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Produktdetails
  • Verlag: Propyläen
  • Seitenzahl: 495
  • Abmessung: 44mm x 148mm x 220mm
  • Gewicht: 768g
  • ISBN-13: 9783549071243
  • ISBN-10: 3549071248
  • Artikelnr.: 24404588
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2001

Mehr Sinn für Wohlstand
Peter Jay spürt das Rascheln der Banknoten zwischen den Zehen

Ganz unübersehbar: Es ist eine neue Blütezeit der "Big History" angebrochen. Nach Spengler und Toynbee waren universal- und zivilisationsgeschichtliche Deutungen der Vergangenheit jahrzehntelang dem beinahe vollständigen Vergessen anheimgefallen. In den Nachkriegsjahrzehnten begann für die Historie überall auf der Welt ein beispielloser Professionalisierungsschub, der die Arbeitsgebiete der Historiker immer kleinteiliger absteckte. Populärwissenschaftliche Darstellungen gab es wohl, aber deren Abstand zur seriösen Wissenschaft wuchs, und nur wenige Außenseiter wie William McNeill in den Vereinigten Staaten trauten sich noch an den Entwurf einer Weltgeschichte heran, die alle Kontinente und mehrere Jahrtausende umspannte.

Inzwischen wird jedoch nicht nur eine neue akademische Debatte über Weltgeschichte als vergleichende Zivilisationsgeschichte geführt, sondern es sind auch einige hervorragende Bücher erschienen, die die Geschichte des Menschen seit jenen Anfängen verfolgen, als der Homo sapiens sapiens mit Feuer und Werkzeug, mit Ackerbau und Schwert seinen Eroberungszug auf unserem Planeten begann. Ihre Autoren sind teils Historiker - wie David Landes, dessen "Wohlstand und Armut der Nationen" unlängst auf deutsch erschienen ist (F.A.Z. vom 12. Oktober 1999) -, teils aber auch Naturwissenschaftler wie der amerikanische Biologe Jared Diamond mit seinem ein Jahr zuvor publizierten Werk "Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften" (F.A.Z. vom 24. März 1998). Man hat den Eindruck, daß die professionelle Historie in Deutschland, von Ausnahmen wie Joachim Radkau abgesehen, die Herausforderung noch nicht recht verstanden hat.

Dabei steht in einem ganz fundamentalen Sinne zur Debatte, was wir überhaupt unter "Geschichte" verstehen wollen: Sind es die gut tausend Jahre europäischer Schriftkultur seit dem Mittelalter, angereichert um die obligate Zugabe der griechischen und römischen Antike? Oder wollen wir unter Geschichte den gesamten Zivilisationsprozeß des Menschen spätestens seit der jungsteinzeitlichen Seßhaftwerdung verstehen; man könnte auch sagen: seit jener Zeit, als "Natur" und "Kultur" auseinandergetreten sind? Eine solche Perspektive ist dringend auf die Kooperation mit Disziplinen angewiesen, die bisher nicht als Nachbarn der Sozial- und Kulturwissenschaften galten: der naturwissenschaftlichen Anthropologie oder der Paläobotanik, der Epidemiologie oder - siehe Jared Diamond - der Evolutionsbiologie. Während die deutsche Geschichtswissenschaft noch in typischer Monomanie über den "Kulturalismus" streitet, tun sich hier zukunftsträchtige Felder der Disziplinüberschreitung auf.

Ein weiteres, charakteristisches Merkmal der neuen Weltgeschichte führt noch näher an ein neues Buch von Peter Jay über das "Streben nach Wohlstand" heran: Auffallend häufig ist sie als eine Wirtschaftsgeschichte konzipiert oder rückt doch ökonomische Wachstums- und Entwicklungsprozesse stark in den Vordergrund. Man mag darüber spekulieren, wie eng dieses Interesse an einer ökonomischen Weltgeschichte mit der Herausbildung der neuen "global economy" und überhaupt mit dem geschärften Bewußtsein für die Wirkungsmacht der Ökonomie zusammenhängt. Jedenfalls wurde die alte Frage nach den Ursachen für den Siegeszug des Westens auf überraschende Weise neu belebt.

