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Kultur der Medizin Geschichte Theorie Ethik Herausgegeben von Andreas Frewer
Verseuchtes Trinkwasser, stinkende Sickergruben, überfüllte Wohnungen und Mangelernährung machten die rasch wachsenden Städte des 19. Jahrhunderts zu Brutstätten von Seuchen. Die in den 1860er Jahren entstehende Hygienebewegung rückte diesen Problemen mit Wissenschaft und Technik zu Leibe. Ingenieure, Ärzte und Verwaltungsbeamte forderten den Bau von Kanalisationssystemen und zentraler Wasserversorgung, eine staatliche Lebensmittelkontrolle und gesundheitsgemäße Städteplanung. Anne I. Hardy schildert die…mehr

Produktbeschreibung
Kultur der Medizin
Geschichte Theorie Ethik
Herausgegeben von Andreas Frewer
Verseuchtes Trinkwasser, stinkende Sickergruben, überfüllte Wohnungen und Mangelernährung machten die rasch wachsenden Städte des 19. Jahrhunderts zu Brutstätten von Seuchen. Die in den 1860er Jahren entstehende Hygienebewegung rückte diesen Problemen mit Wissenschaft und Technik zu Leibe. Ingenieure, Ärzte und Verwaltungsbeamte forderten den Bau von Kanalisationssystemen und zentraler Wasserversorgung, eine staatliche Lebensmittelkontrolle und gesundheitsgemäße Städteplanung. Anne I. Hardy schildert die ergriffenen Maßnahmen und deren Folgen und zeigt, wie erstaunlich wenig medizinische Vorstellungen bis zur Entdeckung der Mikroben durch Robert Koch vorherrschend waren. Selbst die Bakteriologie beeinflusste das Handeln der Hygieniker weniger als bisher angenommen.
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Der Dreck in der Stadt muß weg

Anfang der 1870er Jahre war die Zeil in Frankfurt am Main noch keine besonders attraktive Einkaufsmeile. Dazu roch es zu sehr nach Kloake. Der unweit gelegene Russische Hof, ein Grandhotel, mußte allabendlich die Öffnungen der nächstgelegenen Abwasserkanäle verstopfen, um Beschwerden der Gäste wegen Geruchsbelästigung vorzubeugen. Hartnäckige Proteste der Anwohner dieses gutbürgerlichen Wohn- und Geschäftsviertels führten schließlich zum Erfolg. Die Gegend um die Zeil gehört zu den ersten Stadtbezirken, die in der Mainmetropole nach englischem Vorbild kanalisiert wurden. Treibende Kraft war der Frankfurter Arzt Georg Varrentrapp, der auch weit über die Grenzen der Stadt hinaus als Wegbereiter einer modernen Stadthygiene gilt. Aber ohne Unterstützung einflußreicher Persönlichkeiten, darunter der Herausgeber der "Frankfurter Zeitung", Leopold Sonnemann, hätte sich das kostspielige und umstrittene Kanalprojekt damals kaum so rasch realisieren lassen.

Frankfurt war nicht die erste deutsche Stadt, die damals das drängende Abwasserproblem durch ein aufwendiges Kanalprojekt löste. Den Anfang machte Hamburg. Nach einem großen Brand im Jahre 1842 nutzte man die Gelegenheit und baute eine Mischkanalisation, die außer dem Regen- und Hausabwasser auch die menschlichen Exkremente aufnahm. Gleichzeitig entstand eine zentrale Wasserversorgung. Die Planung lag in den Händen des englischen Ingenieurs William Lindley. Dieser griff auf Erfahrungen zurück, die man kurz zuvor in London bei der Fertigstellung des mit großem technischen und finanziellen Aufwand verbundenen Kanalisationsprojekts gesammelt hatte. Bei ihrer Inbetriebnahme war die Hamburger Kanalisation die modernste Anlage in der Welt. Am rückständigsten war ausgerechnet München, obwohl an der dortigen Universität der erste deutsche Lehrstuhl für Hygiene eingerichtet worden war, den Max von Pettenkofer innehatte. Doch weder dem angesehenen Professor noch dem damaligen Bürgermeister Erhardt gelang es zunächst, eine Mehrheit für das Kanalisationsprojekt zu gewinnen. Erst 1879 wurde eine Schwemmkanalisation gebaut, doch ohne die üblichen Rieselfelder. Die Interessen der Landwirte an der Nutzung der Fäkalien hatten Vorrang. Daran konnte Pettenkofers Diktum, "daß die Hygiene nur die Aufgabe hat, den Unrat zu beseitigen, aber nicht die Felder damit zu düngen", nichts ändern. Erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts obsiegte der Wunsch der Bürger nach einer bequemen, möglichst geruchsfreien Entsorgung der Fäkalien über die anfänglich angestrebte landwirtschaftliche Verwertung der Fäkalien.

