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In seiner Wirkung auf die Geschichte des modernen Romans ist Döblins Wallenstein sogar wichtiger als der neun Jahre später erschienene Berlin Alexanderplatz.
Seit langem wurde von der Döblin-Forschung beklagt, dass der vorliegende Text - in welcher Ausgabe auch immer - in keiner Weise den Ansprüchen genügt, die man an die editorische Verlässlichkeit eines solchen Jahrhundertwerkes stellen muss.
Der Schweizer Germanist, Professor Erwin Kobel, ist seit langem durch wichtige Beiträge zur Döblin-Forschung als Spezialist ausgewiesen. Seiner Edition liegen die über viele Jahre nicht
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Produktbeschreibung
In seiner Wirkung auf die Geschichte des modernen Romans ist Döblins Wallenstein sogar wichtiger als der neun Jahre später erschienene Berlin Alexanderplatz.
Seit langem wurde von der Döblin-Forschung beklagt, dass der vorliegende Text - in welcher Ausgabe auch immer - in keiner Weise den Ansprüchen genügt, die man an die editorische Verlässlichkeit eines solchen Jahrhundertwerkes stellen muss.
Der Schweizer Germanist, Professor Erwin Kobel, ist seit langem durch wichtige Beiträge zur Döblin-Forschung als Spezialist ausgewiesen. Seiner Edition liegen die über viele Jahre nicht zugänglichen - nun aber in Marbach versammelten - Handschriften, Exzerpte, Arbeitsnotizen, Skizzen, aber auch Literaturlisten und Leihscheine zugrunde, die erstmals einen zuverlässigen Romantext ermöglichten.
Kobel bietet einen editorischen Anhang, der die Untugend vieler Kommentare meidet und den Sachverhalt jeweils im Kontext des Romans erläutert.
Autorenporträt
Alfred Döblin, geboren am 10. August 1878 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie, war Nervenarzt in Berlin; dort begründete er auch die expressionistische Zeitschrift "Der Sturm" mit. 1933 emigrierte Döblin nach Paris, 1940 floh er nach Amerika und konvertierte zum Katholizismus. Nach dem Krieg kehrte er als französischer Offizier nach Deutschland zurück. Er war Herausgeber der Literaturzeitschrift "Das goldene Tor" (1946-1951) und Mitbegründer der Mainzer Akademie (1949). 1953 übersiedelte er wieder nach Paris. Er starb am 26. Juni 1957 in Emmendingen bei Freiburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2002

Die Wüste Mensch
Wirklichkeit des Leidens: Wallenstein, wie Alfred Döblin ihn sieht

Die Böhmen sind besiegt, und der Kaiser verschlingt das Fleisch des Fasans. Das ist typisch. Nicht für die Böhmen, nicht für den Kaiser, aber für Alfred Döblin. Im Anfang lauert schon der ganze Abgrund. Wir schauen einem Kaiser ins Maul, und wir schauen in das Maul eines Ungeheuers mit dem Namen Dreißigjähriger Krieg. Dieser Krieg ist der wahre Herrscher des heilig genannten und unselig regierten Römischen Reiches Deutscher Nation in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, das den Frieden, den Glauben und die Hoffnung der Menschen, die flackernde Seelen und leidende Körper sind, zermalmt.

Alfred Döblin schrieb den "Wallenstein" aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Er war damals Militärarzt in Saargemünd und in Hagenau. Durch über siebenhundert Seiten treibt eine Naturgewalt - die andere, nicht aber Döblin, mit dem feineren Begriff der Geschichte belegen - ihr Unwesen. Rabiat, brutal, unberechenbar. Sie wirft Menschen und Massen zusammen, klumpt sie und zerteilt sie wieder und zerfetzt sie. Krieg ist Krieg. Die erste Ausgabe des "Wallenstein" erschien 1920 im S. Fischer Verlag. Zwei Bände, mit vielen Druck- und Flüchtigkeitsfehlern.

Walter Muschg gab im Jahr 1965 eine neue Ausgabe des Romans heraus, die zweitausend Abweichungen von der verschusselten Erstausgabe aufweist. Döblin war kein aufmerksamer Fahnenleser, hatte auch anderes zu tun, war Vater dreier Söhne. Der Herausgeber der vorliegenden historisch-kritischen Ausgabe des "Wallenstein", Erwin Kobel, ist die Handschrift erneut durchgegangen und hat eine Latte von Fehlern und Ungereimtheiten entdeckt. Seine Anmerkungen zum Text, die Wort- und Sacherklärungen, das Personenregister und der editorische Bericht bestätigen einmal mehr den Wert der philologischen Arbeit. Jetzt fehlen nur noch die Leser. Wer und was erwartet sie hier?

