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Experiment: Ein strapazierter Begriff, bei dessen Verwendung innerhalb der literarischen Sphäre sich kaum ein wohldefinierter semantischer Kern ausmachen lässt. Jürgen Daiber bietet erstmals eine historische Begriffsanalyse des Experiments, die dessen spezifische Verwendung im Verstehenshorizont der Zeit nachvollziehbar macht. Er dokumentiert, dass ab der Frühromantik sinnvoll von Experimenten innerhalb der Dichtung gesprochen werden kann. In dieser Epoche taucht jener neue Typus des naturwissenschaftlich geprägten Literaten auf, der a) naturwissenschaftlich experimentiert, b)…mehr

Produktbeschreibung
Experiment: Ein strapazierter Begriff, bei dessen Verwendung innerhalb der literarischen Sphäre sich kaum ein wohldefinierter semantischer Kern ausmachen lässt. Jürgen Daiber bietet erstmals eine historische Begriffsanalyse des Experiments, die dessen spezifische Verwendung im Verstehenshorizont der Zeit nachvollziehbar macht. Er dokumentiert, dass ab der Frühromantik sinnvoll von Experimenten innerhalb der Dichtung gesprochen werden kann. In dieser Epoche taucht jener neue Typus des naturwissenschaftlich geprägten Literaten auf, der a) naturwissenschaftlich experimentiert, b) Verfahrensbestandteile naturwissenschaftlichen Experimentierens in seine Literatur transferiert und c) diesen Transfer in die literarische Sphäre mittels Theorienbildung sichert. Das Hauptaugenmerk gilt Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, und seinen naturwissenschaftlichen Studien und literarischen Produktionen. Die zentralen Untersuchungsziele gelten Desideraten der bisherigen Novalis-Forschung.
Autorenporträt
Dr. phil. Jürgen Daiber ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich II, Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2001

Leben als Versuchsanordnung
Salz in der Forschersuppe: Jürgen Daiber experimentiert mit Novalis

Das Gedenken zum zweihundertsten Todesjahr Friedrich von Hardenbergs, der sich als Dichter Novalis nannte, hat auch einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt, daß der Dichter und Salinenassessor nicht jener schwärmerische Jüngling war, der seiner Sophie nachstarb und wie kein anderer den weltfremden frühromantischen Subjektivismus verkörperte. In der Forschung war das Novalis-Bild schon seit der kritischen Edition seiner Fragmente zur "Enzyklopädistik" im Wandel begriffen, und es hatte sich gezeigt, daß Novalis von allen Frühromantikern derjenige war, der sich am intensivsten mit dem Wissensbestand, aber auch mit den drängenden Problemen der Zeit wie schließlich mit der Arbeits- und Lebenswelt auseinandersetzte, mochte auch die Liebe für ihn das "Unum" (nicht das "Amen", wie früher gelesen wurde) des Universums sein.

Dies gilt in besonderem Maße für Hardenbergs Beschäftigung mit den Naturwissenschaften. Der Trierer Literaturwissenschaftler Jürgen Daiber rekonstruiert nun diese Auseinandersetzung unter dem Begriff des Experiments. Im Gegensatz zur literaturgeschichtlichen Verwendung erarbeitet Daiber eine historisch fundierte Darstellung des Experimentellen, in der die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des literarischen und des naturwissenschaftlichen Verfahrens deutlich werden. Als "Schnittstelle" fungiert dabei das "Gedankenexperiment", wie es im neunzehnten Jahrhundert Ernst Mach in seiner zentralen Rolle für die Bestätigung und Widerlegung von Theorien beschrieben hatte. Bei Robert Musil wurde es auch zur Verfahrensweise des modernen Romans. Allerdings existierte dieser Terminus schon in der Naturlehre im Umkreis der Romantik als Vorstellung einer Art Probehandelns im Geiste.