Jays "Streben nach Wohlstand" erinnert schon im Titel nicht nur an Adam Smith, sondern auch an Landes' Darstellung; beide Bücher lassen sich über weite Strecken parallel lesen. Doch Jay faßt sich auf gut vierhundert nicht zu eng bedruckten Textseiten kürzer als der Harvard-Wirtschaftshistoriker und zielt auf ein anderes Publikum. "Dieses Werk", erfährt man im Schlußkapitel, "wurde von einem Laien für Laien geschrieben und erhebt nicht den Anspruch, akademisch zu sein, sondern nur den, bei den Lesern Aha-Erlebnisse auszulösen und zu unterhalten." Aha. Zu diesem Zweck hat Jay die Literatur der Profis nach bestem Wissen und Gewissen zu einer eigenen Erzählung verdichtet, die sich durchaus leicht und flüssig liest. Neun Kapitel sind chronologisch angeordnet und führen von den frühesten Kulturen bis in die unmittelbare Gegenwart. Etwa die Hälfte des Textes ist der neuzeitlichen Wirtschaftsgeschichte gewidmet.

Dem dann beginnenden westlichen Sonderweg entsprechend, konzentriert sich die Darstellung zunehmend auf Westeuropa und Nordamerika, aber zumal in den früheren Kapiteln kommen die anderen Weltregionen, besonders China und der arabisch-vorderasiatische Raum, keineswegs zu kurz. Die Etappen der wirtschaftlichen Entwicklung einschließlich der technischen, sozialen und politischen Innovationen, von denen Jay berichtet, sind freilich zumeist die altbekannten: Man hört von den Städten im Mittelalter und der Erfindung des Bank- und Kreditwesens in Italien, vom Fernhandel und dem Beginn der überseeischen Expansion, schließlich von der industriellen Revolution Englands und dem weltweiten Siegeszug ihrer Prinzipien.

Die Prämissen und Modelle, mit deren Hilfe Jay seinen komplexen Gegenstand in den Griff zu bekommen versucht, irritieren jedoch ein wenig. Gleich zu Beginn präsentiert er einige "schlichte Wahrheiten", denen zufolge Geld nach der Befriedigung des Sexualtriebes das wichtigste Objekt der menschlichen Begierde sei - an dritter Stelle folgt dann der Drang nach Erkenntnis. Nun gut, in einem Buch, in dem es weder um Sex noch um Wissenschaft geht, muß einen dieses eigenwillige "ranking" nicht stören, aber die Unerschütterlichkeit, mit der der Autor an einen gleichsam in den Genen verankerten Erwerbs- und Geldvermehrungstrieb des Menschen glaubt, führt doch sehr grundsätzlich in die Irre. Dem mögen zwar noch einige neoklassische Ökonomen folgen, aber es wird dadurch nicht richtiger, und auf vorkapitalistische Kulturen trifft es ohnehin nicht zu. Historikern ist zum Beispiel das Verhaltensmuster einer "moral economy" vertraut, in dem das ethische Prinzip einer gemeinschaftlich abgesicherten "Gerechtigkeit" das Erwerbsstreben nicht nur unterband, sondern sogar bestrafte; das "Nahrungs"-Denken im alten Handwerk ist ein weiteres, historisch äußerst wirkungsmächtiges Beispiel.