Ein Rausch, der Wahrheit und Wirklichkeit des Daseins ist, und rund 650 historische Personen. Sie kreisen und trudeln wie kleine Planeten um zwei Sonnen, die zwei Prinzipien des Lebens vorstellen, das aus allen Nähten und Begriffen platzt. Der eine: Wallenstein aus Böhmen, ein Monster, ein Krake des Krieges, der mit seinen Pranken Geld, Geld, Geld rafft und souverän dem Kaiser dienen möchte. Der intelligent über Menschenheere gebietet, die nach seinen Zielen hin- und hergeschoben werden, und über Länder und Städte gebietet, die erobert, geplündert und besetzt werden. Ein gefährdeter Solitär im diplomatischen Netz der Bündnisse und Täuschungen, das die Vorsichtigeren ausspannen.

Aus Wien schaut der andere herüber: das Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation - der Kaiser. Ferdinand II., ein Schwächling auf den ersten Blick, der durch die Kriegspolitik ins verhedderte Geschehen hineingezogen wird, aber von dort schließlich geläutert aufersteht. Ein Kaiser mit einer suchenden Seele, der zur Verwunderung seiner kirchlichen Berater, alle erprobte Wanderer in den Niederungen der Machtpolitik, zu ganz anderen Höhen aufsteigt. Der eines Tages verschwindet, seinen Thron einfach Thron sein läßt und wie eine Erscheinung, die nicht von dieser Welt ist, eben und gerade durch die marode, verdrehte und morbide Welt pilgert und dabei das Leben und nicht das Sterben predigt.

Konzentrierte Handlung und gezielte Aktion hier, schweifende Gefühle und auflösende Passion dort. Doch beide Ausnahmen - Wahnwüchsige im Mittelmaß - ereilt der Tod durch dritte Hand. Was darf man hoffen in dieser Welt aus Schuld und Sünde? Nicht einmal ein Erbarmen mit der Kreatur. Döblin, der Arzt, sieht die Seelen in ihren Blutbahnen dahinziehen.

Diese beiden Großen wären nur schwarze Schatten oder harte Schemen - ohne Döblin. Ohne seinen Furor, sein Drängen ins historisch Konkrete, sein Drangsalieren des Physiologischen und sein Entwerfen von irdisch- und überirdisch-traumatischen Gewalten. Ohne den pochenden Rhythmus seiner Sätze, Klänge und grell evozierten Stimmungen. Ohne Döblins sprachliche Neugier, die den Menschen aus den Wörtern schnitzt, ohne seine Leidenschaft und seinen Sinn für das Chaos des Wollens und Wünschens und die ungebändigte Wildheit des Lebensgewoges wären gerade die beiden, auf die es hier vor allem ankommt, vielleicht Gestalten mit Kopf und Fuß geworden, ganz sicher aber würde ihnen jede Transparenz für die Strömungen fehlen, die nicht nur sie bewegen. Sie wären Figuren, keine Eruptionen der historischen Natur. Woran soll man noch glauben? An die gerechte Tat, die aber untergehen wird im Tumult der Ungerechtigkeiten.

Ständig wechselt Döblin, der an allen Orten gleichzeitig sein möchte, die Schauplätze. Die Wahrheit ist der Einzelfall. Auf das Aberwitzige kommt das Absonderliche, kommt das Furchtbare, das Entsetzen, der Schrecken. Die Wirklichkeit des Leidens, die Döblin zeigt, müßte aus den Menschen Schizophrene machen. Die Mißhandlung und Verbrennung eines jüdischen Paares unter den Augen einer stumpfen Masse, in deren Rücken das Kaiserpaar steht, sollte das Weltende einläuten und leitet doch nur in den verrohten und gefühlsverwüsteten Alltag über. Ebenso ein blutziehender Schauzweikampf vor den gelangweilten Augen der Bessergestellten auf Erdenzeiten. Der Wahn des Lebens, die Macht über den Tod, die nur mit dem eigenen Gewissen nicht immer zu ertragen ist, schlägt für Stunden um in ein Mordssaufen und Toben und irres Tollen von Kaiser und Narr im Versteck eines Weinkellers. Düster und menschenunfreundlich sind die Nächte der Selbstgeißelung des bayerischen Kurfürsten Maximilian, der trunken von seiner Qual ist. Das langsame Sterben des Kriegers Tilly wird skandiert durch seine röchelnde Anrufung Marias. Die Hatz auf Böhmen mit ausgehungerten Hunden, die Bestien sind, deckt Abgründe auf, in denen, was Mensch sein sollte, versinkt.

Was muß man noch wissen? Nur das alles, meint Döblin. Und wo man auch hinschaut: Man sieht stark gezeichnete Gesichter, vom Wein dunkelrot, verfettet, vernarbt, vom Zweifel ausgemergelt, von Angst und Leid verzehrt, von Maßlosigkeit aufgedunsen. In diesen Köpfen gehen die von fernen Gottes Gnaden und seinen Stellvertretern auf Erden gelenkten Gedanken wie auf Stelzen. Im Namen des Himmels, der Kirche und des Geldes werden Unterredungen geführt zwischen Katholiken und Protestanten und Jesuiten, Schlagabtausch gehalten zwischen Kriegern und Menschenschluckern, Klagen geführt von Diplomanden und Dienern. Sie hocken im Jammertal, haben Visionen vom Jenseits. Was ist der Mensch? Ein Wurm zwischen Vorstellung und Vernichtung.