Was gab den Anstoß zur städtebaulichen Assanierung, die in den deutschen Städten in den 1850er Jahren begann und dann im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts fast überall in die Wege geleitet wurde? Hierauf gibt nun Anne L. Hardy eine Antwort, die von der bisherigen Forschung in einigen Punkten abweicht ("Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit". Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005. 414 S., br., 45,- [Euro]). So kann die Autorin beispielsweise schlüssig den Beweis führen, daß es nicht in erster Linie die Choleraepidemien waren, die zu einem Umdenken führten. Diese hatten ihrer Auffassung nach lediglich "eine katalytische Wirkung", indem sie die Argumente für ohnehin als notwendig erachtete Reformen, insbesondere der Kanalisation, verstärkten. Als viel entscheidender sieht sie das Bevölkerungswachstum um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an. Die Folge sei nicht nur ein Mangel an Trinkwasser, sondern auch ein kaum zu bewältigendes Problem bei der Entsorgung von Müll und Fäkalien gewesen. Spätestens die dritte Cholerapandemie von 1865/66 habe die letzten Zweifler belehrt, daß durchgreifende städtehygienische Maßnahmen erforderlich waren.

Bislang wurde die Rolle der Experten in der Assanierung kaum untersucht. Hier betritt Hardy weitgehend wissenschaftliches Neuland. So neigte man bisher dazu, den Einfluß von Medizinern zu überschätzen. Bezeichnend ist, daß Pettenkofers viel diskutierte Theorie, nach der das Grundwasser im Boden einen entscheidenden Krankheitsfaktor darstellt, zwar in wissenschaftlichen Kreisen heftig diskutiert wurde, aber nur selten Stadtverwaltungen zur Rechtfertigung kostspieliger Kanalprojekte diente. Daß es gelang, die breite Öffentlichkeit für das neue Kanalisationssystem zu gewinnen sowie die bautechnischen und finanziellen Fragen zu lösen, war nach Hardy in der Hauptsache das Verdienst der Ingenieure. Diese waren auch in dem 1873 gegründeten Verein für öffentliche Gesundheitspflege neben anderen Experten, darunter auch Ärzte, stark vertreten. Welche Impulse gerade von dieser Vereinigung von Personen, die sich die Verbesserung der Gesundheitsfürsorge auf allen Gebieten zum Ziel gesetzt hatte, ausgingen, ist ebenfalls Thema dieser vorzüglichen, theoriegeleiteten Dissertation, die zwar keine archivalischen Quellen heranzieht, aber sich auf eine umfangreiche gedruckte Primärliteratur stützt.

Aufschlußreich ist ebenfalls der Vergleich zwischen der englischen und deutschen Hygiene-Bewegung. Beide waren nach Hardy von der Lösung der "sozialen Frage" inspiriert, unterschieden sich aber in den Lösungsvorschlägen. Das einzige Manko dieser Studie ist, daß der Blick auf die französische Hygienebewegung fehlt. Hier hätten sich noch wichtige Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede herausarbeiten lassen.

ROBERT JÜTTE

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als "vorzüglich" beurteilt Rezensent Robert Jütte diese Dissertation über die Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts, die Anne L. Hardy vorgelegt hat. Überzeugend findet er die Ausführungen der Autorin, wonach vor allem das Bevölkerungswachstum um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Anstoß zu aufwendigen Kanalisationsprojekten in den deutschen Städten gab. Hardy nehme die bisher kaum untersuchte Rolle der Experten in der städtebaulichen Assanierung unter die Lupe. Sie zeige, dass es vor allem ein Verdienst von Ingenieuren war, die breite Öffentlichkeit für das neue Kanalisationssystem zu gewinnen sowie die bautechnischen und finanziellen Fragen zu lösen. Zudem behandle sie den 1873 gegründeten Verein für öffentliche Gesundheitspflege, in dem neben Ärzten auch Ingeneure stark vertreten waren, und zeige, welche Impulse von dieser Vereinigung für die Verbesserung der Gesundheitsfürsorge ausgingen. Aufschlussreich erscheint Jütte ferner der Vergleich zwischen der englischen und deutschen Hygiene-Bewegung. Das "einzige Manko" dieser Studie sieht er im fehlenden Blick auf die französische Hygienebewegung. Hier hätten sich seiner Ansicht nach noch wichtige Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede herausarbeiten lassen.

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Der Dreck in der Stadt muß weg
"Eine vorzügliche, theoriegeleitete Dissertation." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.11.2005)