gegenüber ihrer Führung unerklärlich, vielmehr avanciert Gewalt als solche, unabhängig von jeder Sinndeutung, zum Zentrum. Aus einem bloßen Instrument verwandelt sie sich in dieser Perspektive in ein "systemisch integrierendes Moment", in "eine Form bolschewistischer Kommunikation, die zwischen den einzelnen Bereichen moderierte und sie integrierte": Sie integriert nicht nur das System, sondern ist nachgerade das System selbst, das als Variante der Moderne, als "integralistische Moderne" verstanden werden muß.

Wie eine so sehr auf Interaktion, auf die "Kommunikation" unter physisch Anwesenden festgelegte soziale Beziehung imstande sein sollte, ein Imperium von mehreren hundert Millionen Menschen zu "integrieren", verrät Plaggenborg nicht. So plausibel sein Gedanke ist, die Sowjetunion in die Geschichte der Moderne zu stellen und sie als "eine auf differenzbeschränkte Ganzheitlichkeit angelegte Moderne" zu deuten, der Vorschlag, Differenzbeschränkung und Integration auf physische Gewalt zu reduzieren, überzeugt nicht. Ohne eine Berücksichtigung der ideellen Gehalte des Leninismus, ohne eine herrschaftssoziologische Analyse des organisatorischen Instruments zu ihrer Umsetzung (der Partei), ohne eine Bestimmung des Verhältnisses dieser Partei zu ihrer "Umwelt", zu welcher der Staat gehört, ist hier kaum weiterzukommen.

Das russische Menetekel

Mit dieser Kritik sollen die starken Seiten des Buches nicht verdunkelt werden. Davon gibt es viele. Sie finden sich vor allem im vierten Kapitel mit seiner dichten Beschreibung der "gewalttätigen Moderne", deren Lektüre geeignet ist, auch dem letzten Ideologen die Sprache zu verschlagen; sodann in den beiden Kapiteln über "Staat ohne Gesellschaft" und "Der Preis des Imperiums", die mit überraschenden Einsichten aufwarten, etwa hinsichtlich der Überdehnung des Wohlfahrtsstaates und der Subventionierung der Satelliten, die beide wohl mehr zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen haben als der Rüstungswettlauf mit dem Westen.

Plaggenborg ist ein wichtiges Buch gelungen, das die Sachkenntnis des Experten mit der Fähigkeit verknüpft, in großen Perspektiven zu denken: kritische Historie im besten Sinne.

Da zu diesen Perspektiven der Blick in die Zukunft gehört, sei nicht unterschlagen, daß er in ein Menetekel mündet. Das für das bolschewistische Experiment zentrale Gewaltpotential, so Plaggenborg, sei noch längst nicht gebändigt, das Land bis zum heutigen Tage keine civil society: "Die nächste Revolution in Rußland wird zeigen, daß diese Gesellschaft, die sich zu keiner Zeit weder ihrer Geschichte noch ihrer gewaltförmigen Übermächtigung bewußt geworden ist, dem Kapitel Gewalt in der Moderne ein weiteres hinzufügt." Was das in einem Land bedeutet, das Helmut Schmidt einmal als "Obervolta mit Atomraketen" bezeichnet hat, kann man sich ausmalen.

STEFAN BREUER

Stefan Plaggenborg: "Experiment Moderne". Der sowjetische Weg. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2006. 401 S., br. 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein wichtiges Buch, meint Stefan Breuer und kategorisiert Stefan Plaggenborgs Studie über den sowjetischen Weg in die Moderne als "kritische Historie im besten Sinne". Kenntnisreich und perspektivisch großzügig hat ihm der Autor die Schrecken der Oktoberrevolution und jene der sowjetischen Moderne eindringlich präsentiert und versucht Verbindungen herzustellen. Breuer reicht das allerdings nicht ganz. Max Webers Herrschaftssoziologie vermisst er als Kategoriengeber und Analysehilfe. Und das "integrierende" Moment der Gewalt nimmt er Plaggenborg so nicht ab. Hätten Lenin, der Leninismus und die Partei da nicht auch noch ein Wort mitzureden gehabt?

© Perlentaucher Medien GmbH
Eine Gesellschaft setzt auf Gewalt
"Plaggenborg ist ein wichtiges Buch gelungen, das die Sachkenntnis des Experten mit der Fähigkeit verknüpft, in großen Perspektiven zu denken: kritische Historie im besten Sinne." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.09.2006)