Vor dem Roman "Berlin Alexanderplatz", der Alfred Döblin berühmt machen sollte, hat er mit dem "Wallenstein" schon seinen Zenit erreicht. Und doch schlummert dieses Buch wie auch seine Tetralogie "November 1918" im Schatten des Großstadtdramas. Ist der "Wallenstein" ein historischer Roman über den Dreißigjährigen Krieg geworden? Döblin hat ganze Bibliotheken für diesen Roman durchgeackert, das heißt in den Büchern gestöbert, Körbe von Details herausfischend, die sein Gemüt affizierten, zahllose Weltpartikel, bis hin zu Exzerpten aus historischen Akten.

Kann man, was ist, was war, literarisch beim Schopf fassen, bündeln? Döblin möchte das Menschenmögliche ans Tageslicht ziehen. Er folgt im großen und ganzen dem historischen Gang der Dinge. Es gibt aber starke Abweichungen, die dem Entwurf, der Idee des Romans geschuldet sind. Zum Beispiel: Ferdinands zweite Frau, Eleonore aus Mantua, stürzt sich in Wirklichkeit nicht aus dem Fenster in den Tod. Der Kaiser wird nicht von einem koboldartigen Waldmenschen erstochen, sondern er stirbt in Wirklichkeit eines natürlichen Todes. Döblin suchte ein Schlußbild: Ferdinand, der andere, der kein Kaiser mehr ist, in der tödlichen Umarmung eines Zwitterwesens. Natur, die den Menschen überwuchert - und eben kein heiles Sterbensgeläute -, hat das letzte Wort nach dem Unheil des langen Schlachtens.

Wer den "Wallenstein" nicht unvorbereitet lesen möchte, sollte eines der Aberhunderte von Büchern über den Dreißigjährigen Krieg konsultieren: Friedrich Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Ricarda Huchs "Der große Krieg in Deutschland" oder Golo Manns Biographie über Wallenstein, Günter Barudios "Der Teutsche Krieg" oder Johannes Burckhardts "Der Dreißigjährige Krieg". Dann wird man beim ersten Satz dieses Meisterwerks der deutschen Literatur sofort auf beiden Füßen landen und zu rennen beginnen. Bewegt euch, Leser, lauft.

EBERHARD RATHGEB.

Alfred Döblin: "Wallenstein". Roman. Herausgegeben von Erwin Kobel. Patmos Verlag, Walter Verlag, Düsseldorf, Zürich 2001. 1023 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.02.2002

