Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 30,00 €
  • Gebundenes Buch

Der Auschwitz-Überlebende Joseph Wulf (1912 1974) war in den 1950er Jahren der erste, der in Deutschland Bücher zum Holocaust publizierte. Vor einigen Jahren entspann sich um ihn eine Kontroverse über die frühe bundesrepublikanische NS-Forschung. In ihrem Zentrum stand die Frage, ob die deutsche Zeitgeschichtsforschung nationalapologetisch war und die jüdische Geschichtserfahrung die Perspektive der Opfer systematisch ausklammerte. Klaus Kempter beleuchtet diese Frage anhand von Leben und Werk Joseph Wulfs neu. Er verdeutlicht: Das vorherrschende, durch seinen Suizid 1974 scheinbar bestätigte…mehr

Produktbeschreibung
Der Auschwitz-Überlebende Joseph Wulf (1912 1974) war in den 1950er Jahren der erste, der in Deutschland Bücher zum Holocaust publizierte. Vor einigen Jahren entspann sich um ihn eine Kontroverse über die frühe bundesrepublikanische NS-Forschung. In ihrem Zentrum stand die Frage, ob die deutsche Zeitgeschichtsforschung nationalapologetisch war und die jüdische Geschichtserfahrung die Perspektive der Opfer systematisch ausklammerte. Klaus Kempter beleuchtet diese Frage anhand von Leben und Werk Joseph Wulfs neu. Er verdeutlicht: Das vorherrschende, durch seinen Suizid 1974 scheinbar bestätigte Bild Wulfs als tragische und gescheiterte Existenz ist zu korrigieren. Wulf war aufgrund seiner Herkunft und seines Lebenswegs ein Außenseiter, doch seine Publikationen trugen wesentlich zur Aufklärung über den Nationalsozialismus bei. Die Monografie erscheint zum 100. Geburtstag des Historikers am 22. Dezember.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2013

Die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen
Für eine Geschichte der Judenvernichtung aus der Perspektive der Opfer kam er zu früh: Ein Buch über den jüdischen Historiker und Auschwitz-Überlebenden Joseph Wulf

Am 10. Oktober 1974 stürzte sich Joseph Wulf aus der vierten Etage seiner Berliner Wohnung und starb. Wulf war ein Jude aus Polen, 1912 geboren, der 1952 die ehemalige Hauptstadt des Deutschen Reiches zu seinem Lebensmittelpunkt wählte. Er überlebte Auschwitz, während seine Eltern und sein Bruder samt Familie ermordet wurden. 1945 gründete er mit anderen die dortige Jüdische Historische Kommission, die Dokumente der Judenvernichtung sammelte. Wulf gehörte zu den Churban-Historikern - Churban war in Ableitung der Zerstörung des Jerusalemer Tempels die erste hebräische Bezeichnung des Judenmordes -, die in der Tradition Simon Dubnows und Emanuel Ringelblums möglichst viele Überreste der jüdischen Vergangenheit sammelten.

Nach dem Krieg war er in Polen, Schweden und Frankreich in diesem Sinne tätig gewesen, im Rahmen einer "Internationale der Überlebenden", die, ausgehend von jenen Kommissionen, die Geschichte der Schoa aus jüdischer Perspektive darzustellen trachtete. Nach Berlin hatten Wulf eher triviale Gründe verschlagen: Sein Vater hatte dort ein Mietshaus besessen, das er restituieren konnte, und er hatte Kontakte zu Journalisten. Dort verbrachte er nun gut zwei Jahrzehnte, ehe er den Freitod wählte. Wulf war nicht der einzige Überlebende eines Vernichtungslagers, der erst viel später Hand an sich legen sollte. Améry, Celan, Szondi sind weitere Fälle. Im Unterschied zu diesen Prominenten ist der Pionier der Holocaustforschung bis heute ein Unbekannter.

Im Lager aus der Welt gefallen, im Land der Mörder als akademischer Außenseiter angetreten, durch Suizid aus dem Leben geschieden - war Joseph Wulf also ein rundum Gescheiterter, ein durchweg Traumatisierter, ein gezeichnetes Opfer? Klaus Kempter, Heidelberger Historiker, zeichnet in seiner Biographie ein durchaus anderes, ein sehr nuanciertes Bild. Aber auch er geht von einer tiefen Resignation Wulfs aus. So schrieb dieser zwei Monate vor seinem Tod an seinen Sohn: "Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst Dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein - die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen."