Auch die Ökonomie hat das längst erkannt und im Ansatz des "neuen Institutionalismus" seit mittlerweile zwei Jahrzehnten produktiv verarbeitet. Jay beruft sich sogar gegen die Neoklassik ausdrücklich auf Douglas North als einen Hauptvertreter dieser Richtung. Aber er verfügt nicht über die analytischen Werkzeuge, um das institutionelle und kulturelle Regelwerk der wirtschaftlichen Entwicklung auf den Begriff bringen zu können. Vielleicht am gravierendsten ist dabei das Fehlen eines historischen Konzeptes von Marktgesellschaft und Kapitalismus. Überhaupt weicht Jay präzisen Definitionen gerne aus; bei der Diskussion des Imperialismus im neunzehnten Jahrhundert flüchtet er hilflos in ein moralisches Verdammungsurteil. Und obwohl seine Vorannahme über die psychische Grunddisposition zum Erwerb ihn eigentlich auf die Spur von konkreten Verhaltensweisen und Wertvorstellungen setzen müßte, ist von dem, was Max Weber die "Wirtschaftsgesinnung" der Menschen genannt hat, kaum einmal die Rede.

Landes gibt am Ende seiner Untersuchung über die Ursachen der ungleichen Verteilung von Reichtum und Armut zwischen den Nationen eine klare Antwort: "Kultur macht den entscheidenden Unterschied." Jay akzentuiert anders; er betont, oftmals mit gutem Recht, eher das Gewicht der Politik, der staatlichen Rahmenbedingungen und Einflußnahme auf die ökonomische Entwicklung. Vor allem aber bekennt er sich immer wieder zu einem Primat der technischen Innovationen. Um das zu unterstreichen, listet Jay über mehrere Seiten technische Erfindungen und ihre Anwendungen im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert auf. Doch warum konnte es in einer bestimmten Region zu einer solchen Innovationssequenz kommen; und warum hatten technische Innovationen, an denen es auch anderswo - zumal in China - nicht mangelte, nur hier so gravierende gesellschaftliche Konsequenzen?

Nehmen wir ein Beispiel: Pizzaros Sieg über die Inkas wird in fast allen neueren Darstellungen der Weltgeschichte und des europäischen Sonderwegs als eine Schlüsselepisode geschildert. Infektionskrankheiten und technologische Überlegenheit nennt Jay als die Hauptursachen dafür, daß nicht umgekehrt Atahualpa Pizzaros Spanier besiegte. Jared Diamond kommt zunächst zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Aber er begnügt sich damit nicht, sondern fragt weiter: Warum hatten die Inkas nicht Feuerwaffen und Schwerter erfunden, warum hatten sie keine Pferde oder andere Großtiere domestiziert, warum trugen nicht sie die Krankheitskeime, gegen die ihre Gegner nicht resistent waren? Eine selbstverständlich aussehende Geschichte wird auf einmal kompliziert, aber eben auch erst richtig spannend.

PAUL NOLTE

Peter Jay: "Das Streben nach Wohlstand". Die Wirtschaftsgeschichte des Menschen. Aus dem Englischen von Udo Rennert und Friedrich Mader. Propyläen Verlag, Berlin 2000. 480 S., geb., 58,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Paul Nolte stellt zunächst einmal eine "neue Blütezeit" in der Geschichtswissenschaft für das Schreiben von weltgeschichtlichen Untersuchungen fest, wozu auch dieses Buch über Wirtschaftsgeschichte von ihren Anfängen bis zur Gegenwart zählt. Der Rezensent lobt das Buch, das sich an Laien wendet, "leicht und flüssig" geschrieben zu sein. Außerdem findet er es gut, dass der Autor trotz einer verständlichen Konzentration auf ökonomische Entwicklungen im Westen auch andere Länder wie China und arabische Länder" nicht "zu kurz kommen" lässt. Nach diesem Lob aber geht der Rezensent ans `Eingemachte` und nun hagelt es Minuspunkte: Nolte kritisiert die "analytischen Werkzeuge" Jeys als dem Gegenstand nicht angemessen und bemängelt besonders ein fehlendes "historisches Konzept" bei der Betrachtung der Marktwirtschaft und des Kapitalismus. Die Vorstellung des Autors, das Streben nach Wohlstand sei ein menschlicher Trieb, findet er hanebüchen und zudem wissenschaftlich überholt. Er vermisst in dieser Studie "präzise Definitionen" und meint, dass Jey vieles zu simpel sieht und damit dem Gegenstand auch die Spannung nimmt.

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