In Tod und Trümmern, in Blut und Tränen
Einblicke in die literarische Kriegsberichterstattung: Zur Neuedition von Alfred Döblins Wallenstein-Roman / Von Thomas Lehr
Man unterschied „Politiker” von „Extremisten”. Die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Religion geriet leicht zum tödlichen Verhängnis. Ganze Länder wurden von der Glaubensspaltung zerrissen. Zwielichtige Unternehmer und undurchsichtige Finanziers unterstützten mal diese, mal jene Partei. Eine Unzahl skrupelloser Warlords, entlaufene Söldner und Banden von Desperados mordeten und plünderten. Ausländische Mächte steuerten die innenpolitischen Entscheidungen. Multinationale Eingreiftruppen mit unklaren Plänen richteten stets mehr Schaden an, als sie zu nützen vorgaben. Der Krieg fraß die Steuergelder, zerstörte die Wirtschaft, dezimierte erbarmungslos die Bevölkerung. Und er schien um so weniger ein Ende finden zu wollen, je länger er dauerte.
Das Afghanistan, von dem hier die Rede ist, lag einmal mitten in Europa. 30 Jahre lang, zwischen 1618 und 1648, waren Deutschland, das heutige Tschechien und Österreich die bevorzugten Schauplätze eines Krieges, an dessen Ausgang man - wie die kommenden Kriege zeigen würden - mehr hätte lernen müssen als man gelernt hatte. Aber wenigstens hatte zwischen Katholiken und Protestanten die religiöse Zuordnung als Vorwand für Krieg und Mord weitgehend ausgedient, und die Stärkung der meisten europäischen Nationalstaaten war unter dem Aspekt der Säkularisierung und des Gewaltenmonopols zunächst einmal segensreich. Für Deutschland waren die Resultate des Westfälischen Friedens Jahrhunderte lang prägend. Das Gespenst des Heiligen Römischen Reiches hatte sich im Rauch über den unerträglichen Menschenopfern weitgehend aufgelöst. Die erste deutliche politische Trennung von Österreich war erfolgt und durch das Zerbrechen der Habsburger Vorherrschaft in Deutschland auch jegliche Zentralgewalt beseitigt, mit der Folge einer politischen Ohnmacht, die einmal in furchtbaren Größenwahn, und einer heillosen Kleinstaaterei, die einmal in vorteilhaften Föderalismus umschlagen würde.
Wie bewegt man wilde Massen?
Angesichts dieser historischen Tiefenwirkungen erübrigt sich noch heute die Frage, die Alfred Döblin mitten im Ersten Weltkrieg, während seiner Militärarzttätigkeit im Elsass und in Lothringen, stellte und später, im Rückblick auf seinen zwischen 1916 und 1919 geschriebenen Wallenstein-Roman, wiederholte: „Man fragt, wen kümmert der Dreißigjährige Krieg? Ganz meine Meinung. Ich habe mich bisher auch nicht um ihn gekümmert.” Der heutige Leser wird wohl noch weitere Fragen haben: warum er sich, wenn er sich schon mit jenem Krieg beschäftigt, vorwiegend mit Wallenstein beschäftigen soll, und wenn schon mit Wallenstein, weshalb dann mit dem Döblinschen, und wenn schon mit Döblin, weshalb dann mit der nun im Walter-Verlag erschienen, nicht gerade preiswerten neuen Edition, die der Schweizer Germanist Erwin Zobel erarbeitet hat?
Die erste Antwort: Der 1583 in Prag geborene und 1634 in Eger ermordete Albrecht Wenzelslaus Eusebius von Waldstein, genannt Wallenstein, ist in der deutschen Literatur nicht von ungefähr zur Schlüsselfigur für die Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Krieges avanciert. Sohn eines hussitischen böhmischen Kleinadligen und früh verwaist, wurde er durch ökonomisches, administratives und militärstrategisches Genie, durch intelligente Skrupellosigkeit und egoistische Rationalität, durch politische Weitsicht, tatkräftigsten Größenwahn und intellektuelle Brillanz zu einem der reichsten und mächtigsten Männer des Reiches – so mächtig, dass sich die kaiserliche Zentralgewalt und ihre Berater am Ende nur durch eine Mordintrige seiner erwehren zu können glauben. Zwei äußerst förderliche Heiraten begründeten Wallensteins Reichtum, zwei Mal wurde er zum Oberbefehlshaber über die kaiserlichen Truppen ernannt, in zwei Fällen rettete er die katholische Fraktion und das Haus Habsburg vor dem drohenden Untergang. Fast wundert es, dass man ihn nur einmal ermorden musste. In der Kategorie erfolgreiche Tatmenschen und souveräne Strippenzieher dürfte Wallenstein im Rahmen seines Zeitalters allenfalls mit Richelieu vergleichbar sein.
Sein unaufhaltsamer Aufstieg und die Geschäfte des Herrn W. hätten eigentlich Bert Brecht reizen müssen. Aber Brecht hatte sich – letzten Endes mit viel größerem Publikumserfolg – beim Sujet des Dreißigjährigen Krieges wie der Schankwirt Grimmelshausen für die Perspektive des gemeinen Volks entschieden. Zudem kannte und schätzte er den Wallensteinroman und seinen Autor, letzteren wohl bis längstens zu jenem berüchtigten 65-jährigen Geburtstag Döblins im kalifornischen Exil, den Helene Weigel organisiert hatte, und bei dem das Geburtstagskind sich vor der versammelten Exil-Literatur- Prominenz, darunter Matadoren des Historischen Romans wie Thomas Mann und Lion Feuchtwanger, als der Christ und Katholik outete, der er bereits 1941 geworden war.