Bei den professionellen Historikern sei er zudem auf Ablehnung gestoßen, und das antiisraelische Klima infolge des Sechstagekrieges habe ihm schwer zugesetzt. Der Tod seiner Frau habe ihn letztlich aus der Bahn geworfen. Alles zusammen mag nach Kempter eine gewisse Retraumatisierung bewirkt haben, eine Wiederkehr des Gefühls jüdischer Isolation und Hilflosigkeit. Doch dem Narrativ vom allzeit unverstandenen und ausgegrenzten Auschwitz-Opfer, dessen Martyrium im September 1939 begann und bis zum Oktober 1974 dauerte, will der Biograph nicht folgen. Vielmehr müsse man sich den vitalen Wulf zeitweise als glücklichen Menschen vorstellen. In der Tat kann das Nicht-Dazugehören starke Menschen stärker machen (und schwache Menschen eben schwächer, wie einst Lion Feuchtwanger bei den Emigranten beobachtete). Und Wulf war nach Kempters Porträt ein willensstarker Einzelgänger par excellence, ein solitärer Intellektueller, ein "mit Extraterritorialität begabter Einzelner in einem Milieu, mit dem er keine Bindungen hatte". Weder wollte er die deutsche Staatsbürgerschaft, noch war er Teil der Berliner Jüdischen Gemeinde. Wulf war kämpferisch, produktiv, sichtbar. Er hatte - bevor er in den siebziger Jahren vergessen werden sollte - einen Namen, war ein gefragter Mitarbeiter beim Rundfunk, lernte zahlreiche Angehörige der kulturellen Elite Deutschlands kennen und erhielt Ehrungen, die ihm viel bedeuteten.

Auch für die NS- und Holocaustforschung habe er bleibende Erkenntnisse hinterlassen, die erst in den neunziger Jahren aufgegriffen wurden. Kempter zählt dazu in erster Linie die Einsicht in die Komplizenschaft der traditionellen deutschen Eliten bei den NS-Verbrechen und die Täterforschung, die sich auf Naziführer der zweiten Reihe wie Hans Frank oder Martin Bormann, aber auch auf Verwaltungsfunktionäre der deutschen Besatzung bezog. Als Vorläufer und Pionier, dessen "eigentliche Universität Auschwitz" gewesen sei (Wulf), war er am eigentlichen Kern des Geschehens interessiert, dem "Ausrotten, ausrotten!". Die professionellen Zeithistoriker dagegen hätten sich nach Wulfs Auffassung zu sehr mit dem Kompetenzgerangel innerhalb der nationalsozialistischen Herrschaft beschäftigt.

Die jungen Historiker am Münchner Institut für Zeitgeschichte, allen voran Martin Broszat, betrachteten umgekehrt die Arbeit und das Temperament des wissenschaftlichen Laien und Vielschreibers mit Skepsis. Das betraf seine Arbeitsweise des Sammelns und Entlarvens, aber auch seine Betroffenheit: Einem Opfer trauten die jungen deutschen Männer offenbar nicht zu, objektiv und nüchtern Geschichte zu schreiben. Das kam einer zweiten Ausgrenzung gleich, denn waren die Mitläufer nicht mindestens so befangen wie der entkommene Jude?

Nicolas Berg hat das "Pathos der Nüchternheit" in seinem Buch "Der Holocaust und die westdeutschen Historiker" (2003) eine "Mitläufererzählung" genannt. Vor allem Hans Mommsen sah damit Broszats und sein eigenes Lebenswerk denunziert und schoss scharf gegen diese Interpretation. Kempter folgt nun weitgehend Bergs Argumentation. Wie auch immer: Dass funktionalistische Betrachtungsweisen zwangsläufig dazu führen müssen, die Perspektive von Nazi-Funktionären einzunehmen und nicht die der jüdischen Opfer, ist zwar nicht zwingend - wenn es auch eine innere Logik gibt. Dass jedoch der Siegeszug des Funktionalismus in der Zeitgeschichte zum Vergessen eines jüdischen Historikers wie Joseph Wulf maßgeblich beigetragen hat, ist doch sehr wahrscheinlich. Die innere Logik besteht darin, dass sich der Funktionalismus für das Wie und nicht das Warum, mehr für Strukturen statt Ereignisse interessiert.

Wulf kam mit seiner Art der Täterforschung und seinem Insistieren auf einer jüdischen Perspektive einfach zu früh. Sein letztes Projekt Ende der sechziger Jahre, ein internationales Dokumentationszentrum im "Haus der Endlösung" am Wannsee einzurichten, scheiterte am Zeitgeist. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz meinte damals, Berlin brauche keine "makabre Kultstätte"; besser solle das Haus weiter als Schullandheim für den Arbeiterbezirk Neukölln, also für eine bessere Zukunft genutzt werden. Seit 1992 dient es doch als Gedenk- und Bildungsstätte. Dort wurde Wulf im vergangenen Jahr mit einer Ausstellung zu seinem hundertsten Geburtstag geehrt. Kempters Buch ist ebenfalls eine Würdigung, die hoffentlich weder zu früh noch zu spät kommt.

JÖRG SPÄTER.

Klaus Kempter: "Joseph Wulf". Ein Historikerschicksal in Deutschland.

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012. 422 S., Abb., geb., 64,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Jörg Später hofft inständig, dass wenigstens Klaus Kempters Würdigung des Pioniers der Holocaustforschung zur rechten Zeit kommt. Schließlich sei Joseph Wulf stets seiner Zeit voraus gewesen, merkt Später an. Die Biografie über den weitgehend Unbekannten besticht für ihn vor allem dadurch, dass der Autor Wulf nicht ausschließlich als Opfer zeigt, sondern ebenso als engagierten, durchaus glücklichen Zeitgenossen. Kempters nuanciertes Bild, so Später, verschweigt allerdings auch nicht Wulfs "Retraumatisierung" im Nachkriegsdeutschland, das neuerliche Gefühl der Isolation und Hilflosigkeit, dem sich der Forscher ausgesetzt sah.

© Perlentaucher Medien GmbH