In Widerlegung der älteren Forschung, die vor allem Hardenbergs "Salinenschriften" noch nicht zur Kenntnis nehmen konnte, kann Daiber zeigen, daß Novalis sich nicht nur mit zeitgenössischen Experimentatoren wie dem Physiker und Galvanismusforscher Johann Wilhelm Ritter gedanklich auseinandersetzte, sondern im Rahmen seines Studiums an der Freiberger Bergakademie und seiner Berufstätigkeit im Salinenwesen selbst Experimente durchführte oder daran beteiligt war. Allerdings fürchtete Novalis gelegentlich, "im Strudel der Empirie" zu versinken, sein Interesse ging von vornherein über die Erscheinungswelt hinaus. Vor allem ist die intensive Beobachtung der Außenwelt bei ihm mit innerer Beobachtung und Selbstversuch verbunden. Mit seiner Betonung "der Verwobenheit des Subjekts in den Ablauf der Experimentation an der Objektwelt" gerät Hardenberg Daiber zufolge in "prophetische Nähe" zur modernen Naturwissenschaft.

Die Romanfragmente "Die Lehrlinge zu Sais" und "Heinrich von Ofterdingen" liest Daiber als Versuchsanordnungen zur "Konstruktion der Einheit von Natur und Geist" und der "Approximation an das Unendliche". Experimente zu Abraham Gottlob Werners Mineralienreihe oder Ritters galvanischer Kette kommen in diesen Texten nicht nur inhaltlich vor, sondern erscheinen auch als "formales Bauprinzip der Textgestaltung". Sie werden "Darstellungselement geistiger Prozesse", womit Novalis den zeitgenössischen Begriff des Experiments freilich weit überschreitet. Davon bleibt auch Daibers Darstellung nicht unberührt. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht einer eingegrenzten Verwendung des Experimentbegriffs weitet sich dessen Inhalt im Laufe der Abhandlung alchemistisch aus. Am Ende scheint alles Experiment zu sein.

Trotz oder wegen ihrer Weitschweifigkeit mit vielen Wiederholungen ist Daibers Darstellung gut nachvollziehbar, weil er den Leser an den einzelnen Schritten seiner Argumentation teilhaben läßt und ihn auch über die historischen Voraussetzungen aufklärt. Er hütet sich vor übertriebener Aktualisierung Hardenbergscher Überlegungen zur Naturwissenschaft, deutet jedoch an, daß sie durchaus für heutige wissenschaftstheoretische Überlegungen produktiv sein könnten. In der Tat zeigt seine Arbeit, daß gerade die romantische Literatur am neuzeitlichen Prozeß der Erweiterung des Menschenmöglichen mehr Anteil hat, als ihr sowohl Verfechter einer Zweckrationalität wie Kritiker naturbeherrschender Technologie zubilligen möchten.

FRIEDMAR APEL

Jürgen Daiber: "Experimentalphysik des Geistes". Novalis und das romantische Experiment. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2001. 330 S., geb., 98,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Das Bild, das sich die heutige Forschung von Friedrich von Hardenberg (Novalis) macht, ist, wie Friedmar Apel zu Beginn seiner Rezension feststellt, mit dem früheren vom "schwärmerischen Jüngling" nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen. Wie kaum ein anderer Romantiker hat er sich für die Naturwissenschaften, für die "Arbeits- und Lebenswelt" interessiert. Am zentralen Beispiel von Novalis' empirischer und theoretischer Beschäftigung mit dem "Experiment" untersucht Jürgen Daiber diesen Zug des Dichters und Salinen-Administrators. Zur "Schnittstelle" zwischen Dichtung und Wissenschaft wird dabei, so Apel, das "Gedankenexperiment". Der Rezensent lobt das Buch als "historisch fundierte Darstellung des Experimentellen" und verzeiht ihm manche Redundanz. Einen ernsthaften Kritikpunkt gibt es jedoch: den Begriff des Experiments entgrenze Daiber, findet Apel, im Laufe seiner Argumentation zu sehr.

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