Wie Brechts „Mutter Courage” vom Blickwinkel her dem Simplicissimus ähnelt, so kommt sie formal, in ihrer Eleganz des Zugriffs auf die ungeheure Stoffmenge, die der Dreißigjährige Krieg vorhält, dem Werk des anderen Dramatikers im Bunde näher, Friedrich Schillers nämlich, der schon einige Jahre, bevor er an sein Wallenstein-Drama ging, als Historiker eine umfangreiche Geschichte des Krieges verfasst hatte. Im Juni 1797 schrieb er in einem Brief an Körner „Aber der Stoff ... ist in der Tat abschreckend, und mit einer sauren Arbeit muss ich den Leichtsinn büßen, der mich bei der Wahl geleitet hat. Du glaubst nicht, was es einem armen Schelm von Poeten in meiner abgeschiedenen, von allem Weltlauf getrennten Lage kostet, eine solche fremdartige und wilde Masse zu bewegen.”
Wie lässt sich für den Epiker und den Historiker die wilde Stoffmasse bändigen, die aus dreißig Jahren Krieg, Seuchen, Terror und Wahn quoll? Im Nachwort zur Neuedition zitiert Erwin Kobel das Döblin-Vorbild Charles de Coster:
Durch Krieg und Feuer,
Durch Lanzen und Schwerter
Suche;
In Tod und Trümmern,
In Blut und Tränen
Finde.
Vor allem zwei Bücher werden dieser Maxime in der Darstellung des Dreißigjährigen Krieges gerecht: die Arbeit eines Militärarztes in den Zeiten des Ersten Weltkriegs und das mehr als 50 Jahre später, während der 68- Kulturrevolte in Westdeutschland entstehende Opus Magnum eines Historikers, Alfred Döblins Werk und das von Golo Mann, dem Sohn des Schriftstellers, der sich so oft für Döblin eingesetzt hatte, aber in einer gewissen hilflosen Erfolgsüberlegenheit gar nicht umhin konnte, von diesem schließlich mit Hass überschüttet zu werden. Golo Mann seinerseits hat in seinem Buch Döblin nicht erwähnt. Zwei Tausendseiten-Folianten des gleichen Titels, der gleichen Besessenheit, der gleichen Energie und Neugierde, der gleichen freudigen Skrupellosigkeit und Lust, den Leser mit Gerölllawinen historischer Fakten zu überschütten. In ihrer Detailfülle und Massivität gleichen die beiden Werke einander wie riesige graue Dickhäuter. Dem Döblinschen Rhinozeros, aggressiv und ungeheuerlich, mit großem Horn und Panzerplatten versehen, steht das Mannsche Nilpferd gegenüber, rundlicher seines gepflegten Parlandos und der zeitgenössischeren Argumentationen wegen, aber doch ebenfalls ganz kolossal.
Beide Autoren zeigen einen wesentlich realistischeren Wallenstein als Schiller. Aber mit diesem eint sie die Absicht, keine Hagiographie zu schreiben, sondern des Kaisers General als – überlegenes und besonders gefürchtetes – Kind und bedingtes Element seiner Zeit darzustellen. Döblin versucht es wie Homer und Golo Mann wie Thukydides, sie nähern sich jedoch weit einander an, weil sie die Grenzen ihres Genres klar erkennen und gezielt überschreiten. So wie der Historiker den Haupttitel um den Zusatz „sein Leben erzählt von Golo Mann” erweitert, um sich zum Romanhaften und Narrativen zu bekennen, so sucht Döblin die Romanschriftsteller als „besondere Art Wissenschaftler” zu etablieren, die „aus Gründen ihrer Wissenschaft mehr Zugang zur Realität und zu mehr Realität Zugang als sehr viel andere” hätten.
Dass Golo Mann wie viele Historiker Wallenstein als einzigen weitblickenden Staatsmann des Deutschen Reiches und geradezu als verfrühten Europapolitiker bewundert, der im Vergleich zu den anderen großen Hyänen seiner Zeit „doch der Ehrlichste war ... und auf seine alten Tage der Bessere”, während Döblin immer Distanz zu dem von ihm als erschreckenden und blutigen Machtmenschen empfundenen General hält, macht einen großen Unterschied der Betrachtungsweise aus. Um nachzuempfinden, wie sehr sich die beiden Autoren in der sprachlichen Gestaltung und im Imaginationsvermögen suchen und wie sehr sie sich doch unterscheiden, kann man ein recht letztendliches Detail begutachten, nämlich die Sätze, die sie Wallenstein noch gönnen, nachdem ihm der Hauptmann Deveroux eine Partisane in den Brustkorb gestoßen hat. Golo Mann schreibt: „ ... des Todes riesiges Zackenmesser vier, fünf Organe durchwühlend, wo eines genügt hätte. Feuer, stickender Schmerz, kreisender Weltuntergang. Einmal noch, mit Menschenmaß gemessen das Fragment einer Sekunde, mag das Bewusstsein aufflackern zu Licht, von dem keiner je erzählte; dann, indem der Körper hinsinkt, kommt die Nacht, die erlösende Nacht.”
Und Alfred Döblin: „Sie konnten an ihm tun, was sie wollten. Das war nicht mehr Wallenstein. Ein gurgelnder Blutstrom war aus dem klaffenden Loch an seiner Brust hervorgestoßen, wie von Dampf brodelnd. Mit ihm war er davon. Wieder eingeschlürft von den dunklen Gewalten. War schon aufgerichtet, gereinigt, getrocknet, gewärmt. Sie hielten ihn murmelnd, die starblinden Augen zuckend, an sich.”
Haarsprünge im Erloschenen
„Egrae obiit aegre” (Zu Eger starb er bitterlich.) steht auf der Rückseite eines Gemäldes des Ermordeten im Prager Wallensteinpalais. Wenn man aus der Döblinschen Version von Wallensteins Sterbekammer heraustaumelt, wird man über die Leiche von Wilhelm Slawata stoßen, eines wichtigen Mannes, der schon den Prager Fenstersturz überlebt hatte und dann auch diesen Romantod im Jahre 1634, denn er starb erst 1652 als Achtzigjähriger im Bett. Man muss nicht Golo Mann oder – mit vermutlich weniger Parallelvergnügen – einen anderen guten Historiker zum Dreißigjährigen Krieg lesen, um die eigentümliche Faktenlage des Döblinschen Wallenstein zu ermessen. Wer sich den Luxus der im Walter-Verlag erschienen Neuausgabe des Romans gönnt, wird auf einen verdienstvollen Anhang mit Wort- und Sacherklärungen stoßen, die über die wichtigsten Abweichungen von der historischen Wirklichkeit informieren und neben nützlichen Kommentaren und Erläuterungen auch Querverweisungen zu anderen Werken Döblins enthalten.
Faszinierend ist, wie wenig und wie gezielt Döblin im Allgemeinen und Besonderen von den vorgegebenen Tatsachen abweicht und in welcher Fülle er mit Tatsachen aufwartet. Es gibt für den vom Wallenstein-Roman fokussierten Zeitraum zwischen 1621 und 1634 bei Golo Mann kaum einen Winkelzug, ein taktisches Detail, ein Truppenmanöver, eine Intrige des französischen oder spanischen Gesandten, die Alfred Döblin nicht auch und nicht auch geschichtswissenschaftlich solide bezeichnet hätte. Das der Neuausgabe beigegebene, zur Aktualität fortgesetzte Publikationsverzeichnis zum Dreißigjährigen Krieg weist im Einzelnen nach, welche Bücher Döblin verwendet oder wenigstens eingesehen hat. Es ist eine für die Kriegsbedingungen und die kurze dreijährige Arbeitszeit an diesem monumentalen Roman ganz unglaubliche Menge.
Sich kundig zu machen, wenn möglich auf wissenschaftlichem Niveau, die Details einzufangen, die zahllosen Realien wieder aufzufinden, das Konkrete, die Brüche und Differenzen, die Haarsprünge in der erloschene Materie der Vergangenheit – das ist die Arbeitsweise, die Döblin explizit für einen neu zu begründenden historischen Roman gefordert hatte. In dem 1913 in der Zeitschrift Der Sturm als Berliner Programm veröffentlichten poetologischen Pamphlet „An Romanautoren und ihre Kritiker” verlangt er „Psychiatrie” statt abgeschmackter Psychologie, Aktion und Bericht an Stelle vorgefertigter Erklärungsmuster und der zugehörigen schönen Phrasen. Der historische Urstoff soll gleichsam selbst zu Wort kommen, so dass am Ende der Gegenstand des Romans „die entseelte Realität” sei und seine Fassade aus nichts anderem bestehe „als aus Stein und Stahl, elektrisch blitzend oder finster.” Für diesen „steinernen Stil” fordert Döblin schließlich sogar: „Die Hegemonie des Autors ist zu brechen; nicht weit genug kann der Fanatismus der Selbstverleugnung getrieben werden.”
Angesichts der methodischen Forderungen des Autors erscheint es fast müßig, den Inhalt des Wallenstein-Romans wiederzugeben. Döblin muss alles Wichtige über Wallenstein erzählen und alles Wichtige über jenen Krieg, den der Generalissimus weitgehend mitbestimmt hat. Der Roman beginnt im Jahr 1621, nachdem die kaiserlichen Truppen unter der Führung von Tilly den Aufstand der böhmischen Stände niedergeschlagen haben. Er behandelt sämtliche auch von den Historikern als relevant angesehenen Ereignisse, und endet etwa 1635 nach einer bemerkenswerten und noch zu erwähnenden Szene mit einigen wenigen Sätzen von großartiger und schrecklicher Lakonie, die klar machen, dass noch einmal dreizehn Jahre Krieg die Lande verheeren werden. Aus der Vogelperspektive betrachtet, besteht die Erzähltechnik zunächst einmal darin, ein präzise recherchiertes Koordinatensystem der wichtigsten Ereignisse in chronologischer Folge anzulegen (die Höhendimension des Gitters kommt durch die verschiedene Figurenperspektiven zustande). Die weißen Freiflächen bilden dann ein Mosaik von Leinwänden, auf die sich die Aufnahmen der zahlreichen epischen Kameras projizieren lassen. So folgt Episode auf Episode, mit raschen Einstellungswechseln. Der Krieg wird gleichsam über einen großen narrativen Split screen verteilt.
Wie füllt Döblin unter den Vorgaben seines gestrengen Berliner Programms die Leinwände aus? Ohne Psychologie, ohne Kommentator, ohne den tief im Brunnen der Vergangenheit raunenden Erzähler? Döblin wählt den „Filmstil”, er sucht das Material, den historischen Urstoff, der den Leser überwältigen soll, mit der Kamera, vielerorts so, wie er es von Flauberts großem Karthago- Roman „Salammbô” gelernt hat.
Unter der steinernen Oberfläche
Was kann man sehen und filmen? Zunächst die Aktionen des Krieges, das Spektakuläre für die Außenaufnahmen, also Schlachten, Manöver, Plünderungen, Morde, Heereszüge, Vertreibungen. An zweiter Stelle gibt es die Interieurs, das Zusammenkommen der Akteure bei Gesprächen, Konferenzen, Intrigen, Planungen, Verhandlungen. Damit hätte man die Gegenstände und Vorkommnisse, denen der Autor den Transport der historischen Wirklichkeit zutraut. Letztlich besitzt er aber kein Objektiv, sondern nur Stift und Papier. Welche Sprache kann für die notwendigen Beschreibungen benutzt werden, wie reden die Steine, aus denen die Oberfläche des Romans bestehen soll?
Weil die Dinge nun einmal keine Sprache haben, sucht Döblin vorhandene Sprachformen hoher Materialität. Und so collagiert und verfremdet er souverän die Darstellungsweisen von Zeitungsreportagen, die Schreibarten der historischen Quellen und den Jargon der Historiker, in dem einmal rasch der vergrauste Sachse sieben Regimenter herüberwerfen und der Schwede den Bayern an den Ohren packen kann (oder seinen Koch, falls er einen dabei hatte). Ähnlich collagierend und semi-naturalistisch geht Döblin mit dem Dialog um. Er hat ja auch kein Mikrofon dabei, um die O-Töne des großen deutschen Kriegs aufzuzeichnen, muss aber das Gespräch als Romangegenstand sehr oft verwenden, da er sich den Erzählerkommentar nicht gestattet.
Mit Hilfe dieser Methoden bildet Döblin das Skelett, die Organe und das Muskelfleisch des Romans, die subkutane Anatomie des Krieges. Für sich allein genommen läge damit ein eigenwillig erzähltes umfangreiches Geschichtswerk in narrativer Tradition vor. Von geradezu wüster Sprödigkeit, muss man hinzufügen. Mit Erotik soll es nicht aufgebessert werden, denn der „erotische Wahn” der „Atelier-Schriftstellerei” führe dazu, dass die erzählte Welt sich „sukzessive vereinfacht auf das geschlechtliche Verhältnis”, so dass die Döblinschen Figuren also nie solche schönen welschen Sätze hören werden wie dereinst der wackere Simplicius: „Allez Mons. Beau Alman, gee schlaff mein Herz, gom, rick su mir!”
Döblin weiß aber – schon 1917 - andere Wege, um den „Übergang einer übernommenen Realität, einer bloßen schattenhaften Überlieferung in eine echte, nämlich ziel- und affektgeladene Realität” zu bewerkstelligen, wie er es dann 1936 im Pariser Exil im Rahmen seines Vortrags „Der Historische Roman und Wir” fordern sollte. Hierzu gehören die enorme Lebendigkeit einzelner Szenen, mit denen er immer wieder die steinerne Oberfläche durchbricht, die leitmotivische Metaphorik, die er durch den Roman gezogen hat, die zum Teil experimentellen sprachlichen Finessen auf der molekularen Ebene. Nicht zuletzt muss man das beinahe unfreiwillige Begehen der inneren Räume der Figuren erwähnen, durchgeführt mit einer Intuition und Plastizität, die den Historikern für gewöhnlich nicht zur Verfügung steht.
Letztlich wolle der Autor doch nicht: „alle Fakten stehen lassen”, denn im Unterschied zum Historiker sei er nicht von „einem wahnhaften Objektivitätsdrang” besessen. Die Freiheit, die Döblin hier 1936 fordert, hat er sich im Wallenstein nur partiell und nicht so wohl proportioniert wie in späteren Werken genommen. Das Enfant terrible seines Wallensteinromans, das immer wieder durch die Steinmauer der poetologischen Vorsätze bricht, ist der Roi terrible, Kaiser Ferdinand II, schrecklich vor allem im Ausmaß seines Wankelmuts. Mit ihm kommt viel Psychologie, etliche Psychopathologie in den Roman. Sein Verhältnis zu Wallenstein ist das eines Hamlet, der unverhofft einen Mephisto gefunden hat.
Döblin hat zugegeben, dass er seinen Roman eigentlich „Ferdinand der Andere” hätte nennen müssen. In die historische Gestalt des Habsburgers, die Golo Mann den „Popanz” nennt, schleichen sich dann eben Psychologie, Wahn, Verzückung, Subjektivismus des Autors, der ihn schuf. Und ihn deshalb auch faktenwidrig beseitigt: Als man Wallenstein mordet, hat sich der Roman- Ferdinand aus seinem Schloss davongemacht, um unerkannt, als elender zerlumpter Greis auf der Straße umhergestoßen zu werden und durch Wälder und Gefängnisse zu irren. Am Ende lässt ihn Döblin, statt ihn Jahre später historisch korrekt im Bett sterben zu lassen, in einer Höhle von einem irren Waldmenschen erdolchen. Das verblüffend unfaktische Ende eines überfaktischen Romans ist irritierend und beklemmend. Es verhält sich fast wie buddhistischer oder besser im Sinne des Wang-lun-Romans taoistischer Schlusskommentar zum Krieg.
Ein mächtiger Bergrücken
„Die Spannung ruiniert den Roman”, schrieb Döblin 1917 in einem Aufsatz für die Neue Rundschau. So gesehen, ist der Wallenstein-Roman keinesfalls ruiniert. Aber die enorme Lesemühe, die er bereitet, lohnt sich. Es ist die innere Spannung zwischen Döblins rigiden Selbst-Vorgaben und den unabsichtlichen und den gewählten Brüchen, die fasziniert und unterhält. Am meisten aber überzeugt das Zusammenfallen von Sujet und Bauart, die Entsprechungen zwischen dem Gegenstand und der Methode des Kunstwerks. Der Roman-Koloss passt zum Dreißigjährigen Krieg wie das Dürersche Rhinozeros und die Dürersche Melancholia, die geschlagen zwischen den massiven Symbolen ihrer Zeit sitzt. Mehr als alle anderen Wallenstein- Autoren lehrt Döblin Ekel und Abscheu vor dem Krieg und seinen Treibern, nicht zuletzt, weil er durch den Horror von Verdun zurückblickte, während er den Wallenstein schrieb.
Döblins „Wallenstein” ist einer der Höhepunkte des deutschen historischen Romans, im Rang – wenn auch ganz und gar nicht in der Machart – Hermann Brochs „Tod des Vergil” vergleichbar und natürlich den Josefsromanen des Antipoden Thomas Mann. Unter weltliterarischem Blickwinkel ist er aber weniger ein isolierter Gipfel als so etwas wie ein mächtiger Bergrücken, Teil eines großen Massivs, das mit Flauberts „Salammbô” und Tolstois „Krieg und Frieden” verbunden ist. Autoren der nächsten und übernächsten Nachkriegszeit sind über ihn gewandert, ob sie es wussten oder nicht.
Zu loben ist die enorme und präzise Arbeit, die sich der Schweizer Germanist Erwin Kobel mit der aktuellen Ausgabe des erstmals 1920 erschienenen Romans gemacht hat. Die Döblins späterem geringen Interesse an Überarbeitungen und den schwierigen Bedingungen der Abfassung und Publikation eines derart Personen- und materialhaltigen Werks geschuldeten Mängel hatten Walter Muschg 1965, acht Jahre nach Döblins Tod, schon an etwa 2000 Stellen zu Revisionen veranlasst. 36 Jahre nach Muschg hat Erwin Kobel nun fast 2000 weitere Textänderungen vorgenommen. Man kann sich vom Schreck erholen, denn weder Kobel noch Muschg hatten einen verstümmelten, unterdrückten, demolierten Text, dem es durchs Dach regnete, vor sich. Die Eingriffe sind fast allesamt mikrochirurgisch, sie ereignen sich im arteriellen Feingeflecht einzelner Wörter, vor allem im Bereich der eigenwilligen Döblinschen Interpunktion und der Schreibweise der zahllosen Personen- und Ortsnamen, die nach Kobels Eingriffen jetzt innerhalb des Werks einheitlich ist und den heute üblichen Transskriptionen entspricht. Der Luxus eines gut kommentierten Personenverzeichnisses wird nicht nur den wissenschaftlich arbeitenden Leser erfreuen. Schließlich ging es – durch Handschrift-, Erstdruck-, Quellen- und Materialienvergleich – um die Beseitigung von knapp 300 sinnstörenden Fehlern, die in verschiedenen Graden vorlagen, bis hin zu tödlichen Differenzen: Profoss statt Profess, knauen statt kauen, Kehlbraten statt Kehlbart, Schleim statt Schlamm, knabbern statt knattern, Weiber statt Weiter, Lehen verlieren statt Leben verlieren.
Man muss nicht Kobel kaufen, wenn man nicht wissenschaftlich mit dem Text arbeiten will, die Muschg-Ausgabe enthält über den Daumen gepeilt nach wie vor 99,85 Prozent korrekten Döblin. Wer jetzt aber Kobel kauft, ersteht gleichsam die sandstrahlgereinigte Ausgabe, und das ist wie bei Kathedralen, alten Rathäusern und menschlichen Zähnen eine gute und notwendige Sache, auch wenn der frischen Glanz zu Anfang etwas unnatürlich scheinen mag.
ALFRED DÖBLIN: Wallenstein. Roman. Walter Verlag, Olten 2001. 1022 Seiten, 28 Euro.
Thomas Lehr, geb. 1957, lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien von ihm die Novelle „Frühling” (2001) im Aufbau Verlag.
Es war Krieg, als der Militärarzt Alfred Döblin seinen „Wallenstein”-Roman schrieb. Ein unbekannter Fotograf, wohl ein Soldat, bannte 1916 an der Westfront den Christus von Fleurbaix ins Bild.
Foto:
Deutsches Historisches Museum
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eberhard Rathgeb gibt eine kleine Einführung in die Werkgeschichte dieses Döblin-Romans, der noch vor "Berlin Alexanderplatz" entstanden ist: ein Mammutroman von über 1000 Seiten, der 1920 in zwei Bänden im S. Fischer Verlag erschienen war, voller Druck- und Flüchtigkeitsfehler. Walter Muschg betreute die Neuausgabe des Romans in den 60er Jahren, die rund 2000 Abweichungen enthielt, so Rathgeb. Der Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe Erwin Kobel ist nun die Handschrift nochmals durchgegangen und erläutert die von ihm entdeckten Abweichungen in zahlreichen Wort- und Sacherklärungen. Die philologische Arbeit hat gelohnt, schreibt Rathgeb. In den Roman, der mit den Antagonisten Wallenstein und Kaiser Ferdinand II. die religiös-politischen Verwicklungen des 30-jährigen Krieges vor Augen führt, sei Döblins Zeit als Militärarzt im Ersten Weltkrieg eingeflossen: eine leidenschaftliche, rhythmische Sprache peitsche die Wirklichkeit des Krieges, der Gewalt, des Schmerzes hervor. Der Idee des Romans geschuldet seien kleine historische Abweichungen, erläutert Rathgeb, so dass er den Lesern vor der Lektüre die Konsultation einer der Geschichten des 30jährigen Krieges empfiehlt (Golo Mann, Ricarda Huch oder Friedrich Schiller). Dennoch: diesen "Wallenstein" unbedingt lesen, meint er.

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